Dienstag, 28. November 2023

Also sagen wir - jetzt Kaiser:in zum Bier

 ''Hau mal a Kaiserin rüber!'', brüllte Dragan vom Gerüst und ich wurde gleich wieder sauer. Nur weil ich mir grad einmal ein bissl die Beine vertrat war ich doch nicht sein Dienstbote! Aber was tut man nicht alles für das Betriebsklima. Also latschte ich rüber zum Eck wo wir den Kühlschrank mit den Bierdosen stehen hatten.

Als ich in das fragende Gesicht unseres Praktikanten schaute, mußte ich lachen. ''Na wegen der bescheuerten Genderei!'', erklärte ich dem Jungen, der offenbar nichts verstand. ''Wennst nur Kaiser sagst dann meckert gleich wieder wer. Also sagen wir jetzt Kaiser:in zum Bier, verstehst?''

Müde verzog er das Gesicht. Na toll. Fand der Herr Studiosus also nicht lustig. Mit Schwung warf ich Dragan sein Bier hoch und schlenderte rüber zu meinem Kran. Allzu oft machte ich die beschwerliche Tour bis herunter natürlich nicht, aber menschliche Bedürfnisse und so ... seine Würstchen wollte man ja nun wirklich nicht den ganzen Tag im Führerhaus stehen haben. Und im Sommer schon zweimal nicht.

Schrilles Kreischen drang an mein Ohr. Oh weh! Erwin hatte wieder begonnen, die Pflastersteine zu sägen. Melodiös geht anders. Hastig kletterte ich das Gestänge hinauf. Ich liebe meinen Beruf! Weit oben, entfernt von all dem Dreck, dem Gestank und dem Lärm, schwebte ich sozusagen über dem Geschehen wie ein König.

Vorher war ich Baggerführer gewesen. Das System ist ähnlich, die Einarbeitung war also kein Problem. Nun wuchtete ich halt in Wien Betonbehälter durch die Gegend statt in Tirol Steine aus dem Flußbett zu klauben.

Vor allem um den Beton war es mir gegangen. Früher hatte man ja beim Bau eines neuen Hauses immer eine Leiche unter dem Fundament vergraben. Also so richtig früher meine ich. Mittelalter oder so. Später gaben sich die Leute dann auch mit einem toten Hahn oder einem Kaninchen zufrieden. Ich nicht.

Ich fand es total angenehm, daß man aufsässige Kollegen nicht mehr zum Tauchen schicken mußte. Mafiamäßig, verstehst. Füße in Beton gegossen und ab in den See. Funktioniert ja so heute nicht mehr. Mit den modernen Maschinen kommen die ewig weit runter beim Suchen und Mord verjährt nicht. Das ist blöd.

Daher kam mir meine neue Beschäftigung sehr zupaß. Wer nervte, verschwand. Zu oft durfte man das natürlich nicht machen, das wäre aufgefallen. Aber dieser humorlose Praktikant, der ging mir schon langsam GEWALTIG auf den Zeiger.

Als ob wir nicht schon genug Studierte hätten, die alles besser wissen und nur im Weg herumstehen. 







Sonntag, 26. November 2023

Die Sünden der Väter



Es war doch nicht so gemeint gewesen! Immer noch völlig fassungslos saß Sabine mit dem Rücken gegen die Türe in der Finsternis - sicher ist sicher - und versuchte, ihre wild durcheinanderzuckenden Gedanken zu besänftigen. Es war vielleicht ein wenig unbedacht von der Gruppe gewesen, gleich mit dem Bau einer Rakete zu beginnen, ohne sich vorher umfassend schlau gemacht zu haben. Über die Folgen, die eine unvorhergesehene Landung auf unbekanntem Terrain für die Menschen dort haben könnte. Aber sie hätten sie doch niemals wirklich gezündet, oder? Und wenn schon. Noch war alles in der Planungsphase gewesen. Da konnte man ihnen doch nichts am Zeug flicken, sie dergestalt medial verunglimpfen, daß man ihnen Volksverhetzung vorwarf, sie mit verschwörungstheoretischen Impfgegnern verglich oder ihnen gar die Verbreitung rechten Gedankenguts vorwarf.

Nun hatte sie den Salat, nun wurde sie gesucht, und ihr Freund Herbert natürlich auch. Der Herr Chefchemiker. Sie saß bis auf weiteres hier auf dem Dachboden einer weitläufig Bekannten fest und Herbert ... was aus ihm wohl geworden war? Es war alles so schnell gegangen. Das Sonderkommando hatte das Haus von vorne gestürmt während Herbert, sie und die anderen hinten hinausgelaufen waren. Dort war niemand postiert gewesen weil keiner auf die Idee gekommen wäre, daß man sich durch die sich dort befindlichen Grundstücke davonmachen könne. Aber junge Menschen, die bereits seit ihrer Kindheit Abkürzungen über Zäune nahmen statt brav außenherum auf der Straße in die Schule zur marschieren, wussten natürlich, wie man rasch zum Schulhaus hinaufkam. Von wo aus sie sich hastig zerstreut hatten und getrennt geflohen waren. Alles vorher abgesprochen, logischerweise, aber niemand hätte geglaubt, dass es so schnell zum Eklat kommen würde und somit waren die Fluchtpläne nicht wirklich bis ins Detail durchdacht und ausgearbeitet worden.

Wir hatten den Menschen doch nur ein klein wenig Respekt einflößen wollen vor den Naturgewalten, die nun einmal über uns regieren und vor denen man sich nach wie vor in Acht nehmen sollte. Klar wissen wir heute alle, dass Elektrizität nicht von zornigen, Blitze schleudernden Göttern generiert wird, sondern brav gezähmt durch Leitungen fließt und kontrolliert aus der Steckdose kommt, aber dennoch gibt es Gesetze, die wir beachten müssen. Aber nicht tun. Und das geht nicht.

Also wollten wir die Wolken ein wenig aufmischen und für einen Dauerregen sorgen, der sich buchstäblich gewaschen hatte. Wenn man, so hatten wir gelesen, gewisse Chemikalien in die Wolken verbringt, dann fangen diese an, Regen abzulassen. Was den Landwirt initial freuen mag, wird ihn über kurz oder lang zur Verzweiflung treiben. Ganz zu schweigen von den vielen Sommerfrischlern, die sich eigentlich auf eine fröhliche Zeit am See gefreut hatten, mit Eiscreme, Sonnenöl und Musik aus dem Transistorradio. Statt dessen würden sie verdrossen in ihren Ferienwohnungen hocken und zum dritten Mal das mitgebrachte Buch lesen. 

So ungefähr hatten wir uns das vorgestellt. Daß wir nun bereits im Winter hochgegangen waren und unsere Pläne noch nicht einmal ansatzweise hatten verwirklichen können, war schlimm genug. Aber daß man uns verhaften wollte wie Terroristen, noch bevor wir überhaupt eine einzige Rakete hatten aufbauen können geschweige denn sonst etwas damit anstellen, das war der Gipfel! 

Kalt war es auf dem Dachboden und Sabine fröstelte trotz ihrer dicken Jacke. Wie lange sie hier wohl würde ausharren müssen? Ob sie wenigstens zum Schlafen in die Wohnung hinunterkommen dürfte oder ob sie tatsächlich die ganze Zeit hier oben verbringen sollte? Ob der Fluchtwagen bald käme oder ob man sie geflissentlich vergessen würde? Langsam stand sie auf und begann, ein wenig auf- und abzugehen. Leise natürlich, damit man sie unten nicht hörte. Man wusste ja nie, wer gerade auf Besuch war. 

In der Ecke waren einige Kisten gestapelt und Sabine begann, aus purer Langeweile, die oberste zu öffnen und den Inhalt zu untersuchen. Fotoalben! Richtige, echte altmodische Fotoalben! Neugierig zog Sabine sich eins heraus und schlug es auf. Unmodern gekleidete Menschen mit seltsamen Frisuren blickten ihr entgegen. Weihnachten 1941 stand unter dem Foto. Daß die Menschen damals mitten im Krieg noch Weihnachten feiern konnten? Aber offenbar hatte es der Familie an nichts gefehlt. Alle grinsten lässig in die Kamera, zwei kleine Mädchen erfreuten sich an Puppen und neuen Holzreifen, im Hintergrund bog sich ein Eßtisch unter lauter Köstlichkeiten. Was genau es gegeben hatte, war nicht zu erkennen, aber auf alle Fälle reichlich davon. Auf dem nächsten Foto war der Weihnachtsbaum deutlich zu sehen. Von oben bis unten mit Lametta behangen. Offenbar hatte man sich früher keinerlei Gedanken über die umweltschädigende Wirkung dieses Baumschmucks gemacht und so richtig in die Vollen gegriffen. Du meine Güte, man sah ja vor lauter Glitzer den Baum nicht mehr! Total übertrieben war das. Aber was stand denn da hinten auf dem Ecktisch? War das nicht ... ein jüdischer Kerzenleuchter? Mit den typischen sieben Armen? Wie hießen die nochmal? Richtig, Menora. Allgemeinbildung! Aber wieso hatten diese Leute sowas an Weihnachten am Tisch stehen? Soweit sich Sabine erinnern konnte, feierten Juden kein Weihnachten sondern Chanukka und hatten dabei keine sieben- sondern neunarmige Leuchter in Gebrauch. Außerdem trug keiner der Männer eine Kippa. Und ein Jude im Deutschland des Jahres 1941 würde auch sicherlich nicht so breit grinsen, wie die Leute auf den Fotos. Irgendwas war hier seltsam.

Plötzlich wurde Sabine schwindelig. ''Du meine Güte'', dachte sie noch ''jetzt holt mich der Schrecken ein, gegessen hab ich auch noch nicht viel heute!'', und schon schwanden ihr die Sinne.

Als sie wieder erwachte, kauerte sie in der Ecke eines überwärmten Zimmers und rieb sich ungläubig die Augen. Um sie herum schnatterten genau die Menschen, die sie gerade eben noch auf Fotos betrachtet hatte. Die Kinder zankten sich in der Ecke um ein neues Spielzeug und eine Frau lud die Leute lautstark ein, zuzugreifen, man habe weder Kosten noch Mühe gescheut, ein Festmahl zuzubereiten. Die Frau sprach einwandfreies Hochdeutsch, kein Jiddisch. Hungrig erhob sich Sabine und trat zögerlich an den Tisch. Ob sie wohl auch gemeint war, mit der Einladung? Niemand schien sich an ihrer Gegenwart zu stören und so wollte sie sich ebenfalls einen Teller nehmen und - doch was war das? Ihre Hand konnte nichts greifen! Weder den Teller noch eine Gabel! Und durch die aufgebauten Speisen griff sie ebenfalls einfach hindurch. Ja toll! War sie jetzt ein Geist? Aber Geister waren doch nicht hungrig! Enttäuscht sah sie den anderen zu, wie sie sich genußvoll labten und dabei angeregt miteinander plauderten.

''Haha, das war doch ein Glücksgriff'', lachte einer der Männer. ''Immer praktisch, wenn man mit dem Gauleiter auf gutem Fuße steht. Hätte ich nicht als einer der Ersten von der Flucht der Löwensteins erfahren, wären mir die besten Stücke entgangen. Der silberne Leuchter da, ist der nicht prächtig? Und vom Erlös der Ohrringe konnte ich diese Woche auf dem Schwarzmarkt die feinsten Leckereien kaufen. Greift zu liebe Freunde, heute lassen wir es uns gut ergehen!''

''Hilda!'', mahnte eine der Frauen. ''Nun lass doch deiner Freundin die Rassel und kommt beide zu Tisch. Anständige deutsche Mädchen streiten sich nicht!''

Seltsam, dachte Sabine. Die Mutter der Frau, auf deren Dachboden sie soeben noch gefroren hatte, hieß Hilda. War dies etwa die Familie ihrer Bekannten? Ihre Eltern und Großeltern samt Freunden? Waren diese Leute in der NSDAP gewesen und hatten sich an den Hinterlassenschaften bedauernswerter jüdischer Mitbürger bereichert? Doch wie hatten die Löwensteins fliehen können, wenn es doch damals bereits dieses Ausreiseverbot gegeben hatte? Zwar konnte sich Sabine nicht mehr an den genauen Monat erinnern, aber dass es im Jahr 1941 gewesen war, wusste sie noch. Kennzeichnungspflicht mit gelbem Stern und Ausreiseverbot. Deswegen hatte man wohl den gesamten Besitz zurücklassen müssen? Weil man lediglich hatte versuchen können, das nackte Leben zu retten? Sabine hoffte inständig, dass wenigstens das gelungen war und betrachtete angeekelt die Leute am Tisch. Von diesem Zeug würde sie jetzt sowieso nichts mehr abhaben wollen, selbst wenn sie könnte. Mit wachsendem Entsetzen mußte sie mit anhören, wie die Männer sich, wohl unter dem Einfluss von Alkohol, höhnisch über die 'Untermenschen' ausließen, die man nun hoffentlich endgültig aus dem Städtchen habe vertreiben können. Und wie gut es doch sei, Beziehungen zu haben und daher nicht an die Front zu müssen, da man schließlich zuhause gebraucht werde. 

Sabine zerbrach sich den Kopf, was denn die Großeltern ihrer Bekannten für einen Beruf gehabt hatten, doch es fiel ihr nicht mehr ein. Wie auch. Die meisten Menschen wussten wohl nicht einmal mehr, was ihre eigenen Großeltern so getrieben hatten, geschweige denn die ihrer Freunde. Langsam begannen die Leute um sie herum zu verschwimmen, das Gelächter wurde leiser und leiser, jemand klopfte ihr unablässig auf die Wange und rief: ''Sabine, Sabine, nun wach doch auf! Bitte sei nicht tot!''

Verblüfft sah sie sich um. Neben ihr hockte die Bekannte und sah sie mit unverhohlener Erleichterung an: ''Mensch Sabine wir haben schon gedacht du bist erfroren! Es tut mir so furchtbar leid, daß ich dich so lange dort oben habe hocken lassen, aber wir wollten erst sichergehen, dass die Polizei nicht hier nach dir suchen würde. Kannst du dich aufsetzen? Schau, ich hab dir ein warmes Süppchen gemacht und nachher gibt es noch Pfannkuchen, die magst du doch so gerne.''

Beim Anblick des Tabletts mit der Terrine erinnerte sich Sabine schlagartig an die Menschen denen sie soeben beim Essen hatte zusehen müssen und trotz ihres bohrenden Hungers drehte sich ihr der Magen um: ''Sag mal Irene, waren deine Großeltern eigentlich Nazis?'', fragte sie, den Löffel in der Hand haltend und doch nicht fähig, von der warmen Suppe zu kosten, deren köstlicher Duft ihr verlockend in die Nase stieg.

''Meine Großeltern? Nazis? Wieso meinst? Ich hab sie ja selber kaum mehr gekannt und meine Eltern haben nicht viel erzählt, die Leute reden doch nicht mehr über diese Zeit. Oder ist das Dritte Reich bei euch daheim Gesprächsthema?'' Fast patzig warf ihr Irene diese Frage hin.

''Das nicht, aber ... also ich hab mir oben am Dachboden eins eurer Fotoalben angesehen und ...'' Sabine wurde plötzlich klar, dass sie ihrer Bekannten niemals von ihrem Erlebnis würde erzählen können. Man würde sie als Spinnerin abtun und abgesehen davon, hatte sie jetzt nicht brennendere Probleme als das Schicksal von irgendwelchen unbekannten Leuten aus der Vergangenheit? Hastig begann sie, die Suppe zu löffeln und es bedurfte ihrer gesamte Aufmerksamkeit, dabei nicht zu kleckern. 

''Gut, du hast recht. Die Eltern meiner Mutter, die waren in der Partei und sogar ziemlich hohe Tiere dort. Hatten ganz schöne Schwierigkeiten, als nach dem Krieg die Alliierten kamen. Mein Opa hat es aber doch irgendwie geschafft, denen weiszumachen, daß er nur ein Mitläufer gewesen sei. Genaues weiß ich wirklich nicht und ganz ehrlich, mir ist das alles auch dermaßen peinlich! Es ist schlimm genug, Deutscher zu sein, aber dann auch noch Großeltern zu haben, die im Deutschen Reich aktiv mitgemacht haben, das ist voll übel. Was meinst, warum ich dir jetzt helfe? Dich verstecke? So gut kennen wir uns ja schließlich nicht, dass ich mich deswegen mit einem Bein ins Kittchen stelle. Bitte nicht böse sein, ich sage nur was ich denke. So kann ich aber wenigstens ein bisschen etwas wieder gutmachen von dem, was meine Vorfahren verbockt haben. Hoffe ich zumindest.''

Gerührt blickte Sabine der noch immer neben ihr Knienden ins Gesicht. ''Irene, das finde ich absolut knorke von dir. Echt. Und mach dir keine Sorgen, ich werde niemandem erzählen, daß ich bei dir Unterschlupf gefunden hatte und wenn nun endlich das Fluchtauto kommt, dann wirst du mich so schnell sowieso nicht wiedersehen. Mann, und die ganze Aufregung nur wegen ein paar blöder Baupläne. Ich verstehe sowieso nicht, wie die Bullen auf uns kamen. Wir hatten doch alles noch im Schuppen versteckt und außer unserer Gruppe wusste niemand von unserem Vorhaben.''

Erschrocken fuhren sie zusammen als es plötzlich an der Türe klingelte. ''Jemineh, wenn das die Polizei ist! Rasch, wieder rauf mit dir! Verdammte Scheiße!''

Fluchend rannte Irene zum Fenster und versuchte, einen vorsichtigen Blick durch die Gardine zu werfen, als ihr Mann bereits die Türe aufschloss und flüsterte: ''Komm rein Knut, sie ist auf dem Dachboden. Mußt nicht glauben, dass wir sowas decken! Weißt ja von wem deine Kollegen den Tipp mit den Plänen hatten gell? Wenn du mich fragst gehören die alle an die Wand gestellt, diese Scheißnazis!''











Mittwoch, 22. November 2023

Das verkaufte Gedächtnis

Mühsam hinkte ich über die Felder. Vorigen Donnerstag hatte ich mir so heftig den kleinen Zeh gestoßen, daß ich kaum auftreten konnte. Aber da ich den Bauern vom Falknerhof versprochen hatte, ihnen mit dem Einstellen ihrer Angebote in den virtuellen Hofladen zu helfen, mußte ich mich nolens volens auf den Weg zu ihnen machen. Das Internet finden sie alle miteinander bestenfalls gewöhnungsbedürftig, es sind auch schon andere Ausdrücke gefallen die man sich in Gegenwart einer Dame eigentlich verkneifen sollte. Nicht, daß ich eine wäre. Sonst hätte der Falkner junior mir vielleicht angeboten, mich mit seinem Traktor abzuholen, aber er hatte halt nie Zeit.

Weiblich jedenfalls, weiblich war ich definitiv, wie ich so über's Feld hinkte mit meinem hübschen neuen Kleid. Extra angezogen für den Junior. Den fand ich nämlich schon extrem fesch. Und so wie er mich manchmal ansah, beruhte das womöglich auf Gegenseitigkeit?

Glücklich betrachtete ich mein Kleid. Nicht gekauft, nein, selbst genäht hatte ich das gute Stück. Besonders stolz war ich auf die Borte, die ich der Kurzwarenhändlerin günstig hatte abschwatzen können. Die Frau war so geizig, die bewahrte lieber die scheußlichsten Stoffe so lange auf, bis sie vollständig von Spinnen eingewebt waren, bevor sie einmal einen Abverkauf machte. 

''Nix da'', pflegte sie zu sagen, ''Sale bedeutet schmutzig und bei mir da herinnen ist stets alles blitzblank geputzt, da ist garnix schmutzig!'' Das war halt die Frau Häberle, gell.

Schmunzelnd hinkte ich dahin, so sehr in Gedanken versunken, daß ich den großen Stein in der Mitte des Weges übersah, mit dem wehen Zeh dagegenstieß, laut aufschrie vor Schmerzen, stolperte und unsanft auf dem Po landete. Woraufhin mir schwarz vor Augen wurde.

Als ich wieder aufwachte, lag ich weich gebettet auf einer Wiese, umgeben von einer idyllischen, an Oberösterreich gemahnenden Landschaft. Sanft gewellt und dekoriert mit Schäfchen, Kälbchen und Ziegen. Über allem lag ein jazzig angehauchter Tonteppich, man könnte sagen Musik, nur viel dichter mit der Atmosphäre verwoben, irgendwie als ob ich einen geraucht ... hatte ich mir vielleicht beim Sturz den Kopf angeschlagen?

Verwirrt blickte ich mich um.

Von links kam ein breit grinsendes Männchen auf bunten Stelzen angestakt, im Hintergrund sprangen weitere ebenfalls bunt gekleidete Gestalten auf überdimensionalen Sprungfedern quer über den Horizont. War ich in einem Computerspiel gelandet? Oder verrückt geworden?

Vorsichtig versuchte ich, mich vom Boden zu erheben und stellt verblüfft fest, daß ich keinerlei Schmerzen mehr am Zehen verspürte. War dieser vielleicht schon abgestorben? Zaghaft spähte ich in meinen rechten Socken, der Zeh war noch dran am Fuß. Alles in bester Ordnung. ''Hohoho'', erklang es hinter mir. Ich fuhr herum. Keiner zu sehen. Langsam wurde mir mulmig. ''Hohoho'', erklang es erneut von hinten.

Hing da doch im Geäst über mir ein verschmitzt lächelnder Wichtel der sich offenbar mit dem größten Vergnügen an meiner Verwirrung weidete. ''Hab keine Angst'', sprach er mit beruhigender Stimme. ''Du bist halt ausgerechnet in der Albernen Ecke durch die Decke gesegelt gekommen. Paar Meter weiter links und du wärst bei den Melancholikern gelandet, die malen düstere Bilder und beten gerne mehrmals täglich.''

''Das mit dem Beten sind die Asketen, Worriwitsch, daß du dir aber auch garnix merken kannst!'', rief ein lässig an den Beinen von einem Ast baumelnder Zwerg. 'Reimt sich doch: Beten, Asketen! Muhahaaaaaaa!''

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Möglicherweise eine Art von Flashback? ''Sagt mal'', wagte ich einen Vorstoß, ''Wie bin ich denn hier heruntergekommen? Eigentlich lief ich gerade zu Bekannten übers Feld, bin gestolpert, hingefallen, und im nächsten Moment lag ich bei euch auf der Wiese.''

''War da vielleicht ein großer Stein gelegen?'', fragte Worriwitsch neugierig.

''Ja und was für ein Trumm! Grad den Zehen habe ich mir angehauen daß ich Sternchen gesehen habe, aber jetzt tut er auf einmal nicht mehr weh. Naja, und ich tät halt gern zurückwollen, die Falkners warten doch auf mich.''

''Soso, zurück willst. Findst es nicht bei uns viel angenehmer? Keine Sorgen, hübsche Musik, lustige Anziehsachen und freundliche Leute überall.''

''Aber man wartet doch auf mich!''

''Hast du dir schon einmal überlegt, was dein Leben für einen Zweck hat? Also wieso du hier bist? Auf der Erde? Und ich geb dir 'nen Tip: Der Sinn des Lebens ist NICHT zweiundvierzig.''

''Sinn des Lebens? Äh. Also. Öhm. Naaa, hob I ned. Drüber nachgedacht meine ich. Man macht halt und tut, damit es sich ausgeht, und die anderen zufrieden sind, die Miete bezahlt ist und niemand schimpft. War bisher jedenfalls immer so. Aber wenn ich euch so zuschau fällt mir auch auf, daß mir oben bei uns was fehlt. Die Freude. Die Fähigkeit, das kleine Glück zu erkennen und sich die Zeit zu nehmen, es zu genießen solange es bei einem bleiben mag. Oft nur Sekunden, wenn ein hübscher Vogel vorbeigleitet oder Minuten, wenn man im Killesbergbähnle durchs Gebüsch rattert ... ja du, das vermisse ich und das hätt ich gerne wieder. Ist das der Sinn des Lebens? Einfach glücklich und voller Freude zu sein und nicht ständig an das Vergangene oder das Zukünftige zu denken?''

''Bist nah dran Menschenkind'', lächelte Worriwitsch, ''aber der wahre Zweck des Lebens ist der, dieses Glück auch mit anderen teilen zu können. Ich kann dir zu dieser Leichtigkeit verhelfen wenn du magst, und du darfst sie auch mit an die Oberfläche nehmen wo du wohnst, aber es ist ein Preis zu zahlen: Du wirst die Erinnerung an die Begegnung mit uns verlieren und auch sonst wird es mit deinem Gedächtnis nicht mehr zum Besten stehen. Manche Leute werden dich für etwas dumm halten, aber mit denen mußt du dich ja nicht weiter befassen. Du wirst eine wundersame Ausstrahlung bekommen und stets aus vollem Herzen Freude empfinden und auch weitergeben können. Willst du das?''

Dankbar nickte ich. Gab ja keinen Grund, dem netten Wichtel zu gestehen, daß es mit meinem Gedächtnis schon jetzt nicht mehr zum Besten stand und ich bei diesem Deal nur gewinnen konnte. Fragend blickte ich ihn an. Würde er jetzt einen Zauberstab schwingen, mir ein bitter schmeckendes Gebräu aus seltenen Wurzeln zu trinken geben oder mir gar eins über den Schädel hauen damit ich wieder ohnmächtig würde und er mich unauffällig nach oben schaffen könnte?

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte lachte Worriwitsch laut auf und rief: ''Wir machen das ganz einfach. Siehst du diese Hecke da vorn? Durch diese gehst du und bist dann sofort bei euch oben. Am Feld. Deine Erinnerung an hier unten wird im selben Augenblick gelöscht werden und du wirst deiner Wege weitergehen als sei nichts geschehen. Leb wohl du Menschenkind, auf daß du den göttlichen Funken der Freude in so vielen Menschen wie möglich entzünden mögest!''

Ich umarmte den Guten, winkte dem im Baum hängenden Zwerg fröhlich zu und verschwand durch die Hecke. 

Später, bei Falkners in der guten Stube, hatte ich wirklich Mühe, nicht ständig zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Das Einrichten des Onlineshops war wie von Zauberhand dahingeglitten, der Vater war bald kopfschüttelnd hinausgegangen und hatte was von Stallarbeit gemurmelt. Die Mutter wollte uns einen Kaffee kochen gehen, während der Junior und ich immer wieder gleichzeitig zur Computermaus griffen und immer wieder zurückzuckten als hätte uns der Blitz getroffen. Entweder war die Elektrik bei den Falkners unter aller Sau, oder es sprang buchstäblich in einer Tour der Funken über.

Das Seltsame war: Es war mir nicht mehr wichtig. Ich war ganz einfach glücklich. Ruhte in mir und verströmte eine Gelassenheit, die mich selber umwarf. So hatte ich immer fühlen wollen. Eins mit mir und der Welt. Völlig unabhängig von den emotionalen Zuwendungen anderer Menschen. Was für ein absolut geiles Feeling!




Freitag, 10. November 2023

Selbsterfüllende Prophezeihung



Ich sähe vulgär aus, hatte seine Mutter wohl gesagt und das N-Wort benutzt. Was er mir später peinlich berührt berichtete. Daß ich nicht gerade mit offenen Armen empfangen worden war, habe ich selbst gemerkt. Zwar nickte mir sein Vater immer wieder ermunternd zu, aber seine Mutter machte die ganze Zeit einen bösen, verkniffenen Mund, die diversen Onkel und Tanten hingegen beachteten mich nicht weiter, so daß ich während des Essens unbemerkt die vornehme Tischdecke vollkleckern konnte.

Der Einzige aus seiner Familie, mit dem ich wirklich locker umgehen konnte, war sein Bruder Ulrich. Den kannte ich schon weil wir uns oft am Rande der Tanzfläche sitzend unterhalten hatten, während mein Freund mit irgendwelchen Tussis das Tanzbein schwang. Jawohl, damals in den 70-ern konnte man sich in Diskotheken trotz der Musik noch unterhalten. Ulrich ging auch aufs Gymnasium, im Gegensatz zu mir jedoch war er ein hervorragender Schüler. Wollte Arzt werden, wie sein Vater.

Wieso ich mitgegangen bin, zu dem blöden Familientreffen? Weil es bei mir daheim auch nicht gerade lustig war. Mein Erzeuger war ein extrem toxischer Mensch, in dessen Gegenwart man nicht nur aufs Wort zu parieren hatte, nein, wenn ihm irgendetwas gegen den Strich ging, und das passierte ständig, immer unerwartet und vermeintlich grundlos, dann ging er sofort an die Decke. War er zuhause, war das Leben ein ständiges Balancieren auf einem Vulkan, von dem man nie wußte, wann er das nächste Mal ausbrechen würde. Mega-anstrengend. Dann doch lieber Besuch bei der Familie des Freundes.

Ausgerechnet in Leitershofen traf man sich, feudalste Gegend Augsburgs. Bernhards BMW hielt vor einer riesigen Villa, ich bin gleich total eingeschüchtert gewesen. Jetzt kam ich ja selber nicht gerade aus der Gosse, auch meine Eltern besaßen ein Haus, aber diese Leute spielten in einer ganz andere Liga. Nach der schmallippigen Begrüßung durch seine Mutter betraten wir den Salon und ich erstarrte. Da saßen sie im feinsten Zwirn, die Damen in Bluse und Rock - und ich kam mit Minirock und Netzstrumpfhosen daher als ginge es geradewegs in die Disco. Wo wir danach ja auch hinwollten. Hätte er mich nicht vorwarnen können? Was für ein peinliches Debakel!

Nach dem Kaffee durften wir uns verabschieden und fuhren geradewegs nach Oberhausen, Glasscherbenviertel, zu Tonis Treff. Üble Kneipe, abgeschabtes Mobilar, dunkle Gestalten mit Schnurrbärten, gespannte Atmosphäre. Toni selbst trug ein unglaubliches Charisma vor sich her und ich fand ihn einfach wahnsinnig toll. Vor allem weil er stets ausgesucht freundlich zu mir war, ich durfte ihn sogar anrufen wenn ich mit jemandem reden wollte. Auch seine Freunde gaben mir immer wieder Tequilas aus. Wie ich heute weiß, wollten sie mich betrunken machen und auf den Strich schicken, aber so schnell wurde ich nicht betrunken. Bereits im Alter von 16 Jahren konnte ich eine Menge vertragen, das Bemühen der Herren Zwickelluden war daher von keinerlei Erfolg gekrönt. Vor allem weil Bernhard immer achtgab, auch wenn ich oft nicht gerade nett zu ihm war. 

Einmal hatte ich mich so über seine ständigen Flirtereien geärgert, daß ich meinerseits begann, mit einer Bekannten heftig herumzuknutschen bis er erbost das Lokal verließ. Weggefahren ist er aber nicht, Gottseidank, denn ich naive Idiotin bin, nach weiteren Tequilas an der Theke, doch tatsächlich mit zwei Burschen in ein Auto gestiegen, angeblich wollten sie mich heimbringen. Fuhren dann aber unbeirrt in eine völlig andere Richtung! Meine zaghaften Einwände wurden höhnisch weggelacht. Erst als sie Bernhards Auto bemerkten, das ihnen tapfer überallhin folgte, bogen sie dann doch ab und fuhren mich nolens volens nach Hause. Zu meinem zornbebenden Vater. Der mir wieder einmal vorhielt, daß ich ihm nur auf der Tasche läge, ein faules Stück sei und lautstark voraussah, daß aus mir niemals etwas werden würde.

Das alles ist nun schon lange her, ich bin erwachsen geworden. Alt, könnte man sagen, obwohl mein dreißigster Geburtstag noch keine Woche her ist. Gratuliert hat mir keiner. Wer auch. Meine Stammfreier sind schon lange zu jüngeren Kolleginnen gewechselt und Aufpasser habe ich keinen. Lohnt in meinem Alter nicht mehr, ist der allgemeine Konsens. Mir auch recht, kann ich die paar Piepen behalten. Seit ich das teure Zimmer im Laufhaus nicht mehr bezahlen kann, stehe ich buchstäblich auf der Straße. Bei meinen Eltern durfte ich mich nicht mehr blicken lassen, nachdem ich das geworden war, was Bernhards Mutter vor vielen Jahren bereits in mir gesehen hatte obwohl ich damals noch Jungfrau war: Eine Nutte. Und nun nicht einmal mehr das. Die meisten Männer fahren achtlos an mir vorüber. Fast niemand nimmt die von den billigen Plätzen, fast alle wissen, daß weiter hinten immer noch was Besseres kommt. Mir ist kalt. So kalt. Es ist November in meinem Herzen, obwohl wir erst Mitte Juni haben. Meine Füße schmerzen und ich habe noch keinen Pfennig verdient heute.

In meiner Handtasche habe ich mittlerweile eine erkleckliche Anzahl veilchenblauer Pillen aufgespart. Vielen Dank Dr. P. aus Göggingen. Bald ist es soweit. Bis dahin genieße ich den Gedanken, allen Freiern, die ohne Gummi wollen, und das sind die meisten, meine seit dem letzten Bockschein erworbenen STDs weiterzugeben. Ihre Ehefrauen täten mir leid wenn ich noch zu tieferen Empfindungen fähig wäre. Aber am Ende des Tages muß schließlich jede selber schauen wo sie bleibt.


















Sonntag, 5. November 2023

Allergisch gegen Engel



''Hey du alte Hexe, jeden Tag hier rumbetteln und dann teuren Schmuck kaufen oder was?'' Pöbelnd rempelte mich der Junge an, packte mich gar am Arm, fühlte sich wohl stark, von seinen Kumpels umgeben, alle in zerrissenen Jeans und Kapuzenpullovern, wandelnde Klischees. Wortlos machte ich mich los und verschwand in der Menge am unteren Stadtgraben. Hatte keine Lust auf lange Diskussionen. Was wissen denn die Menschen überhaupt voneinander? Nichts. Genau garnichts.

Den Juwelier und mich verband eine langjährige Freundschaft. Einst war ich eine gute Bekannte seines Vaters gewesen, der mich damals auch vor Gericht vertreten hatte, bei meiner Scheidung. Den Sohn hatte ich aufwachsen sehen und nachdem sein Vater gestorben war, hatte er in mir eine mütterliche Freundin gefunden. Seine eigene Mutter war bei der Geburt gestorben. Damals war es nicht üblich gewesen, zur Entbindung in ein Krankenhaus zu gehen.

Gerne saß ich mit ihm bei einer dampfenden Tasse Tee im gemütlichen Hinterzimmer, wir würfelten um Schillingmünzen, lachten und erzählten uns alte Geschichten, immer wieder dieselben. Kunden betraten den Laden nur selten, das meiste lief mittlerweile online. Die Geschäftsabwicklung überließ er ohnehin fast zur Gänze seinem Angestellten.

''Vertraust du ihm denn wirklich so sehr?'', hatte ich einmal gefragt. ''Schließlich könnte er jederzeit das eine oder andere kostbare Teil beiseiteschaffen.'' Er lächelte fein und antwortete einfach: ''Ja.'' Da wußte ich Bescheid und seither bekamen die beiden von mir jedes Jahr Socken mit Herzchen zu Weihnachten, die sie verschämt beiseite räumten und niemals trugen. Manchmal habe ich einen etwas schrägen Humor.

Einmal schenkte er mir einen silbernen Engel zum Umhängen. Leider reagierte meine Haut ziemlich gereizt obwohl es sich um echtes Silber handelt, daher kann ich ihn nur über der Kleidung tragen. Was im Sommer etwas blöd ist, du kannst schlecht die Leute anbetteln und ihnen gleichzeitig solch einen wunderschön gearbeiteten Schmuck vor die Nase hängen. 

Nicht selten möchte man mir helfen, mich beispielsweise zum Essen einladen, mich gar mit nach Hause nehmen und mir dort einen Job verschaffen. Auch auf diese Art von Angeboten reagiere ich allergisch. Eh lieb gemeint, aber ich schätze meine Eigenständigkeit.

Warum ich überhaupt Betteln gehe? Sag ich nicht. Vielleicht weil es mir Spaß macht? Vorzugsweise bin ich in der Altstadt unterwegs, weil sich dort die Touristen aufhalten. Woran ich die erkenne? Ganz einfach. Du lächelst eine Person an - wenn dir dann ein herzhaftes ''Griaß di'' entgegenschallt dann ist es KEIN Tourist. Wenn sie dich jedoch nur verständnislos anschauen, dann schon. Dann kann man bedenkenlos losbetteln, den Auswärtigen begegnet man meist nur einmal im Leben.

Abends, wenn dann die Münzen aus dem Portemonnaie purzeln, breitet sich eine stille Zufriedenheit in mir aus. Manchmal gehe ich dann noch etwas spazieren, in meinem Alter braucht man nicht mehr soviel Schlaf und ich mag es, in der Dunkelheit herumzulaufen, außerhalb des Ortes, wo die Wege nur vom Mondschein beleuchtet werden statt von grellen Straßenlaternen. Still ist es dann in der Natur, nur die Tiere sind noch wach, hier ein Rascheln, dort ein dumpfes 'Uhuuuuuuu', alles so vertraut, so heimelig, am liebsten legte ich mich in warmen Sommernächten an den See um dort im Schutz des alten Findlings zu schlafen. Was ich mir jedoch mittlerweile verkneife, denn im Morgenlicht betrachtet ist es dort auch nicht mehr wirklich angenehm. Schimmelige Brotreste, von unermüdlichen Entenfütterern ins Wasser geworfen und von den Wellen wieder ans Ufer getragen, alte Schuhe (ob die jemand geangelt und dann weggeworfen hat?), neuerdings sogar Tüten von McDonalds voller ekliger, fettiger Essensreste. 

Manchmal fühle ich mich einsam. Es gibt durchaus diese Momente, in denen ich gerne eine andere Person bei mir zuhause hätte. Besonders an langen Winterabenden, an denen ich einerseits froh war, eine eigene kleine Wohnung zu haben und nicht in einer Notunterkunft oder gar draußen schlafen zu müssen, mich andererseits sehr alleine fühlte. Schließlich konnte ich nicht jeden Tag zum Juwelier gehen und dort um alte, abgegriffene Münzen würfeln. Man darf Freundschaften nicht überstrapazieren. Schließlich ißt man auch nicht jeden Tag Mandeltörtchen.

Einen Garten hätte ich auch so gerne gehabt. Um allerlei Kräuter und hübsche Blumen anzupflanzen, die es sonst so bei uns nicht gibt. Auf Kreta hatte ich beispielsweise einmal wunderschöne Nieswurz gesehen. Wie herrlich die geblüht haben! Der Geruch würde mich dann immer an diesen Urlaub erinnern, damals mit ihm, Roger, meiner ersten und einzigen großen Liebe. So jung waren wir gewesen und so unbeschwert, was haben wir ausgelassen gelacht und uns gegenseitig mit Staunen immer wieder neu entdeckt. Jeden Abend saßen wir irgendwo am Lagerfeuer, jemand zupfte auf seiner Gitarre, wir tranken Wein aus großen Flaschen und liebten uns die halbe Nacht.

Aber wie das Leben so spielt war ich bald mit einem Anderen verheiratet, da Roger sich von mir getrennt hatte und daheim in Frankreich wieder mit seiner Jugendliebe zusammen war. Mein Herz war gebrochen, mir war somit einer so recht bzw. so egal wie der andere. Als ich mir eingestehen mußte, daß mein Angetrauter keineswegs der Mann von Welt war als der er sich vor mit aufzuspielen pflegte sondern ein gemeiner Narzisst, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckte, war es zu spät. 

Seit der Scheidung lebe ich zurückgezogen, arm aber glücklich in meiner kleinen Wohnung, jeder Tag ist ein Geschenk, das ich bis zur Neige auskoste. Ich erwarte nichts mehr, alles Schöne was mir begegnet ist mir ein Grund zur Dankbarkeit und Freude.

Randnotiz in der Tiroler Tageszeitung vom 23.11.2010: Als Opfer eines gewalttätigen Raubüberfalles wurde gestern leblos in ihrer Wohnung in Kufstein die arbeitslose Marianne B. aufgefunden. Gerüchten zufolge hätte die Tote massenweise Geldscheine in ihrem Kopfkissen versteckt, welche sich die Räuber wohl holen wollten. Wie groß muß ihr Erstaunen gewesen sein, als sie lediglich Hunderte von Spendenquittungen für 'Evita' (Frauen in Not) in den Händen hielten. Zwei Verdächtige wurden gestern festgenommen. Es gilt die Unschuldsvermutung.



Freitag, 27. Oktober 2023

Alles nur geträumt?

 

''Jaaaa! Danke! Toll! Seid ihr auch noch stolz drauf oder was!!!!'' Aus vollem Halse brüllte ich gegen die gefühlt hundertachzigste Durchsage an, mit der ein gesichtsloser Bahnmitarbeiter uns immer wieder darüber in Kenntnis setzte, daß sich unser Ersatzzug leider auf unbestimmte Zeit verspäten würde. 

Da stand ich nun, in the fucking middle of nowhere, und kam nicht weiter. Wenn in so einem Nest kein Zug fuhr, dann fuhr keiner. Auch kein anderer. Garkeiner. Höchstens in die andere Richtung, aber aus der kam ich ja gerade. 

Es war ja auch nicht so, als ob ich keine Pläne hätte. Eigentlich hatte ich vor der Lesung noch gemütlich eine Weile im Hotel abhängen wollen aber das konnte ich jetzt vergessen. Wenn das noch lange so weiterging würde ich es mit viel Glück gerade noch pünktlich zur Location schaffen. Völlig abgehetzt natürlich und total unvorbereitet. Nicht mein Stil.

Das Schlimmste war, daß ich auch noch selber schuld an meiner Misere war. Herr Meyer, einer meiner treuesten Fans, der auf meinen Lesereisen immer wieder unverhofft auftauchte, hatte sich erboten, mich vormittags mit dem Auto bis Paderborn mitzunehmen. Von dort nach Düsseldorf zur nächsten Lesung zu kommen wäre kein Problem gewesen. Hätte ich mal mitfahren sollen! Stattdessen hatte ich mich lediglich lieb bedankt und ihm versichert, das sei nicht notwendig. Aus Angst, ich müsse mich im Gegenzug dann wieder wochenlang um seinen blöden Dackel kümmern, hatte ich sein nett gemeintes Angebot abgelehnt. 

Ich konnte das Vieh nicht leiden. Ständig blieb es stehen um an irgendwas zu schnuppern. Man kam einfach nicht vorwärts und Geduld war noch nie eine meiner Stärken gewesen, jetzt im Alter schon zweimal nicht.

Man hatte ja nicht mehr viel Zeit.

War doch nicht damit zu rechnen gewesen, daß die uns schon nach wenigen Kilometern rüde aus dem Zug komplimentieren würden weil er angeblich defekt sei. So defekt konnte der nicht gewesen sein, da er nach kurzem Aufenthalt fröhlich weitertöffte. Warum konnte man die Leute dann nicht noch die eine Station bis Paderborn mitnehmen? Das war doch lachhaft!

Mißmutig schlug ich meinen Stiefel gegen die Bahnsteigkante. Mein Blick fiel auf das Schild rechts von mir: 'Betreten der Gleisanlage strengstens verboten.'

Sofort mußte ich an Willi denken. Wohnte der nicht hier irgendwo in der Gegend? Der war so irre der Typ, ich hatte ihn geliebt. Damals. Von Verbotsschildern ließ sich Willi niemals abhalten. Im Gegenteil. Die spornten ihn erst recht an, das Areal zu erkunden, das es um jeden Preis zu vermeiden galt. Egal ob Truppenübungsplätze, Moorgebiete oder auch mal Gleisanlagen.

Wir waren uns aufgrund der Distanz unserer Wohnorte zueinander nur selten persönlich begegnet, hatten uns jedoch jahrelang täglich geschrieben und oft telefoniert, bis von heute auf morgen von ihm keine Nachricht mehr kam. Da ich seine Adresse nicht hatte (da tat er immer sehr geheimnisvoll), seine Handynummer aber offenbar außer Betrieb war, mußte ich das so hinnehmen obwohl ich ihn so sehr vermißte, daß es körperlich wehtat.

War er mir doch ein unermüdlicher Begleiter gewesen, stets mit Rat und Tat zur Seite, mich motivierend und immer wieder zum Lachen bringend. Zunächst stürzte ich in ein tiefes Loch. Dann aber begann ich wieder zu schreiben. Texte, die vor Wehmut und süßlicher Schwere förmlich troffen. Welche aber erstaunlicherweise bald darauf einen Verlag aufmerksam werden ließen. Somit habe ich es letztendlich Willi zu verdanken, daß aus mir - spät aber doch - eine 'richtige' Autorin geworden war. Eine Autorin, die stolz echte Bücher umeinandertragen konnte auf der ihr eigener Name gedruckt war, die aber leider auch Lesungen abhalten mußte. Immerhin bezahlte Lesungen. Was natürlich jetzt blöd war, wenn kein Zug kam. Taxi war in dem Kaff ja auch keins zu bekommen. Jedenfalls jetzt nicht mehr, nachdem die anderen Mitreisenden sämtliche verfügbaren Autos in Beschlag genommen hatten. Außer einem Gilbert gab's ja weit und breit kein Taxiunternehmen, wie mir mein Handy verriet. Das hier war Land. Für Stadtmenschen wie mich unvorstellbar abgelegen.

Außerdem war Winter. Eiskalter Winter. Ewig würde ich hier nicht rumstehen können. Was also war zu tun? Vielleicht erstmal einen Tee trinken? Zu meinem großen Erstaunen hatte ich nämlich bereits entdeckt, daß es drüben auf Gleis 1, welches seltsamerweise als Gleis 21 betitelt war, neben dem hübschen alten Bahnhofsgebäude tatsächlich sowas wie ein Bahnhofsrestaurant gab. Nicht nur Snacks und Getränke waren erhältlich, sogar einen Schalter gab es an dem man Fahrkarten kaufen konnte. Eine Rarität in diesen Tagen der anonymen Automaten und ständigem Verweisen auf Handy-Apps.

Heftig keuchend drückte ich die Türe auf und schleppte meinen Koffer über die Schwelle des einladenden Gebäudes. Wohlige Wärme umhüllte mich. Dankbar ließ ich mich auf eine der Holzbänke fallen und sah mich um. An einer Wand hingen gerahmte Sinnsprüche. Wohl um den Reisenden, die kein Buch dabei hatten, die Zeit nicht lang werden zu lassen? In einer Ecke saßen ein paar unrasierte Gestalten die den Eindruck erweckten, zum Inventar zu gehören. Dumpf murmelnd klatschten sie in unregelmäßigen Abständen ihre Karten auf den Resopaltisch, ab und an ein ungläubiger Ausruf, dann wieder Murmeln. Es fehlte eigentlich nur noch die verrauchte Luft, aber natürlich war selbst hier, gefühlt am Ende der Welt, das Rauchen innerhalb öffentlicher Gebäude verboten.

An einem der Stehtische schrieb ein Mann mit wallend langem Haar, wie ein finsterer Engel sah er aus, mit einer altertümlich anmutenden Gänsefeder etwas in eine aufgeschlagene Kladde. Führte der hier ein Sündenregister oder was? Wundern würde es mich nicht. Auch nicht, wenn plötzlich eine Himmelsleiter abgerollt käme, die er gemessenen Schrittes hinaufwandeln würde während im Hintergrund jemand auf der Posaune spielte. Man kam sich hier wirklich vor wie am hintersten Rand der Zivilisation. Immerhin war der Engel glattrasiert und kam mir eigentümlich bekannt vor. Wußte aber nicht, wo ich ihn einordnen sollte.

Nachdem ich meinen wärmenden Kamillentee bekommen hatte, versank ich wieder in hektische Grübeleien. Geduld war, wie bereits bemerkt, nie eine meiner Stärken gewesen und ich hatte es wirklich EILIG. Sonst hätte ich mich einfach nach einem Hotel erkundigen können und einen Tag Pause einlegen. Aber meine Lesung war HEUTE Abend, nicht irgendwann wenn die Frau Autorin mal geruhte einzutreffen. Ob ich beim Verlag anrufen sollte? Aber was wollten die machen? Mir einen Hubschrauber schicken aus der Schweiz? Sicher nicht. Schließlich war ich kein Ken Follett. Wobei der bestimmt nicht mit dem Zug fahren mußte. Der hatte sicherlich einen Chauffeur, der ihn in der Gegend umeinanderkutschierte.

Wieder mußte ich zu dem finsteren Engel hinschauen. Irgendwie sah der aus wie ... das konnte doch nicht ... Während ich noch kurzsichtig blinzelnd den Mann anstarrte, hob dieser seinerseits den Blick und begann ebenfalls zu starren: ''Entschuldigen Sie, aber Sie erinnern mich ... Sie sehen aus wie eine ehemalige ... Brigitta, bist du das?'' ''Willi! Hab ich mir's doch gedacht! Aber seit wann hast du Haare?''

Willi lachte dröhnend. ''Meine Brigitta wie sie leibt und lebt. Immer gleich auf den Punkt.'' Etwas leiser fuhr er fort: ''Aber hömma, ich bin inkognito unterwegs, deshalb auch die Perücke. Paß auf, ich geh jetzt raus und warte dann am Gleis 2, wo der Zug nach Paderborn abfährt. Abfahren sollte. Hätte abfahren sollen. Du kommst dann in etwa 5 bis 10 Minuten nach. Kannst ruhig noch ein bißchen grummeln, Scheiß Bahn und so, damit du nicht weiter auffällst.''

Völlig platt saß ich auf meiner harten Holzbank. Die Götter hatten wirklich eine seltsame Art, zu wirken. Nach all den Jahren schickten sie mir meinen Willi über den Weg, ausgerechnet an einem Tag an dem ich weder Zeit noch Nerven für eine Wiedersehensfeier hatte. Und er wohl auch nicht, so wie es aussah. Er hatte sich mittlerweile seine blaue Kladde unter den Arm geklemmt und war ohne einen weiteren Blick zur Türe hinausgeeilt. Der Willi. Immer in irgendwelchen undurchsichtigen Missionen unterwegs. Bereits früher hatte er ständig Geschichten von angeblich super geheimen Treffen auf Lager gehabt, an denen er teilnehmen mußte, über die er aber selbstverständlich nichts verraten durfte. Schließlich waren sie ja geheim. Die meisten Menschen hielten ihn für einen Spinner, ich fand ihn toll. Wir hatten so wunderbar zueinander gepaßt. Zwei verlorene, ehrbare Seelen in dieser irrsinnigen Welt voller Täuschungen und Irrungen. Und nun sollte ich ihn endlich wiedersehen! Kaum hielt es mich auf meinem Platz, aber geheim war geheim, da darf man nichts falsch machen.

Zwei Durchsagen später (die Bereitstellung meines Zuges verzögerte sich weiterhin auf unbestimmte Zeit) stand ich auf und eilte voller Vorfreude zum Gleis 2. Doch was war das? Weit und breit kein Willi zu sehen. Dafür stand inzwischen ein Zug da und der Lautsprecher drängte die (nicht vorhandenen) Passagiere, doch rasch zuzusteigen, da man eine beträchtliche Verspätung aufzuholen habe. Was sollte ich tun? Einsteigen und das Wiedersehen vergeigen? Vielleicht hatte er ja noch rasch auf die Toilette müssen? Oder die Perücke wechseln? Oder beides? Andererseits hatte ich Verpflichtungen gegenüber meinem Verlag. Einfach nicht zu erscheinen weil man glaubte, in einer Bahnhofskneipe einen Bekannten getroffen zu haben? Klang selbst in meinen Ohren lächerlich und ich bin von mir immerhin einiges gewohnt. Meine Lieblingslehrerin damals in der 10-ten Klasse hatte stets meine rege Phantasie gelobt.

Seufzend wuchtete ich meinen Koffer in den Zug und kletterte hinterher. Pflicht war Pflicht. Und inzwischen war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hatte. Der Willi, den ich gekannt hatte, wäre niemals mit einer so lächerlichen Perücke in der Öffentlichkeit herumgelaufen. Beknackte Mützen ja. Altmodische Hüte, auch ja. Aber niemals eine Langhaarperücke. Vielleicht hatte ich die Begegnung nur geträumt? Wunschdenken, ausgelöst durch dieses Verbotsschild? Hätte ich nicht vielleicht doch warten sollen? Aber schließlich wußte ER doch wie er mich erreichen konnte. Warum hatte er das nie versucht?

Die Umstiege in Paderborn und Hamm gingen problemlos vonstatten, obwohl ich mit meinen Gedanken nicht bei der Sache war und noch immer mit mir haderte, entgegen meiner Überzeugung in diesen blöden Zug gestiegen zu sein. Als ich in dem für mich gebuchten Hotel ankam, erwartete mich an der Rezeption eine Nachricht: Es täte ihnen (dem Verlag) total leid, doch die für heute angesetzte Lesung müsse leider mangels Interesse ausfallen.

Na Bumm!

Später, im Hotelrestaurant nach dem dritten Glas Wein, glaubte ich plötzlich, einen großgewachsenen, langhaarigen Mann zu erkennen, der forschen Schrittes in Richtung Ausgang marschierte. Doch obwohl ich sofort hinterherstolperte, war er nicht mehr zu sehen sobald ich den Hotelausgang erreicht hatte. Frierend stand ich auf der Straße im Schneegestöber und weinte bittere Tränen um eine nun unwiderruflich verlorene Freundschaft. 



Foto: © by Flaneur1960, Bad Driburg / Bildrechte liegen ausschließlich beim Fotografen und der Autorin


Donnerstag, 19. Oktober 2023

Die Niederlage Reginald des Rächers


Leichtfüßig betrat sie den Supermarkt und tanzte ausgelassen durch die Gänge. Ein Date! Ein Date zum Dinner! Nicht irgendein Date, nein, der blonde Hüne aus der IT-Abteilung, in dessen Gegenwart das tiefe Durchatmen so schwer fiel, hatte endlich geruht, sie zu beachten. Reginald der Ritter hatten sie und ihre Kolleginnen aus dem Schreibbüro ihn heimlich genannt, da er bislang auf keine ihrer mehr oder weniger subtilen Flirtversuche eingegangen war. Wie ein Ritter, der sich in seiner Rüstung verschanzt und stets edel und heroisch seiner Wege geht. Oder reitet.

Gestern hatte Reginald, der in Wirklichkeit einfach nur Harald hieß, sie aus heiterem Himmel am Kopierer angesprochen während er hinter ihr darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Ob sie ihm sagen könne, wo das Din-A-3 Format aufbewahrt werde, wollte er wissen. Dabei lagen sämtliche Papierstapel, nach Größe sortiert, unübersehbar rechts vom Kopierer im Eck. Genau wie all die Jahre zuvor auch.

Und heute in der Kantine, das Thema Essen lag auf der Hand, bzw. unappetitlich auf den Tellern zwischen ihnen - sie hatte noch mit ihren Kochkünsten geprahlt - hatte er sich praktisch selbst zum Essen eingeladen. Wogegen sie zwar nichts einzuwenden gehabt hatte, im Gegenteil, sie hatte sich so sehr gefreut - aber die Zeit wurde langsam knapp. Der Chef war um halb vier noch mit einem angeblich fürchterlich wichtigen Rundschreiben dahergekommen und jetzt war es zu spät für aufwendige Bratereien. Das Hors d’œuvre war noch nicht ausgewählt, die Zutaten noch nicht eingekauft, noch immer driftete sie, von ihren wallenden Hormonen getrieben, mehr oder weniger ziellos durch den Laden wie eine Qualle, die von den Wellen in den Untiefen des Meeres umeinandergespült wird. 

Eine kalte Platte vielleicht?

Kurzerhand begab sie sich zur Fleisch- und Feinkosttheke um sich von der Fachverkäuferin dort beraten zu lassen. Doch diese Dame war offenbar mehr an ihrem bevorstehenden Feierabend interessiert als an der Kundschaft. Sichtlich genervt gab sie nur widerwillig und knapp Auskunft über die ach so vielen leckeren Antipasti die verlockend zwischen ihnen ausgebreitet lagen und die Frage nach frischem Hack wurde schmallippig mit dem Bescheid beantwortet, die Maschine sei bereits gereinigt.

Enttäuscht verließ sie den Laden, ohne etwas gekauft zu haben. Dann eben nicht. Wozu gab es Lieferdienste? Und mal ganz ehrlich: Harald war doch sicherlich nicht in erster Linie wegen des Essens an sie herangetreten? Oder doch? Wenn sie an ihren Bruder dachte ... Der aß nach all den Jahren noch immer jeden Sonntag bei seiner Ex-Frau zu Mittag, nickte gar dem Nachfolger freundlich zu, nur um sich tüchtig den Bauch vollschlagen zu können. Liebe ging halt doch durch den Magen. 

Damit es aber erst zur Liebe kommen konnte, sollte nicht nur der Tisch, sondern auch die Anzubetende appetitlich hergerichtet sein. So verschwitzt und abgehetzt konnte und wollte sie Harald keineswegs gegenübertreten. Also ab nach Hause und unter die Dusche. Kaum war sie mit den nötigsten Restaurationsarbeiten fertig, klingelte es auch schon an der Türe. Pünktlich war er, das mußte sie ihm lassen. Hastig die oberen Knöpfe ihres Hauskleides schließend, zu offensichtlich wollte sie sich auch nicht anbieten, eilte sie zur Türe.

Riß sie auf und trat überrascht gleich wieder drei Schritte zurück. Statt des erwarteten Kollegen sah sie eine riesige Kiste aus Styropor, die sich zentimeterweise in ihre Wohnung bewegte und sie dabei Stück für Stück zurückdrängte. Was sollte DAS denn? Sie hatte doch noch nichts bestellt! Empört stemmte sie die Hände in die Hüften und wollte gerade loszetern, da schwang sich Harald hinter dem keuchenden Lieferanten vorbei und hielt ihr einen wirklich geschmackvoll zusammengestellten Blumenstrauß entgegen: ''Guten Abend Brigitta! Gut siehst du aus! Als ich euren Chef heute noch kurz vor Feierabend in euer Büro stürmen sah, dachte ich mir schon, daß du keine Zeit mehr zum Kochen haben würdest und habe uns vorsichtshalber etwas mitgebracht.'' An den Boten gewandt fügte er hinzu: ''Bitte stellen sie die Kiste einfach hier ab, vielen Dank, und das ist für Sie guter Mann.''

Verblüfft das wirklich großzügige Trinkgeld betrachtend, zog der Mann von dannen und Harald, ganz Herr der Situation, lupfte die Kiste wie selbstverständlich auf den Küchentisch, den er durch die halboffene Türe erspäht hatte.

Neugierig näherte sie sich dem Tisch und beobachtete gespannt, wie Harald mit einem verschmitzten Grinsen den Deckel abnahm. Was er wohl mitgebracht hatte? Chinesisch? Indisch? Sushi? Auf alles Mögliche war sie gefaßt aber nicht auf die Gestalt, die plötzlich aus der Kiste sprang wie Jack aus seiner Box und lauthals forderte: ''Zeigt mir die Töpfe, die Gewürze und wie der Herd funktioniert und dann schafft euch aus der Küche, ich kann keine Leute brauchen die mir beim Kochen über die Schulter gucken!''

Hastig rieb sie sich die Augen. Da stand doch nicht etwa ein Zwerg in ihrer Küche und funkelte sie erbost an? ''Na wirds bald? Hat dir wohl die Sprache verschlagen Frau Königstochter, was? Verwöhnte Bälger, allesamt. Töpfe, Gewürze, Herd hab ich gesagt!''

Fassungslos starrte sie auf den offenbar alles andere als handzahmen Wicht hinab, der bereits damit beschäftigt war, allerlei Eßbares aus der Kiste zu zerren, und wollte gerade saftig Kontra geben, als Harald ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte und sie sanft aber bestimmt aus der Küche schob. 

''Laß mich nur machen'', beschwor er sie. ''Reginald ist manchmal etwas unfroh, besonders wenn er lange in seiner Kiste gesessen ist, aber er kocht wie ein junger Gott. Ehrlich.''

Reginald. Der Zwerg hieß Reginald? Wer wollte hier eigentlich wen zum Narren halten? Während Harald wieder in der Küche verschwand, ließ sie sich völlig entnervt auf ihr Sofa fallen.

Hatte Harald sie und ihre Kolleginnen belauscht und sich hernach diese Farce ausgedacht um sich für den Spott und das Gelächter, das er in diesem Falle zweifelsohne ebenfalls gehört haben mußte, zu rächen? Als IT-ler hatte er ja dank der modernen Technik Möglichkeiten, die sich normale Menschen nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten. Was hatte er vor? Wollte er sie mit Psychospielchen piesacken und sich an ihrem Unbehagen weiden? Wie konnte sie sich aus dieser Bredouille retten? Ausgeschlossen, daß sie sich ihm nun noch hingeben konnte, was er jedoch nach diesem buchstäblich hingezauberten Menü zweifelsohne erwarten würde. Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Mobiltelefon und begann, in der Kontaktliste nach ihrer Freundin Monika zu scrollen. Monika war eine begnadete Hellseherin und weiße Hexe, diese wüßte sicherlich Rat. Doch noch bevor sie den Call-Button drücken konnte, erschien ein weiß behemdeter Arm hinter ihr und entwand ihr das Telefon.

''Wir wollen doch jetzt nicht telefonieren, oder? Wir wollen es uns doch lieber etwas gemütlich machen, bis das Essen fertig ist?''

Wie erstarrt saß sie da. Nur nichts anmerken lassen. Feind in Sicherheit wiegen. Mit einem, wie sie hoffte, einigermaßen freundlich erscheinenden Lächeln klopfte sie einladend auf die Sitzfläche neben sich während sie gleichzeitig aufstand und beiläufig zum Schränkchen hinüberging, in dem sie die Alkoholika aufbewahrte.

''Darf ich dir etwas zu Trinken anbieten?'' Hoffentlich hatte ihre Stimme nicht allzu sehr gezittert.

''Ach nein Danke ganz lieb Brigitta, aber ich bin mit dem Auto da und man soll doch zum Essen, welches übrigens gleich fertig sein sollte, nichts trinken. Die Magensäure, du verstehst? Ist doch eins deiner Lieblingsthemen, der Magen, richtig?''

Das süffisante Grinsen mit dem er seine als Frage getarnte Beobachtung wie nebenbei in den Raum stellte, bestärkte Brigittas dumpfe Ahnung. Harald HATTE sie abgehört. Ihre Magenbeschwerden waren in der Tat oft diskutiertes Thema im Schreibbüro gewesen. Ihr wurde kalt. Nerven bewahren, ermahnte sie sich, du hast von Monika einiges gelernt wogegen dieser Computerbube mitsamt seinem Mini-Bocuse nicht würde ankommen können. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. Die Sekunden verstrichen und schienen sich ins Unendliche zu dehnen. 

''Ach sieh nur'', rief sie scheinbar fröhlich aus und wandte sich dem Fenster zu. ''Die lieben Vögelchen sind wieder auf dem Balkon!''

Rasch, bevor er sie daran hindern konnte, drehte sie den Griff und öffnete das Wohnzimmerfenster weit. Schnalzend und keckernd ergoß sich eine wahre Flut an Eichhörnchen ins Zimmer. Sie krabbelten Harald in die Hosenbeine, zerrten an seinen Haaren und zerfetzten mit ihren scharfen Krallen seinen teuer aussehenden Anzug.

''Zu Hilfe!'', schrie dieser. ''Bist du wahnsinnig, schaff  mir diese Viecher vom Hals, aber dalli!''

''Nimm du deinen Koch und verschwinde aus meiner Wohnung, aber ebenso dalli'', entgegnete sie ungerührt. Wild um sich schlagend rannte Harald aus dem Zimmer, schrie nach Reginald, welcher nach seinem Auftauchen aus der Küche ebenfalls sofort von den Eichhörnchen attackiert wurde, woraufhin beide laut fluchend aus der Wohnung rannten und dabei völlig vergaßen, die Wohnungstüre hinter sich zu schließen.

Rasch holte sie dies nach und rutschte sodann mit dem Rücken zur Türe langsam auf den Teppich hinab. Gerade noch einmal gutgegangen. Wie betäubt saß sie da, bis sie vom lauten Keckern ihrer kleinen Helfer aus ihrer Erschöpfung aufgeschreckt wurde.

''Ja, ihr Guten, Lieben! Ihr sollt euren Lohn erhalten! Freilich!'' Rasch stand sie auf und schloß mit einem goldenen Schlüssel, der stets an einer Kette um ihren Hals hing, ein kleines Kästchen im Flur auf. Diesem entnahm sie eine Handvoll Zaubernüsse, die sie an die kleinen Hörnchen verteilte. Jedes nahm sich eine Nuß und verschwand damit aus dem Fenster hinaus in das Wäldchen, aus dem sie gekommen waren.

Während sie rasch die Unordnung in der Küche beseitigte - es hätte übrigens Nudeln mit einer undefinierbaren Soße gegeben - und vorsichtshalber alles miteinander in den Müll schüttete (bis auf die Gerätschaften Reginalds natürlich, die sie Harald am nächsten Tag im Büro unauffällig auf seine Platz stellen würde), nahm sie sich erneut vor, nun aber wirklich nie mehr, absolut NIEMALS mehr, einen Mann in ihre Wohnung zu lassen. Auch keine harmlos wirkenden IT-Spezialisten. Ganz besonders die nicht.






Mittwoch, 18. Oktober 2023

Im Jenseits gibt es keinen Wodka

 

Ich sehe dich nicht. Immer noch nicht. Ich habe Angst! Der Weg hierher war total gruselig, schwarz und schlammig wie im Moor, und ich hatte ständig Angst, zu versinken. Eine Stimme in meinem Kopf (deine???) mahnte immer wieder: Fürchte dich nicht, geh einfach weiter. Denk an das Licht! 

So bin ich nun an dieser Brücke angekommen. Die hatte ich mir auch anders vorgestellt.
Bunt, hell, vielleicht nicht grad mit Herzchen und Blümchen aber doch nicht so!
So unromantisch und ungepflegt.

Außerdem bin ich nicht schwindelfrei. Ob die mein Gewicht aushält? Obwohl, ich hab ja eigentlich keinen Körper mehr.

Die Landschaft erinnert mich ein bissl an unseren Schloßpark in Innsbruck. Weißt noch, Innsbruck, wir beide? Der Gunsch immer mit dem Besen vor dem Haus damit ihm ja nix entgeht und der kleine Laden in Hötting mit den Schulheften, dem Brot und den kleinen Teddybärchen?
Wo ich mich ewig nicht entscheiden konnte welches von beiden ich nehmen soll und du bist dann später heimlich nochmal runter und hast das zweite Bärchen gekauft damit es nicht traurig ist.

Und jetzt krieg ich langsam Panik. Du hast doch versprochen du holst mich ab!
Tote brauchen keine Brillen, ich sehe glasklar. Alles. Nur dich nicht.

Im Jenseits gibt es keinen Wodka. Daran kann es also nicht liegen, daß du zu spät bist.
Ok deine Orientierung war schon immer Scheiße. Aber ich brauch dich jetzt! Ich weiß nicht wo es langgeht. Ich seh nur Felsen und da komm ich doch nicht mehr rauf in meinem Alter! Tot oder lebendig. Wurscht. August wo bist du? Ich hasse Warten, August, du weißt das!

Hat der Nietzsche Bernd immer gesagt.
August, du weißt das!
Hast du den mal irgendwo getroffen?
Oder den Mike? Oder den Joe?
Wo seid ihr denn alle?
Ist das der Tod?
Alleine deppert umeinanderwarten?
In alle Ewigkeit?
Wo ist das Licht? Wo sind die Engel?

'Frau Niedermöller, da sind Sie ja!'
Vor mir steht ein Mann mit langem Bart.
'Sind Sie der Petrus? Komm ich nun doch in den Himmel rein? Wo ist denn der Eingang?'

'Frau Niedermöller Sie kommen doch jetzt noch nicht in den Himmel! Jetzt gibt's erstmal Abendessen. Sie waren ja fleißig unterwegs heute, fast hätt ich Sie nicht gefunden so weit hinten im Garten. Da haben Sie jetzt sicher tüchtig Hunger!'



Foto: © by Flaneur1960, Bad Driburg / Bildrechte liegen ausschließlich beim Fotografen und der Autorin


Samstag, 14. Oktober 2023

Damals, beinah ...

 

Die Zeit verging, verrann ihr zwischen den Fingern wie der Sand, den sie gedankenverloren immer wieder von einer Hand in die andere laufen ließ. Die Hoffnung, ihm hier noch einmal zu begegnen, wurde jeden Tag kleiner, doch niemals verschwand sie völlig, so wie die Sonne es jeden Abend tat ... und selbst diese tauchte regelmäßig morgens erneut aus dem Meer wieder auf als sei nichts geschehen und sie hätte sich nur einmal kurz das Gesicht waschen müssen.

Ein Mann, eine Kamera, ein Stativ. Jeden Tag war er hier vorbeigekommen, meist gegen neun Uhr morgens. Anfangs hatte er sie natürlich nicht beachtet. Schließlich war nur eine von vielen Urlauberinnen und sein Blick war stets in die Ferne gerichtet gewesen. Ein Suchender. Ein Philosoph. Ein Heiliger vielleicht?

Eines Tages jedoch hatte er eine ungewöhnlich geformte Muschel entdeckt, die nicht weit von ihren weißen Stadtbewohnerinnenzehen entfernt auf dem Sand gelegen war.

Nachdem er umständlich sein Stativ aufgebaut und die Muschel von allen Seiten fotografiert hatte, sah er ihr plötzlich und unerwartet direkt ins Gesicht, seine Mundwinkel zuckten kaum wahrnehmbar. Er bückte sich, hob die Muschel auf und überreichte sie ihr mit einer formvollendeten Verbeugung.

Auch sie war stumm geblieben, sah ihm lediglich mit einer kindlichen Verzückung ins Gesicht, suchte nach einem Punkt an dem sie sich festhalten konnte doch schon hatte er sich abgewandt, ergriff sein Stativ und marschierte weiter, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.

Natürlich saß sie am nächsten Morgen wieder hier und wartete gespannt darauf, ihn wiederzusehen.

Doch er kam nicht. Nicht an diesem Tag und auch an keinem anderen. 

Inzwischen war es Herbst geworden, die anderen Touristen waren abgereist, die Strandkörbe standen einsam und verlassen nebeneinander. Ein kalter Wind pfiff ihr um die Ohren während sie unverdrossen weiter wartete. Die kostbare Muschel war sicher im Hotelsafe verwahrt, zusammen mit ihrer mittlerweile beträchtlich geschrumpften Barschaft. Bald würde sie aufbrechen müssen. Zurückfahren nach Hause, in ihre kleine muffige Wohnung, in der niemand auf sie wartete.

Niemand konnte ahnen, daß, nur wenige Kilometer entfernt, das Meerwasser täglich von früh bis spät leise plätschernd eine von vielen vielen grünen Algen mittlerweile fast völlig zugewobene Kamera umfloß. Daneben eine weiße Hand, die noch immer zu versuchen schien, sich ihr Eigentum zurückzuerobern.

Bei Ebbe nur erhob sich knapp daneben eine perlweiße Düne aus dem Meer, das Schild davor bereits von den Elementen völlig verwittert und unleserlich geworden: Danger! Keep away!















Foto: © by Flaneur1960, Bad Driburg / Bildrechte liegen ausschließlich beim Fotografen und der Autorin

Mittwoch, 12. Juli 2023

Alexander Schmatulkes Traum von der Liebe

Alexander Schmatulke war verärgert. Ungewöhnlich für ihn, der er sonst ein eher gleichmütiges Verhalten an den Tag legte aber irgendwann langt's halt. Und irgendwann war jetzt!

Da hatte er seine Frau sorgfältig zerhackt, mittels einer aus der Arbeit mitgenommenen Knochensäge mühevoll zerkleinert, portionsweise verpackt und im Gefrierschrank verschwinden lassen - und jetzt? Stromausfall. Stromausfall bitte!!! Im gesamten Stadtteil, auf unbestimmte Zeit. 'Wieder so ein Cyberangriff!' sagten wichtigtuerisch jene, die bei Bekannten noch Fernsehschauen konnten. 

Der Gestank in seiner Wohnung war bereits nach wenigen Stunden bestialisch. Da half kein Parfum mehr. Bald würden die Leute reden. Fragen stellen. Sich wundern. Man würde sich erinnern. Später, wenn die Kommissare kämen. Erinnern an den Gestank und wie man Frau Schmatulke eigentlich schon länger nicht mehr gesehen hatte.

Als ob sich auch nur einer von denen Gedanken um seine Frau gemacht hätte, dachte Alexander voller Ingrimm, als noch Gelegenheit dazu gewesen wäre. Sie mal besucht hätte. Gefragt, wie es ihr geht. Aber das wußten wir ja alle, wie es ihr geht. Ging. Gegangen ist. Scheiße ist es ihr gegangen. Gefühlt seit Ewigkeiten schon. Deswegen war sie auch in einer Tour am Keppeln gewesen. So daß er schließlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen hatte als sie zu erlösen. War doch kein Leben mehr gewesen mit der Alten. Für sie nicht und genausowenig für ihn.

Endgültig in ihm gereift war dieser Entschluß, nachdem er, verblüfft über sich selber, beim Anblick einer gewissen jungen Dame die, wie er, jeden Morgen mit dem halb-8-Uhr Bus in die Stadt fuhr, in seiner Brust ein Jubeln verspürt hatte. Ein Zerren und sehnsüchtiges Ziehen. Eine unpackbare Freude, die beim Anblick des Mädchens immer wieder aufs Neue entfacht wurde.

Natürlich war er nicht so vermessen, sich altem Trottel bei so einem jungen Ding, wahrscheinlich Studentin denn sie stieg immer bei der Uni aus, Chancen ausrechnen zu wollen. Niemals. Da mußte man schon auf dem Teppich bleiben.

Die Gefühle jedoch, die sie in ihm hervorrief, die wollte er auskosten. Diese lang schon vergessenen, vergrabenen, und nun unverhofft erneut zum Leben erweckten Gefühle. 

Spüren. Genießen. Träumen. Davon, was wäre, wenn. Wenigstens das. Ein kleines, bittersüßes Glück. Welches ihm seine Frau mit ihrem fix ins Gemüt eingestanzten Mißmut einfach nicht gönnen wollte. Einfach nichts Positives um sich herum zuließ. Die Atmosphäre in der Wohnung dauerhaft vergiftete. Mit ihrer quäkenden Fragerei beispielsweise, wo er so lange gewesen, wenn er auch nur ein Viertelstündchen später als gewohnt von der Arbeit nach Hause kam. Entenleber mitbrachte, die ihr zu fettig war obwohl sie sie sich am Morgen noch gewünscht hatte. Barsch, der ihr zuviele Gräten hatte oder Erdbeeren, die ihr nicht reif genug erschienen.

Weil der Greißler am Eck eh ein Gauner war und hätte sie das nicht immer schon gesagt?
Hatte sie.

Also mußte er sie erlösen. Vom Greißler, vom Leiden und von ihm. Ihrem Nichtsnutz von Ehemann der endlich zum Leben erwacht war. Zu einem Leben, das er ohne sie und ihr permanentes Gemecker zu führen gedachte.

Und nun der Stromausfall. 
Natürlich hätte er die Leiche nicht ewig in der Gefriere verstecken können. Irgendwann wäre der Zeitpunkt gekommen, an dem er seine Frau als vermißt hätte melden müssen. Vom Einkaufen nicht zurückgekommen, beim Greißler, von dem man ja wußte ...

Aber doch jetzt noch nicht! Noch ehe er Gelegenheit gehabt hatte, sie portionsweise zu entsorgen!

Am nächsten Morgen fand er sich, nolens volens, mit einem leider deutlich miefenden Packerl in seiner Aktentasche auf dem Weg in die Arbeit. In einem großen Krankenhaus sollte es doch möglich sein, etwaige Teile, die bei einer OP übrig geblieben waren, zu entsorgen. Und wenn da mal ein bissl mehr lag ... seine Kollegin von der OP-Reinigung, die ihm auch die Knochensäge stibitzt hatte (er selber arbeitete in der Sterilisation und war leider nicht in einer Position, wo man einfach mal ein Gerät beiseiteschaffen konnte) würde ihm hierbei vielleicht weiterhelfen?

Doch der Weg zur Arbeit war lang und der Sommer bereits jetzt am Morgen drückend heiß. Sehr heiß. Am Hauptplatz stieg wie immer seine Angebetete ein, dieser frische Hauch in seinem neuen Leben ... doch noch bevor er mit seiner Aktentasche von ihr abrücken konnte, schließlich wollte er nicht, daß sie dachte er hätte sich nicht geduscht, zwinkerte sie ihm zu und meinte: 'Keine Sorge, ich kenne diesen Geruch. Ich arbeit grad unten auf der Prosektur. Ich studier Humanmedizin, zweites Semester.'

Alexander erstarrte. So schnell war also das Ende gekommen ... würden sie ihn nach Kaisheim bringen - oder vielleicht gleich nach Stadelheim zu den ganz harten Jungs?

Die Studentin plauderte munter weiter: 'Ich hab auch mal einen Hirschen zusammengefahren. Natürlich völlig unabsichtlich. Weit und breit niemand, also das Tier in den Kofferraum und ab dafür. Und dann aber drauf vergessen. Tja, wohin dann mit der Leich? DAS war vielleicht eine Sauarbeit sag ich Ihnen, bis wir die Teile entsorgt hatten. Mein Freund hat mir geholfen. Haben Sie auch einen Freund oder müssen Sie alles alleine machen? Aber warum ich Sie anspreche, Sie hätten nicht vielleicht den einen oder anderen dicken Knochen übrig für uns? Wir machen grad Versuche mit Fadenankern und an menschliche Knochen kommt man ja sooooooooooooooooooooo schlecht ran.'

Alexander schluckte. Menschliche Knochen. Hätte er durchaus anzubieten jetzt. Jede Menge. Aber wie erklärt man das einer harmlosen Medizinstudentin?

'Drogentote', brachte sich sein Gegenüber wieder zu Gehör, ungeachtet dessen, daß bereits die halbe Bahn interessiert zuhörte. 'Drogentote sind super, wenn die keine Angehörigen haben die sich kümmern, dann kriegen wir die manchmal. Aber natürlich sind die Knochen dann auch nicht mehr sooooooooooooooooooo dolle beinand.'

In Alexanders Kopf spielte unerklärlicherweise ein Orchester in minimaler Besetzung das alte Lied: 'Es zittern die morschen Knochen der Welt vor des Todes Sieg ...' oder sowas in die Richtung. 

In seinem Inneren tobte ein Kampf. Was sollte er nun machen? Freundlich lächelnd die gute Frau verabschieden und sich extrem zeitnah um die weitere Vernichtung seiner Frau kümmern oder - um ein zweites Treffen mit der Angebeteten zu erheischen - sich als Sozialarbeiter vorstellen der REIN zufällig einen Drogentoten zu betreuen hatte bei dessen Verfolgung er leider diesen Hasen überfahren hatte dessen sterbliche Überreste er nun in seiner Aktentasche herumtrug in der Hoffnung, diese in der Klinik unbemerkt verschwinden lassen zu können?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, nahm Wanja, wie sie sich ihm nun vorstellte, die Entscheidung gekonnt in ihre russischen Hände und meinte: 'No schauen Sie, Sie kommen heute einfach ein bissl später in die Arbeit rauf, und ich zeig Ihnen derweil wo man bei uns unten die Resterln hintun kann. Damals wie ich noch in Wien studiert hab, wars ein bissl einfacher, die Österreicher haben's nicht so mit dem Reglement, aber dafür gehen die Deutschen immer davon aus, daß sich ALLE an die Regeln halten, so kommt man leichter dazwischen.'

Inzwischen waren sie angekommen, stiegen in den Lift nach unten und Wanja zeigte ihm stolz 'ihr' Reich, die Prosektur. Ein bissl wie in einem dieser japanischen Hotels mit den sehr engen Zimmern, nur daß in den 'Zimmern' Tote lagen und auf die Obduktion warteten. Menschen in weißen Kitteln wuselten durch die Gegend ohne sie beide zu beachten. Die Räume mit den meterhohen Plafonds standen voll mit frisch gewienerten blanken Liegen aus Chrom und Stahl, jedoch aktuell alle unbelegt worüber sich Alexander sehr freute. Noch mehr Leichengestank hätte er jetzt nicht noch gebraucht. A propos Leichengestank ... unauffällig stupste er Wanja in die Seite und deutete auf seine Aktentasche.

Diese grinste und meinte: 'Müssen wir noch ein bissl warten, sind grad zuviele Leute umadum. Komm mit, ich zeig dir derweil mal die Veterinärmedizin. Noch bevor Alexander die Chance gehabt hätte, etwas zu sagen, nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich hier durch ein Gewirr von Gängen, ein Kaninchenbau war nichts dagegen. Wie soll ich hier jemals wieder herausfinden, dachte er kläglich ... doch schon stoppte Wanja vor einer Türe und lugte vorsichtig hinein. Schlüpfte hindurch und winkte ihm, ihr zu folgen. Todesmutig betrat Alexander hinter ihr das Zimmer und erstarrte. Ein riesiger Saal voller Schafe! Eins nach dem anderen pittoresk auf einer Liege plaziert, doch keins gab auch nur den geringsten Laut von sich. 

'Sind die alle ... tot?' fragte Alexander und räusperte sich mehrmals, seine Stimme schien ihm hier unten nicht mehr wirklich zu gehorchen. 'Ach woher, die machen einfach nur Versuche mit denen. Jetzt schau nicht so mitleidig, immer noch besser als wenn die an Menschen rumexperimentieren, oder? Magst mal ausprobieren? Komm, leg dich doch mal hier auf die freie Liege!' Grinsend schob Wanja den stolpernden und mittlerweile todbleichen Alexander rückwärts auf eine der Stahlliegen zu. Verzweifelt versuchte sich dieser zu wehren, ließ seine geliebte Aktentasche zu Boden fallen, ruderte mit beiden Armen, aber keine Chance, Wanja war nicht umsonst in Russland zur Schule gegangen. Sie wußte wie man kämpft.

Am Ende lag Alexander festgeschnallt neben den Schafen auf einer Liege und mußte hilflos mitansehen, wie Wanja routiniert eine Spritze aufzog und sich ihm damit näherte.

'Mußt du keine Angst haben Alexejowic, ist schnell vorbei. Du hast ewige Ruhe (sie deutete zwinkernd auf seinen Ehering) und wir haben ein feines Paar Humeri für unsere Forschung. Win-Win Situation, wie ihr das hier nennt.'

Alexander hätte noch soviel zu sagen gehabt. Daß er ihr ebenfalls zwei Humeri bringen könnte von daheim, daß er doch garnicht mehr verheiratet sei und daß er sie liebte ... aber dazu war es jetzt zu spät. Mit einem letzten Blick in die Augen seiner schönen Mörderin verabschiedete er sich von dieser Erde und nahm all seine frisch wiederentdeckten und letztendlich doch unausgelebten Träume und Sehnsüchte mit sich hinüber in die Anderswelt.