Mittwoch, 22. November 2023

Das verkaufte Gedächtnis

Mühsam hinkte ich über die Felder. Vorigen Donnerstag hatte ich mir so heftig den kleinen Zeh gestoßen, daß ich kaum auftreten konnte. Aber da ich den Bauern vom Falknerhof versprochen hatte, ihnen mit dem Einstellen ihrer Angebote in den virtuellen Hofladen zu helfen, mußte ich mich nolens volens auf den Weg zu ihnen machen. Das Internet finden sie alle miteinander bestenfalls gewöhnungsbedürftig, es sind auch schon andere Ausdrücke gefallen die man sich in Gegenwart einer Dame eigentlich verkneifen sollte. Nicht, daß ich eine wäre. Sonst hätte der Falkner junior mir vielleicht angeboten, mich mit seinem Traktor abzuholen, aber er hatte halt nie Zeit.

Weiblich jedenfalls, weiblich war ich definitiv, wie ich so über's Feld hinkte mit meinem hübschen neuen Kleid. Extra angezogen für den Junior. Den fand ich nämlich schon extrem fesch. Und so wie er mich manchmal ansah, beruhte das womöglich auf Gegenseitigkeit?

Glücklich betrachtete ich mein Kleid. Nicht gekauft, nein, selbst genäht hatte ich das gute Stück. Besonders stolz war ich auf die Borte, die ich der Kurzwarenhändlerin günstig hatte abschwatzen können. Die Frau war so geizig, die bewahrte lieber die scheußlichsten Stoffe so lange auf, bis sie vollständig von Spinnen eingewebt waren, bevor sie einmal einen Abverkauf machte. 

''Nix da'', pflegte sie zu sagen, ''Sale bedeutet schmutzig und bei mir da herinnen ist stets alles blitzblank geputzt, da ist garnix schmutzig!'' Das war halt die Frau Häberle, gell.

Schmunzelnd hinkte ich dahin, so sehr in Gedanken versunken, daß ich den großen Stein in der Mitte des Weges übersah, mit dem wehen Zeh dagegenstieß, laut aufschrie vor Schmerzen, stolperte und unsanft auf dem Po landete. Woraufhin mir schwarz vor Augen wurde.

Als ich wieder aufwachte, lag ich weich gebettet auf einer Wiese, umgeben von einer idyllischen, an Oberösterreich gemahnenden Landschaft. Sanft gewellt und dekoriert mit Schäfchen, Kälbchen und Ziegen. Über allem lag ein jazzig angehauchter Tonteppich, man könnte sagen Musik, nur viel dichter mit der Atmosphäre verwoben, irgendwie als ob ich einen geraucht ... hatte ich mir vielleicht beim Sturz den Kopf angeschlagen?

Verwirrt blickte ich mich um.

Von links kam ein breit grinsendes Männchen auf bunten Stelzen angestakt, im Hintergrund sprangen weitere ebenfalls bunt gekleidete Gestalten auf überdimensionalen Sprungfedern quer über den Horizont. War ich in einem Computerspiel gelandet? Oder verrückt geworden?

Vorsichtig versuchte ich, mich vom Boden zu erheben und stellt verblüfft fest, daß ich keinerlei Schmerzen mehr am Zehen verspürte. War dieser vielleicht schon abgestorben? Zaghaft spähte ich in meinen rechten Socken, der Zeh war noch dran am Fuß. Alles in bester Ordnung. ''Hohoho'', erklang es hinter mir. Ich fuhr herum. Keiner zu sehen. Langsam wurde mir mulmig. ''Hohoho'', erklang es erneut von hinten.

Hing da doch im Geäst über mir ein verschmitzt lächelnder Wichtel der sich offenbar mit dem größten Vergnügen an meiner Verwirrung weidete. ''Hab keine Angst'', sprach er mit beruhigender Stimme. ''Du bist halt ausgerechnet in der Albernen Ecke durch die Decke gesegelt gekommen. Paar Meter weiter links und du wärst bei den Melancholikern gelandet, die malen düstere Bilder und beten gerne mehrmals täglich.''

''Das mit dem Beten sind die Asketen, Worriwitsch, daß du dir aber auch garnix merken kannst!'', rief ein lässig an den Beinen von einem Ast baumelnder Zwerg. 'Reimt sich doch: Beten, Asketen! Muhahaaaaaaa!''

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Möglicherweise eine Art von Flashback? ''Sagt mal'', wagte ich einen Vorstoß, ''Wie bin ich denn hier heruntergekommen? Eigentlich lief ich gerade zu Bekannten übers Feld, bin gestolpert, hingefallen, und im nächsten Moment lag ich bei euch auf der Wiese.''

''War da vielleicht ein großer Stein gelegen?'', fragte Worriwitsch neugierig.

''Ja und was für ein Trumm! Grad den Zehen habe ich mir angehauen daß ich Sternchen gesehen habe, aber jetzt tut er auf einmal nicht mehr weh. Naja, und ich tät halt gern zurückwollen, die Falkners warten doch auf mich.''

''Soso, zurück willst. Findst es nicht bei uns viel angenehmer? Keine Sorgen, hübsche Musik, lustige Anziehsachen und freundliche Leute überall.''

''Aber man wartet doch auf mich!''

''Hast du dir schon einmal überlegt, was dein Leben für einen Zweck hat? Also wieso du hier bist? Auf der Erde? Und ich geb dir 'nen Tip: Der Sinn des Lebens ist NICHT zweiundvierzig.''

''Sinn des Lebens? Äh. Also. Öhm. Naaa, hob I ned. Drüber nachgedacht meine ich. Man macht halt und tut, damit es sich ausgeht, und die anderen zufrieden sind, die Miete bezahlt ist und niemand schimpft. War bisher jedenfalls immer so. Aber wenn ich euch so zuschau fällt mir auch auf, daß mir oben bei uns was fehlt. Die Freude. Die Fähigkeit, das kleine Glück zu erkennen und sich die Zeit zu nehmen, es zu genießen solange es bei einem bleiben mag. Oft nur Sekunden, wenn ein hübscher Vogel vorbeigleitet oder Minuten, wenn man im Killesbergbähnle durchs Gebüsch rattert ... ja du, das vermisse ich und das hätt ich gerne wieder. Ist das der Sinn des Lebens? Einfach glücklich und voller Freude zu sein und nicht ständig an das Vergangene oder das Zukünftige zu denken?''

''Bist nah dran Menschenkind'', lächelte Worriwitsch, ''aber der wahre Zweck des Lebens ist der, dieses Glück auch mit anderen teilen zu können. Ich kann dir zu dieser Leichtigkeit verhelfen wenn du magst, und du darfst sie auch mit an die Oberfläche nehmen wo du wohnst, aber es ist ein Preis zu zahlen: Du wirst die Erinnerung an die Begegnung mit uns verlieren und auch sonst wird es mit deinem Gedächtnis nicht mehr zum Besten stehen. Manche Leute werden dich für etwas dumm halten, aber mit denen mußt du dich ja nicht weiter befassen. Du wirst eine wundersame Ausstrahlung bekommen und stets aus vollem Herzen Freude empfinden und auch weitergeben können. Willst du das?''

Dankbar nickte ich. Gab ja keinen Grund, dem netten Wichtel zu gestehen, daß es mit meinem Gedächtnis schon jetzt nicht mehr zum Besten stand und ich bei diesem Deal nur gewinnen konnte. Fragend blickte ich ihn an. Würde er jetzt einen Zauberstab schwingen, mir ein bitter schmeckendes Gebräu aus seltenen Wurzeln zu trinken geben oder mir gar eins über den Schädel hauen damit ich wieder ohnmächtig würde und er mich unauffällig nach oben schaffen könnte?

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte lachte Worriwitsch laut auf und rief: ''Wir machen das ganz einfach. Siehst du diese Hecke da vorn? Durch diese gehst du und bist dann sofort bei euch oben. Am Feld. Deine Erinnerung an hier unten wird im selben Augenblick gelöscht werden und du wirst deiner Wege weitergehen als sei nichts geschehen. Leb wohl du Menschenkind, auf daß du den göttlichen Funken der Freude in so vielen Menschen wie möglich entzünden mögest!''

Ich umarmte den Guten, winkte dem im Baum hängenden Zwerg fröhlich zu und verschwand durch die Hecke. 

Später, bei Falkners in der guten Stube, hatte ich wirklich Mühe, nicht ständig zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Das Einrichten des Onlineshops war wie von Zauberhand dahingeglitten, der Vater war bald kopfschüttelnd hinausgegangen und hatte was von Stallarbeit gemurmelt. Die Mutter wollte uns einen Kaffee kochen gehen, während der Junior und ich immer wieder gleichzeitig zur Computermaus griffen und immer wieder zurückzuckten als hätte uns der Blitz getroffen. Entweder war die Elektrik bei den Falkners unter aller Sau, oder es sprang buchstäblich in einer Tour der Funken über.

Das Seltsame war: Es war mir nicht mehr wichtig. Ich war ganz einfach glücklich. Ruhte in mir und verströmte eine Gelassenheit, die mich selber umwarf. So hatte ich immer fühlen wollen. Eins mit mir und der Welt. Völlig unabhängig von den emotionalen Zuwendungen anderer Menschen. Was für ein absolut geiles Feeling!




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