Sonntag, 26. November 2023

Die Sünden der Väter



Es war doch nicht so gemeint gewesen! Immer noch völlig fassungslos saß Sabine mit dem Rücken gegen die Türe in der Finsternis - sicher ist sicher - und versuchte, ihre wild durcheinanderzuckenden Gedanken zu besänftigen. Es war vielleicht ein wenig unbedacht von der Gruppe gewesen, gleich mit dem Bau einer Rakete zu beginnen, ohne sich vorher umfassend schlau gemacht zu haben. Über die Folgen, die eine unvorhergesehene Landung auf unbekanntem Terrain für die Menschen dort haben könnte. Aber sie hätten sie doch niemals wirklich gezündet, oder? Und wenn schon. Noch war alles in der Planungsphase gewesen. Da konnte man ihnen doch nichts am Zeug flicken, sie dergestalt medial verunglimpfen, daß man ihnen Volksverhetzung vorwarf, sie mit verschwörungstheoretischen Impfgegnern verglich oder ihnen gar die Verbreitung rechten Gedankenguts vorwarf.

Nun hatte sie den Salat, nun wurde sie gesucht, und ihr Freund Herbert natürlich auch. Der Herr Chefchemiker. Sie saß bis auf weiteres hier auf dem Dachboden einer weitläufig Bekannten fest und Herbert ... was aus ihm wohl geworden war? Es war alles so schnell gegangen. Das Sonderkommando hatte das Haus von vorne gestürmt während Herbert, sie und die anderen hinten hinausgelaufen waren. Dort war niemand postiert gewesen weil keiner auf die Idee gekommen wäre, daß man sich durch die sich dort befindlichen Grundstücke davonmachen könne. Aber junge Menschen, die bereits seit ihrer Kindheit Abkürzungen über Zäune nahmen statt brav außenherum auf der Straße in die Schule zur marschieren, wussten natürlich, wie man rasch zum Schulhaus hinaufkam. Von wo aus sie sich hastig zerstreut hatten und getrennt geflohen waren. Alles vorher abgesprochen, logischerweise, aber niemand hätte geglaubt, dass es so schnell zum Eklat kommen würde und somit waren die Fluchtpläne nicht wirklich bis ins Detail durchdacht und ausgearbeitet worden.

Wir hatten den Menschen doch nur ein klein wenig Respekt einflößen wollen vor den Naturgewalten, die nun einmal über uns regieren und vor denen man sich nach wie vor in Acht nehmen sollte. Klar wissen wir heute alle, dass Elektrizität nicht von zornigen, Blitze schleudernden Göttern generiert wird, sondern brav gezähmt durch Leitungen fließt und kontrolliert aus der Steckdose kommt, aber dennoch gibt es Gesetze, die wir beachten müssen. Aber nicht tun. Und das geht nicht.

Also wollten wir die Wolken ein wenig aufmischen und für einen Dauerregen sorgen, der sich buchstäblich gewaschen hatte. Wenn man, so hatten wir gelesen, gewisse Chemikalien in die Wolken verbringt, dann fangen diese an, Regen abzulassen. Was den Landwirt initial freuen mag, wird ihn über kurz oder lang zur Verzweiflung treiben. Ganz zu schweigen von den vielen Sommerfrischlern, die sich eigentlich auf eine fröhliche Zeit am See gefreut hatten, mit Eiscreme, Sonnenöl und Musik aus dem Transistorradio. Statt dessen würden sie verdrossen in ihren Ferienwohnungen hocken und zum dritten Mal das mitgebrachte Buch lesen. 

So ungefähr hatten wir uns das vorgestellt. Daß wir nun bereits im Winter hochgegangen waren und unsere Pläne noch nicht einmal ansatzweise hatten verwirklichen können, war schlimm genug. Aber daß man uns verhaften wollte wie Terroristen, noch bevor wir überhaupt eine einzige Rakete hatten aufbauen können geschweige denn sonst etwas damit anstellen, das war der Gipfel! 

Kalt war es auf dem Dachboden und Sabine fröstelte trotz ihrer dicken Jacke. Wie lange sie hier wohl würde ausharren müssen? Ob sie wenigstens zum Schlafen in die Wohnung hinunterkommen dürfte oder ob sie tatsächlich die ganze Zeit hier oben verbringen sollte? Ob der Fluchtwagen bald käme oder ob man sie geflissentlich vergessen würde? Langsam stand sie auf und begann, ein wenig auf- und abzugehen. Leise natürlich, damit man sie unten nicht hörte. Man wusste ja nie, wer gerade auf Besuch war. 

In der Ecke waren einige Kisten gestapelt und Sabine begann, aus purer Langeweile, die oberste zu öffnen und den Inhalt zu untersuchen. Fotoalben! Richtige, echte altmodische Fotoalben! Neugierig zog Sabine sich eins heraus und schlug es auf. Unmodern gekleidete Menschen mit seltsamen Frisuren blickten ihr entgegen. Weihnachten 1941 stand unter dem Foto. Daß die Menschen damals mitten im Krieg noch Weihnachten feiern konnten? Aber offenbar hatte es der Familie an nichts gefehlt. Alle grinsten lässig in die Kamera, zwei kleine Mädchen erfreuten sich an Puppen und neuen Holzreifen, im Hintergrund bog sich ein Eßtisch unter lauter Köstlichkeiten. Was genau es gegeben hatte, war nicht zu erkennen, aber auf alle Fälle reichlich davon. Auf dem nächsten Foto war der Weihnachtsbaum deutlich zu sehen. Von oben bis unten mit Lametta behangen. Offenbar hatte man sich früher keinerlei Gedanken über die umweltschädigende Wirkung dieses Baumschmucks gemacht und so richtig in die Vollen gegriffen. Du meine Güte, man sah ja vor lauter Glitzer den Baum nicht mehr! Total übertrieben war das. Aber was stand denn da hinten auf dem Ecktisch? War das nicht ... ein jüdischer Kerzenleuchter? Mit den typischen sieben Armen? Wie hießen die nochmal? Richtig, Menora. Allgemeinbildung! Aber wieso hatten diese Leute sowas an Weihnachten am Tisch stehen? Soweit sich Sabine erinnern konnte, feierten Juden kein Weihnachten sondern Chanukka und hatten dabei keine sieben- sondern neunarmige Leuchter in Gebrauch. Außerdem trug keiner der Männer eine Kippa. Und ein Jude im Deutschland des Jahres 1941 würde auch sicherlich nicht so breit grinsen, wie die Leute auf den Fotos. Irgendwas war hier seltsam.

Plötzlich wurde Sabine schwindelig. ''Du meine Güte'', dachte sie noch ''jetzt holt mich der Schrecken ein, gegessen hab ich auch noch nicht viel heute!'', und schon schwanden ihr die Sinne.

Als sie wieder erwachte, kauerte sie in der Ecke eines überwärmten Zimmers und rieb sich ungläubig die Augen. Um sie herum schnatterten genau die Menschen, die sie gerade eben noch auf Fotos betrachtet hatte. Die Kinder zankten sich in der Ecke um ein neues Spielzeug und eine Frau lud die Leute lautstark ein, zuzugreifen, man habe weder Kosten noch Mühe gescheut, ein Festmahl zuzubereiten. Die Frau sprach einwandfreies Hochdeutsch, kein Jiddisch. Hungrig erhob sich Sabine und trat zögerlich an den Tisch. Ob sie wohl auch gemeint war, mit der Einladung? Niemand schien sich an ihrer Gegenwart zu stören und so wollte sie sich ebenfalls einen Teller nehmen und - doch was war das? Ihre Hand konnte nichts greifen! Weder den Teller noch eine Gabel! Und durch die aufgebauten Speisen griff sie ebenfalls einfach hindurch. Ja toll! War sie jetzt ein Geist? Aber Geister waren doch nicht hungrig! Enttäuscht sah sie den anderen zu, wie sie sich genußvoll labten und dabei angeregt miteinander plauderten.

''Haha, das war doch ein Glücksgriff'', lachte einer der Männer. ''Immer praktisch, wenn man mit dem Gauleiter auf gutem Fuße steht. Hätte ich nicht als einer der Ersten von der Flucht der Löwensteins erfahren, wären mir die besten Stücke entgangen. Der silberne Leuchter da, ist der nicht prächtig? Und vom Erlös der Ohrringe konnte ich diese Woche auf dem Schwarzmarkt die feinsten Leckereien kaufen. Greift zu liebe Freunde, heute lassen wir es uns gut ergehen!''

''Hilda!'', mahnte eine der Frauen. ''Nun lass doch deiner Freundin die Rassel und kommt beide zu Tisch. Anständige deutsche Mädchen streiten sich nicht!''

Seltsam, dachte Sabine. Die Mutter der Frau, auf deren Dachboden sie soeben noch gefroren hatte, hieß Hilda. War dies etwa die Familie ihrer Bekannten? Ihre Eltern und Großeltern samt Freunden? Waren diese Leute in der NSDAP gewesen und hatten sich an den Hinterlassenschaften bedauernswerter jüdischer Mitbürger bereichert? Doch wie hatten die Löwensteins fliehen können, wenn es doch damals bereits dieses Ausreiseverbot gegeben hatte? Zwar konnte sich Sabine nicht mehr an den genauen Monat erinnern, aber dass es im Jahr 1941 gewesen war, wusste sie noch. Kennzeichnungspflicht mit gelbem Stern und Ausreiseverbot. Deswegen hatte man wohl den gesamten Besitz zurücklassen müssen? Weil man lediglich hatte versuchen können, das nackte Leben zu retten? Sabine hoffte inständig, dass wenigstens das gelungen war und betrachtete angeekelt die Leute am Tisch. Von diesem Zeug würde sie jetzt sowieso nichts mehr abhaben wollen, selbst wenn sie könnte. Mit wachsendem Entsetzen mußte sie mit anhören, wie die Männer sich, wohl unter dem Einfluss von Alkohol, höhnisch über die 'Untermenschen' ausließen, die man nun hoffentlich endgültig aus dem Städtchen habe vertreiben können. Und wie gut es doch sei, Beziehungen zu haben und daher nicht an die Front zu müssen, da man schließlich zuhause gebraucht werde. 

Sabine zerbrach sich den Kopf, was denn die Großeltern ihrer Bekannten für einen Beruf gehabt hatten, doch es fiel ihr nicht mehr ein. Wie auch. Die meisten Menschen wussten wohl nicht einmal mehr, was ihre eigenen Großeltern so getrieben hatten, geschweige denn die ihrer Freunde. Langsam begannen die Leute um sie herum zu verschwimmen, das Gelächter wurde leiser und leiser, jemand klopfte ihr unablässig auf die Wange und rief: ''Sabine, Sabine, nun wach doch auf! Bitte sei nicht tot!''

Verblüfft sah sie sich um. Neben ihr hockte die Bekannte und sah sie mit unverhohlener Erleichterung an: ''Mensch Sabine wir haben schon gedacht du bist erfroren! Es tut mir so furchtbar leid, daß ich dich so lange dort oben habe hocken lassen, aber wir wollten erst sichergehen, dass die Polizei nicht hier nach dir suchen würde. Kannst du dich aufsetzen? Schau, ich hab dir ein warmes Süppchen gemacht und nachher gibt es noch Pfannkuchen, die magst du doch so gerne.''

Beim Anblick des Tabletts mit der Terrine erinnerte sich Sabine schlagartig an die Menschen denen sie soeben beim Essen hatte zusehen müssen und trotz ihres bohrenden Hungers drehte sich ihr der Magen um: ''Sag mal Irene, waren deine Großeltern eigentlich Nazis?'', fragte sie, den Löffel in der Hand haltend und doch nicht fähig, von der warmen Suppe zu kosten, deren köstlicher Duft ihr verlockend in die Nase stieg.

''Meine Großeltern? Nazis? Wieso meinst? Ich hab sie ja selber kaum mehr gekannt und meine Eltern haben nicht viel erzählt, die Leute reden doch nicht mehr über diese Zeit. Oder ist das Dritte Reich bei euch daheim Gesprächsthema?'' Fast patzig warf ihr Irene diese Frage hin.

''Das nicht, aber ... also ich hab mir oben am Dachboden eins eurer Fotoalben angesehen und ...'' Sabine wurde plötzlich klar, dass sie ihrer Bekannten niemals von ihrem Erlebnis würde erzählen können. Man würde sie als Spinnerin abtun und abgesehen davon, hatte sie jetzt nicht brennendere Probleme als das Schicksal von irgendwelchen unbekannten Leuten aus der Vergangenheit? Hastig begann sie, die Suppe zu löffeln und es bedurfte ihrer gesamte Aufmerksamkeit, dabei nicht zu kleckern. 

''Gut, du hast recht. Die Eltern meiner Mutter, die waren in der Partei und sogar ziemlich hohe Tiere dort. Hatten ganz schöne Schwierigkeiten, als nach dem Krieg die Alliierten kamen. Mein Opa hat es aber doch irgendwie geschafft, denen weiszumachen, daß er nur ein Mitläufer gewesen sei. Genaues weiß ich wirklich nicht und ganz ehrlich, mir ist das alles auch dermaßen peinlich! Es ist schlimm genug, Deutscher zu sein, aber dann auch noch Großeltern zu haben, die im Deutschen Reich aktiv mitgemacht haben, das ist voll übel. Was meinst, warum ich dir jetzt helfe? Dich verstecke? So gut kennen wir uns ja schließlich nicht, dass ich mich deswegen mit einem Bein ins Kittchen stelle. Bitte nicht böse sein, ich sage nur was ich denke. So kann ich aber wenigstens ein bisschen etwas wieder gutmachen von dem, was meine Vorfahren verbockt haben. Hoffe ich zumindest.''

Gerührt blickte Sabine der noch immer neben ihr Knienden ins Gesicht. ''Irene, das finde ich absolut knorke von dir. Echt. Und mach dir keine Sorgen, ich werde niemandem erzählen, daß ich bei dir Unterschlupf gefunden hatte und wenn nun endlich das Fluchtauto kommt, dann wirst du mich so schnell sowieso nicht wiedersehen. Mann, und die ganze Aufregung nur wegen ein paar blöder Baupläne. Ich verstehe sowieso nicht, wie die Bullen auf uns kamen. Wir hatten doch alles noch im Schuppen versteckt und außer unserer Gruppe wusste niemand von unserem Vorhaben.''

Erschrocken fuhren sie zusammen als es plötzlich an der Türe klingelte. ''Jemineh, wenn das die Polizei ist! Rasch, wieder rauf mit dir! Verdammte Scheiße!''

Fluchend rannte Irene zum Fenster und versuchte, einen vorsichtigen Blick durch die Gardine zu werfen, als ihr Mann bereits die Türe aufschloss und flüsterte: ''Komm rein Knut, sie ist auf dem Dachboden. Mußt nicht glauben, dass wir sowas decken! Weißt ja von wem deine Kollegen den Tipp mit den Plänen hatten gell? Wenn du mich fragst gehören die alle an die Wand gestellt, diese Scheißnazis!''











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