Samstag, 14. Oktober 2023

Damals, beinah ...

 

Die Zeit verging, verrann ihr zwischen den Fingern wie der Sand, den sie gedankenverloren immer wieder von einer Hand in die andere laufen ließ. Die Hoffnung, ihm hier noch einmal zu begegnen, wurde jeden Tag kleiner, doch niemals verschwand sie völlig, so wie die Sonne es jeden Abend tat ... und selbst diese tauchte regelmäßig morgens erneut aus dem Meer wieder auf als sei nichts geschehen und sie hätte sich nur einmal kurz das Gesicht waschen müssen.

Ein Mann, eine Kamera, ein Stativ. Jeden Tag war er hier vorbeigekommen, meist gegen neun Uhr morgens. Anfangs hatte er sie natürlich nicht beachtet. Schließlich war nur eine von vielen Urlauberinnen und sein Blick war stets in die Ferne gerichtet gewesen. Ein Suchender. Ein Philosoph. Ein Heiliger vielleicht?

Eines Tages jedoch hatte er eine ungewöhnlich geformte Muschel entdeckt, die nicht weit von ihren weißen Stadtbewohnerinnenzehen entfernt auf dem Sand gelegen war.

Nachdem er umständlich sein Stativ aufgebaut und die Muschel von allen Seiten fotografiert hatte, sah er ihr plötzlich und unerwartet direkt ins Gesicht, seine Mundwinkel zuckten kaum wahrnehmbar. Er bückte sich, hob die Muschel auf und überreichte sie ihr mit einer formvollendeten Verbeugung.

Auch sie war stumm geblieben, sah ihm lediglich mit einer kindlichen Verzückung ins Gesicht, suchte nach einem Punkt an dem sie sich festhalten konnte doch schon hatte er sich abgewandt, ergriff sein Stativ und marschierte weiter, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.

Natürlich saß sie am nächsten Morgen wieder hier und wartete gespannt darauf, ihn wiederzusehen.

Doch er kam nicht. Nicht an diesem Tag und auch an keinem anderen. 

Inzwischen war es Herbst geworden, die anderen Touristen waren abgereist, die Strandkörbe standen einsam und verlassen nebeneinander. Ein kalter Wind pfiff ihr um die Ohren während sie unverdrossen weiter wartete. Die kostbare Muschel war sicher im Hotelsafe verwahrt, zusammen mit ihrer mittlerweile beträchtlich geschrumpften Barschaft. Bald würde sie aufbrechen müssen. Zurückfahren nach Hause, in ihre kleine muffige Wohnung, in der niemand auf sie wartete.

Niemand konnte ahnen, daß, nur wenige Kilometer entfernt, das Meerwasser täglich von früh bis spät leise plätschernd eine von vielen vielen grünen Algen mittlerweile fast völlig zugewobene Kamera umfloß. Daneben eine weiße Hand, die noch immer zu versuchen schien, sich ihr Eigentum zurückzuerobern.

Bei Ebbe nur erhob sich knapp daneben eine perlweiße Düne aus dem Meer, das Schild davor bereits von den Elementen völlig verwittert und unleserlich geworden: Danger! Keep away!















Foto: © by Flaneur1960, Bad Driburg / Bildrechte liegen ausschließlich beim Fotografen und der Autorin

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