Dienstag, 28. November 2023

Also sagen wir - jetzt Kaiser:in zum Bier

 ''Hau mal a Kaiserin rüber!'', brüllte Dragan vom Gerüst und ich wurde gleich wieder sauer. Nur weil ich mir grad einmal ein bissl die Beine vertrat war ich doch nicht sein Dienstbote! Aber was tut man nicht alles für das Betriebsklima. Also latschte ich rüber zum Eck wo wir den Kühlschrank mit den Bierdosen stehen hatten.

Als ich in das fragende Gesicht unseres Praktikanten schaute, mußte ich lachen. ''Na wegen der bescheuerten Genderei!'', erklärte ich dem Jungen, der offenbar nichts verstand. ''Wennst nur Kaiser sagst dann meckert gleich wieder wer. Also sagen wir jetzt Kaiser:in zum Bier, verstehst?''

Müde verzog er das Gesicht. Na toll. Fand der Herr Studiosus also nicht lustig. Mit Schwung warf ich Dragan sein Bier hoch und schlenderte rüber zu meinem Kran. Allzu oft machte ich die beschwerliche Tour bis herunter natürlich nicht, aber menschliche Bedürfnisse und so ... seine Würstchen wollte man ja nun wirklich nicht den ganzen Tag im Führerhaus stehen haben. Und im Sommer schon zweimal nicht.

Schrilles Kreischen drang an mein Ohr. Oh weh! Erwin hatte wieder begonnen, die Pflastersteine zu sägen. Melodiös geht anders. Hastig kletterte ich das Gestänge hinauf. Ich liebe meinen Beruf! Weit oben, entfernt von all dem Dreck, dem Gestank und dem Lärm, schwebte ich sozusagen über dem Geschehen wie ein König.

Vorher war ich Baggerführer gewesen. Das System ist ähnlich, die Einarbeitung war also kein Problem. Nun wuchtete ich halt in Wien Betonbehälter durch die Gegend statt in Tirol Steine aus dem Flußbett zu klauben.

Vor allem um den Beton war es mir gegangen. Früher hatte man ja beim Bau eines neuen Hauses immer eine Leiche unter dem Fundament vergraben. Also so richtig früher meine ich. Mittelalter oder so. Später gaben sich die Leute dann auch mit einem toten Hahn oder einem Kaninchen zufrieden. Ich nicht.

Ich fand es total angenehm, daß man aufsässige Kollegen nicht mehr zum Tauchen schicken mußte. Mafiamäßig, verstehst. Füße in Beton gegossen und ab in den See. Funktioniert ja so heute nicht mehr. Mit den modernen Maschinen kommen die ewig weit runter beim Suchen und Mord verjährt nicht. Das ist blöd.

Daher kam mir meine neue Beschäftigung sehr zupaß. Wer nervte, verschwand. Zu oft durfte man das natürlich nicht machen, das wäre aufgefallen. Aber dieser humorlose Praktikant, der ging mir schon langsam GEWALTIG auf den Zeiger.

Als ob wir nicht schon genug Studierte hätten, die alles besser wissen und nur im Weg herumstehen. 







Sonntag, 26. November 2023

Die Sünden der Väter



Es war doch nicht so gemeint gewesen! Immer noch völlig fassungslos saß Sabine mit dem Rücken gegen die Türe in der Finsternis - sicher ist sicher - und versuchte, ihre wild durcheinanderzuckenden Gedanken zu besänftigen. Es war vielleicht ein wenig unbedacht von der Gruppe gewesen, gleich mit dem Bau einer Rakete zu beginnen, ohne sich vorher umfassend schlau gemacht zu haben. Über die Folgen, die eine unvorhergesehene Landung auf unbekanntem Terrain für die Menschen dort haben könnte. Aber sie hätten sie doch niemals wirklich gezündet, oder? Und wenn schon. Noch war alles in der Planungsphase gewesen. Da konnte man ihnen doch nichts am Zeug flicken, sie dergestalt medial verunglimpfen, daß man ihnen Volksverhetzung vorwarf, sie mit verschwörungstheoretischen Impfgegnern verglich oder ihnen gar die Verbreitung rechten Gedankenguts vorwarf.

Nun hatte sie den Salat, nun wurde sie gesucht, und ihr Freund Herbert natürlich auch. Der Herr Chefchemiker. Sie saß bis auf weiteres hier auf dem Dachboden einer weitläufig Bekannten fest und Herbert ... was aus ihm wohl geworden war? Es war alles so schnell gegangen. Das Sonderkommando hatte das Haus von vorne gestürmt während Herbert, sie und die anderen hinten hinausgelaufen waren. Dort war niemand postiert gewesen weil keiner auf die Idee gekommen wäre, daß man sich durch die sich dort befindlichen Grundstücke davonmachen könne. Aber junge Menschen, die bereits seit ihrer Kindheit Abkürzungen über Zäune nahmen statt brav außenherum auf der Straße in die Schule zur marschieren, wussten natürlich, wie man rasch zum Schulhaus hinaufkam. Von wo aus sie sich hastig zerstreut hatten und getrennt geflohen waren. Alles vorher abgesprochen, logischerweise, aber niemand hätte geglaubt, dass es so schnell zum Eklat kommen würde und somit waren die Fluchtpläne nicht wirklich bis ins Detail durchdacht und ausgearbeitet worden.

Wir hatten den Menschen doch nur ein klein wenig Respekt einflößen wollen vor den Naturgewalten, die nun einmal über uns regieren und vor denen man sich nach wie vor in Acht nehmen sollte. Klar wissen wir heute alle, dass Elektrizität nicht von zornigen, Blitze schleudernden Göttern generiert wird, sondern brav gezähmt durch Leitungen fließt und kontrolliert aus der Steckdose kommt, aber dennoch gibt es Gesetze, die wir beachten müssen. Aber nicht tun. Und das geht nicht.

Also wollten wir die Wolken ein wenig aufmischen und für einen Dauerregen sorgen, der sich buchstäblich gewaschen hatte. Wenn man, so hatten wir gelesen, gewisse Chemikalien in die Wolken verbringt, dann fangen diese an, Regen abzulassen. Was den Landwirt initial freuen mag, wird ihn über kurz oder lang zur Verzweiflung treiben. Ganz zu schweigen von den vielen Sommerfrischlern, die sich eigentlich auf eine fröhliche Zeit am See gefreut hatten, mit Eiscreme, Sonnenöl und Musik aus dem Transistorradio. Statt dessen würden sie verdrossen in ihren Ferienwohnungen hocken und zum dritten Mal das mitgebrachte Buch lesen. 

So ungefähr hatten wir uns das vorgestellt. Daß wir nun bereits im Winter hochgegangen waren und unsere Pläne noch nicht einmal ansatzweise hatten verwirklichen können, war schlimm genug. Aber daß man uns verhaften wollte wie Terroristen, noch bevor wir überhaupt eine einzige Rakete hatten aufbauen können geschweige denn sonst etwas damit anstellen, das war der Gipfel! 

Kalt war es auf dem Dachboden und Sabine fröstelte trotz ihrer dicken Jacke. Wie lange sie hier wohl würde ausharren müssen? Ob sie wenigstens zum Schlafen in die Wohnung hinunterkommen dürfte oder ob sie tatsächlich die ganze Zeit hier oben verbringen sollte? Ob der Fluchtwagen bald käme oder ob man sie geflissentlich vergessen würde? Langsam stand sie auf und begann, ein wenig auf- und abzugehen. Leise natürlich, damit man sie unten nicht hörte. Man wusste ja nie, wer gerade auf Besuch war. 

In der Ecke waren einige Kisten gestapelt und Sabine begann, aus purer Langeweile, die oberste zu öffnen und den Inhalt zu untersuchen. Fotoalben! Richtige, echte altmodische Fotoalben! Neugierig zog Sabine sich eins heraus und schlug es auf. Unmodern gekleidete Menschen mit seltsamen Frisuren blickten ihr entgegen. Weihnachten 1941 stand unter dem Foto. Daß die Menschen damals mitten im Krieg noch Weihnachten feiern konnten? Aber offenbar hatte es der Familie an nichts gefehlt. Alle grinsten lässig in die Kamera, zwei kleine Mädchen erfreuten sich an Puppen und neuen Holzreifen, im Hintergrund bog sich ein Eßtisch unter lauter Köstlichkeiten. Was genau es gegeben hatte, war nicht zu erkennen, aber auf alle Fälle reichlich davon. Auf dem nächsten Foto war der Weihnachtsbaum deutlich zu sehen. Von oben bis unten mit Lametta behangen. Offenbar hatte man sich früher keinerlei Gedanken über die umweltschädigende Wirkung dieses Baumschmucks gemacht und so richtig in die Vollen gegriffen. Du meine Güte, man sah ja vor lauter Glitzer den Baum nicht mehr! Total übertrieben war das. Aber was stand denn da hinten auf dem Ecktisch? War das nicht ... ein jüdischer Kerzenleuchter? Mit den typischen sieben Armen? Wie hießen die nochmal? Richtig, Menora. Allgemeinbildung! Aber wieso hatten diese Leute sowas an Weihnachten am Tisch stehen? Soweit sich Sabine erinnern konnte, feierten Juden kein Weihnachten sondern Chanukka und hatten dabei keine sieben- sondern neunarmige Leuchter in Gebrauch. Außerdem trug keiner der Männer eine Kippa. Und ein Jude im Deutschland des Jahres 1941 würde auch sicherlich nicht so breit grinsen, wie die Leute auf den Fotos. Irgendwas war hier seltsam.

Plötzlich wurde Sabine schwindelig. ''Du meine Güte'', dachte sie noch ''jetzt holt mich der Schrecken ein, gegessen hab ich auch noch nicht viel heute!'', und schon schwanden ihr die Sinne.

Als sie wieder erwachte, kauerte sie in der Ecke eines überwärmten Zimmers und rieb sich ungläubig die Augen. Um sie herum schnatterten genau die Menschen, die sie gerade eben noch auf Fotos betrachtet hatte. Die Kinder zankten sich in der Ecke um ein neues Spielzeug und eine Frau lud die Leute lautstark ein, zuzugreifen, man habe weder Kosten noch Mühe gescheut, ein Festmahl zuzubereiten. Die Frau sprach einwandfreies Hochdeutsch, kein Jiddisch. Hungrig erhob sich Sabine und trat zögerlich an den Tisch. Ob sie wohl auch gemeint war, mit der Einladung? Niemand schien sich an ihrer Gegenwart zu stören und so wollte sie sich ebenfalls einen Teller nehmen und - doch was war das? Ihre Hand konnte nichts greifen! Weder den Teller noch eine Gabel! Und durch die aufgebauten Speisen griff sie ebenfalls einfach hindurch. Ja toll! War sie jetzt ein Geist? Aber Geister waren doch nicht hungrig! Enttäuscht sah sie den anderen zu, wie sie sich genußvoll labten und dabei angeregt miteinander plauderten.

''Haha, das war doch ein Glücksgriff'', lachte einer der Männer. ''Immer praktisch, wenn man mit dem Gauleiter auf gutem Fuße steht. Hätte ich nicht als einer der Ersten von der Flucht der Löwensteins erfahren, wären mir die besten Stücke entgangen. Der silberne Leuchter da, ist der nicht prächtig? Und vom Erlös der Ohrringe konnte ich diese Woche auf dem Schwarzmarkt die feinsten Leckereien kaufen. Greift zu liebe Freunde, heute lassen wir es uns gut ergehen!''

''Hilda!'', mahnte eine der Frauen. ''Nun lass doch deiner Freundin die Rassel und kommt beide zu Tisch. Anständige deutsche Mädchen streiten sich nicht!''

Seltsam, dachte Sabine. Die Mutter der Frau, auf deren Dachboden sie soeben noch gefroren hatte, hieß Hilda. War dies etwa die Familie ihrer Bekannten? Ihre Eltern und Großeltern samt Freunden? Waren diese Leute in der NSDAP gewesen und hatten sich an den Hinterlassenschaften bedauernswerter jüdischer Mitbürger bereichert? Doch wie hatten die Löwensteins fliehen können, wenn es doch damals bereits dieses Ausreiseverbot gegeben hatte? Zwar konnte sich Sabine nicht mehr an den genauen Monat erinnern, aber dass es im Jahr 1941 gewesen war, wusste sie noch. Kennzeichnungspflicht mit gelbem Stern und Ausreiseverbot. Deswegen hatte man wohl den gesamten Besitz zurücklassen müssen? Weil man lediglich hatte versuchen können, das nackte Leben zu retten? Sabine hoffte inständig, dass wenigstens das gelungen war und betrachtete angeekelt die Leute am Tisch. Von diesem Zeug würde sie jetzt sowieso nichts mehr abhaben wollen, selbst wenn sie könnte. Mit wachsendem Entsetzen mußte sie mit anhören, wie die Männer sich, wohl unter dem Einfluss von Alkohol, höhnisch über die 'Untermenschen' ausließen, die man nun hoffentlich endgültig aus dem Städtchen habe vertreiben können. Und wie gut es doch sei, Beziehungen zu haben und daher nicht an die Front zu müssen, da man schließlich zuhause gebraucht werde. 

Sabine zerbrach sich den Kopf, was denn die Großeltern ihrer Bekannten für einen Beruf gehabt hatten, doch es fiel ihr nicht mehr ein. Wie auch. Die meisten Menschen wussten wohl nicht einmal mehr, was ihre eigenen Großeltern so getrieben hatten, geschweige denn die ihrer Freunde. Langsam begannen die Leute um sie herum zu verschwimmen, das Gelächter wurde leiser und leiser, jemand klopfte ihr unablässig auf die Wange und rief: ''Sabine, Sabine, nun wach doch auf! Bitte sei nicht tot!''

Verblüfft sah sie sich um. Neben ihr hockte die Bekannte und sah sie mit unverhohlener Erleichterung an: ''Mensch Sabine wir haben schon gedacht du bist erfroren! Es tut mir so furchtbar leid, daß ich dich so lange dort oben habe hocken lassen, aber wir wollten erst sichergehen, dass die Polizei nicht hier nach dir suchen würde. Kannst du dich aufsetzen? Schau, ich hab dir ein warmes Süppchen gemacht und nachher gibt es noch Pfannkuchen, die magst du doch so gerne.''

Beim Anblick des Tabletts mit der Terrine erinnerte sich Sabine schlagartig an die Menschen denen sie soeben beim Essen hatte zusehen müssen und trotz ihres bohrenden Hungers drehte sich ihr der Magen um: ''Sag mal Irene, waren deine Großeltern eigentlich Nazis?'', fragte sie, den Löffel in der Hand haltend und doch nicht fähig, von der warmen Suppe zu kosten, deren köstlicher Duft ihr verlockend in die Nase stieg.

''Meine Großeltern? Nazis? Wieso meinst? Ich hab sie ja selber kaum mehr gekannt und meine Eltern haben nicht viel erzählt, die Leute reden doch nicht mehr über diese Zeit. Oder ist das Dritte Reich bei euch daheim Gesprächsthema?'' Fast patzig warf ihr Irene diese Frage hin.

''Das nicht, aber ... also ich hab mir oben am Dachboden eins eurer Fotoalben angesehen und ...'' Sabine wurde plötzlich klar, dass sie ihrer Bekannten niemals von ihrem Erlebnis würde erzählen können. Man würde sie als Spinnerin abtun und abgesehen davon, hatte sie jetzt nicht brennendere Probleme als das Schicksal von irgendwelchen unbekannten Leuten aus der Vergangenheit? Hastig begann sie, die Suppe zu löffeln und es bedurfte ihrer gesamte Aufmerksamkeit, dabei nicht zu kleckern. 

''Gut, du hast recht. Die Eltern meiner Mutter, die waren in der Partei und sogar ziemlich hohe Tiere dort. Hatten ganz schöne Schwierigkeiten, als nach dem Krieg die Alliierten kamen. Mein Opa hat es aber doch irgendwie geschafft, denen weiszumachen, daß er nur ein Mitläufer gewesen sei. Genaues weiß ich wirklich nicht und ganz ehrlich, mir ist das alles auch dermaßen peinlich! Es ist schlimm genug, Deutscher zu sein, aber dann auch noch Großeltern zu haben, die im Deutschen Reich aktiv mitgemacht haben, das ist voll übel. Was meinst, warum ich dir jetzt helfe? Dich verstecke? So gut kennen wir uns ja schließlich nicht, dass ich mich deswegen mit einem Bein ins Kittchen stelle. Bitte nicht böse sein, ich sage nur was ich denke. So kann ich aber wenigstens ein bisschen etwas wieder gutmachen von dem, was meine Vorfahren verbockt haben. Hoffe ich zumindest.''

Gerührt blickte Sabine der noch immer neben ihr Knienden ins Gesicht. ''Irene, das finde ich absolut knorke von dir. Echt. Und mach dir keine Sorgen, ich werde niemandem erzählen, daß ich bei dir Unterschlupf gefunden hatte und wenn nun endlich das Fluchtauto kommt, dann wirst du mich so schnell sowieso nicht wiedersehen. Mann, und die ganze Aufregung nur wegen ein paar blöder Baupläne. Ich verstehe sowieso nicht, wie die Bullen auf uns kamen. Wir hatten doch alles noch im Schuppen versteckt und außer unserer Gruppe wusste niemand von unserem Vorhaben.''

Erschrocken fuhren sie zusammen als es plötzlich an der Türe klingelte. ''Jemineh, wenn das die Polizei ist! Rasch, wieder rauf mit dir! Verdammte Scheiße!''

Fluchend rannte Irene zum Fenster und versuchte, einen vorsichtigen Blick durch die Gardine zu werfen, als ihr Mann bereits die Türe aufschloss und flüsterte: ''Komm rein Knut, sie ist auf dem Dachboden. Mußt nicht glauben, dass wir sowas decken! Weißt ja von wem deine Kollegen den Tipp mit den Plänen hatten gell? Wenn du mich fragst gehören die alle an die Wand gestellt, diese Scheißnazis!''











Mittwoch, 22. November 2023

Das verkaufte Gedächtnis

Mühsam hinkte ich über die Felder. Vorigen Donnerstag hatte ich mir so heftig den kleinen Zeh gestoßen, daß ich kaum auftreten konnte. Aber da ich den Bauern vom Falknerhof versprochen hatte, ihnen mit dem Einstellen ihrer Angebote in den virtuellen Hofladen zu helfen, mußte ich mich nolens volens auf den Weg zu ihnen machen. Das Internet finden sie alle miteinander bestenfalls gewöhnungsbedürftig, es sind auch schon andere Ausdrücke gefallen die man sich in Gegenwart einer Dame eigentlich verkneifen sollte. Nicht, daß ich eine wäre. Sonst hätte der Falkner junior mir vielleicht angeboten, mich mit seinem Traktor abzuholen, aber er hatte halt nie Zeit.

Weiblich jedenfalls, weiblich war ich definitiv, wie ich so über's Feld hinkte mit meinem hübschen neuen Kleid. Extra angezogen für den Junior. Den fand ich nämlich schon extrem fesch. Und so wie er mich manchmal ansah, beruhte das womöglich auf Gegenseitigkeit?

Glücklich betrachtete ich mein Kleid. Nicht gekauft, nein, selbst genäht hatte ich das gute Stück. Besonders stolz war ich auf die Borte, die ich der Kurzwarenhändlerin günstig hatte abschwatzen können. Die Frau war so geizig, die bewahrte lieber die scheußlichsten Stoffe so lange auf, bis sie vollständig von Spinnen eingewebt waren, bevor sie einmal einen Abverkauf machte. 

''Nix da'', pflegte sie zu sagen, ''Sale bedeutet schmutzig und bei mir da herinnen ist stets alles blitzblank geputzt, da ist garnix schmutzig!'' Das war halt die Frau Häberle, gell.

Schmunzelnd hinkte ich dahin, so sehr in Gedanken versunken, daß ich den großen Stein in der Mitte des Weges übersah, mit dem wehen Zeh dagegenstieß, laut aufschrie vor Schmerzen, stolperte und unsanft auf dem Po landete. Woraufhin mir schwarz vor Augen wurde.

Als ich wieder aufwachte, lag ich weich gebettet auf einer Wiese, umgeben von einer idyllischen, an Oberösterreich gemahnenden Landschaft. Sanft gewellt und dekoriert mit Schäfchen, Kälbchen und Ziegen. Über allem lag ein jazzig angehauchter Tonteppich, man könnte sagen Musik, nur viel dichter mit der Atmosphäre verwoben, irgendwie als ob ich einen geraucht ... hatte ich mir vielleicht beim Sturz den Kopf angeschlagen?

Verwirrt blickte ich mich um.

Von links kam ein breit grinsendes Männchen auf bunten Stelzen angestakt, im Hintergrund sprangen weitere ebenfalls bunt gekleidete Gestalten auf überdimensionalen Sprungfedern quer über den Horizont. War ich in einem Computerspiel gelandet? Oder verrückt geworden?

Vorsichtig versuchte ich, mich vom Boden zu erheben und stellt verblüfft fest, daß ich keinerlei Schmerzen mehr am Zehen verspürte. War dieser vielleicht schon abgestorben? Zaghaft spähte ich in meinen rechten Socken, der Zeh war noch dran am Fuß. Alles in bester Ordnung. ''Hohoho'', erklang es hinter mir. Ich fuhr herum. Keiner zu sehen. Langsam wurde mir mulmig. ''Hohoho'', erklang es erneut von hinten.

Hing da doch im Geäst über mir ein verschmitzt lächelnder Wichtel der sich offenbar mit dem größten Vergnügen an meiner Verwirrung weidete. ''Hab keine Angst'', sprach er mit beruhigender Stimme. ''Du bist halt ausgerechnet in der Albernen Ecke durch die Decke gesegelt gekommen. Paar Meter weiter links und du wärst bei den Melancholikern gelandet, die malen düstere Bilder und beten gerne mehrmals täglich.''

''Das mit dem Beten sind die Asketen, Worriwitsch, daß du dir aber auch garnix merken kannst!'', rief ein lässig an den Beinen von einem Ast baumelnder Zwerg. 'Reimt sich doch: Beten, Asketen! Muhahaaaaaaa!''

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Möglicherweise eine Art von Flashback? ''Sagt mal'', wagte ich einen Vorstoß, ''Wie bin ich denn hier heruntergekommen? Eigentlich lief ich gerade zu Bekannten übers Feld, bin gestolpert, hingefallen, und im nächsten Moment lag ich bei euch auf der Wiese.''

''War da vielleicht ein großer Stein gelegen?'', fragte Worriwitsch neugierig.

''Ja und was für ein Trumm! Grad den Zehen habe ich mir angehauen daß ich Sternchen gesehen habe, aber jetzt tut er auf einmal nicht mehr weh. Naja, und ich tät halt gern zurückwollen, die Falkners warten doch auf mich.''

''Soso, zurück willst. Findst es nicht bei uns viel angenehmer? Keine Sorgen, hübsche Musik, lustige Anziehsachen und freundliche Leute überall.''

''Aber man wartet doch auf mich!''

''Hast du dir schon einmal überlegt, was dein Leben für einen Zweck hat? Also wieso du hier bist? Auf der Erde? Und ich geb dir 'nen Tip: Der Sinn des Lebens ist NICHT zweiundvierzig.''

''Sinn des Lebens? Äh. Also. Öhm. Naaa, hob I ned. Drüber nachgedacht meine ich. Man macht halt und tut, damit es sich ausgeht, und die anderen zufrieden sind, die Miete bezahlt ist und niemand schimpft. War bisher jedenfalls immer so. Aber wenn ich euch so zuschau fällt mir auch auf, daß mir oben bei uns was fehlt. Die Freude. Die Fähigkeit, das kleine Glück zu erkennen und sich die Zeit zu nehmen, es zu genießen solange es bei einem bleiben mag. Oft nur Sekunden, wenn ein hübscher Vogel vorbeigleitet oder Minuten, wenn man im Killesbergbähnle durchs Gebüsch rattert ... ja du, das vermisse ich und das hätt ich gerne wieder. Ist das der Sinn des Lebens? Einfach glücklich und voller Freude zu sein und nicht ständig an das Vergangene oder das Zukünftige zu denken?''

''Bist nah dran Menschenkind'', lächelte Worriwitsch, ''aber der wahre Zweck des Lebens ist der, dieses Glück auch mit anderen teilen zu können. Ich kann dir zu dieser Leichtigkeit verhelfen wenn du magst, und du darfst sie auch mit an die Oberfläche nehmen wo du wohnst, aber es ist ein Preis zu zahlen: Du wirst die Erinnerung an die Begegnung mit uns verlieren und auch sonst wird es mit deinem Gedächtnis nicht mehr zum Besten stehen. Manche Leute werden dich für etwas dumm halten, aber mit denen mußt du dich ja nicht weiter befassen. Du wirst eine wundersame Ausstrahlung bekommen und stets aus vollem Herzen Freude empfinden und auch weitergeben können. Willst du das?''

Dankbar nickte ich. Gab ja keinen Grund, dem netten Wichtel zu gestehen, daß es mit meinem Gedächtnis schon jetzt nicht mehr zum Besten stand und ich bei diesem Deal nur gewinnen konnte. Fragend blickte ich ihn an. Würde er jetzt einen Zauberstab schwingen, mir ein bitter schmeckendes Gebräu aus seltenen Wurzeln zu trinken geben oder mir gar eins über den Schädel hauen damit ich wieder ohnmächtig würde und er mich unauffällig nach oben schaffen könnte?

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte lachte Worriwitsch laut auf und rief: ''Wir machen das ganz einfach. Siehst du diese Hecke da vorn? Durch diese gehst du und bist dann sofort bei euch oben. Am Feld. Deine Erinnerung an hier unten wird im selben Augenblick gelöscht werden und du wirst deiner Wege weitergehen als sei nichts geschehen. Leb wohl du Menschenkind, auf daß du den göttlichen Funken der Freude in so vielen Menschen wie möglich entzünden mögest!''

Ich umarmte den Guten, winkte dem im Baum hängenden Zwerg fröhlich zu und verschwand durch die Hecke. 

Später, bei Falkners in der guten Stube, hatte ich wirklich Mühe, nicht ständig zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Das Einrichten des Onlineshops war wie von Zauberhand dahingeglitten, der Vater war bald kopfschüttelnd hinausgegangen und hatte was von Stallarbeit gemurmelt. Die Mutter wollte uns einen Kaffee kochen gehen, während der Junior und ich immer wieder gleichzeitig zur Computermaus griffen und immer wieder zurückzuckten als hätte uns der Blitz getroffen. Entweder war die Elektrik bei den Falkners unter aller Sau, oder es sprang buchstäblich in einer Tour der Funken über.

Das Seltsame war: Es war mir nicht mehr wichtig. Ich war ganz einfach glücklich. Ruhte in mir und verströmte eine Gelassenheit, die mich selber umwarf. So hatte ich immer fühlen wollen. Eins mit mir und der Welt. Völlig unabhängig von den emotionalen Zuwendungen anderer Menschen. Was für ein absolut geiles Feeling!




Freitag, 10. November 2023

Selbsterfüllende Prophezeihung



Ich sähe vulgär aus, hatte seine Mutter wohl gesagt und das N-Wort benutzt. Was er mir später peinlich berührt berichtete. Daß ich nicht gerade mit offenen Armen empfangen worden war, habe ich selbst gemerkt. Zwar nickte mir sein Vater immer wieder ermunternd zu, aber seine Mutter machte die ganze Zeit einen bösen, verkniffenen Mund, die diversen Onkel und Tanten hingegen beachteten mich nicht weiter, so daß ich während des Essens unbemerkt die vornehme Tischdecke vollkleckern konnte.

Der Einzige aus seiner Familie, mit dem ich wirklich locker umgehen konnte, war sein Bruder Ulrich. Den kannte ich schon weil wir uns oft am Rande der Tanzfläche sitzend unterhalten hatten, während mein Freund mit irgendwelchen Tussis das Tanzbein schwang. Jawohl, damals in den 70-ern konnte man sich in Diskotheken trotz der Musik noch unterhalten. Ulrich ging auch aufs Gymnasium, im Gegensatz zu mir jedoch war er ein hervorragender Schüler. Wollte Arzt werden, wie sein Vater.

Wieso ich mitgegangen bin, zu dem blöden Familientreffen? Weil es bei mir daheim auch nicht gerade lustig war. Mein Erzeuger war ein extrem toxischer Mensch, in dessen Gegenwart man nicht nur aufs Wort zu parieren hatte, nein, wenn ihm irgendetwas gegen den Strich ging, und das passierte ständig, immer unerwartet und vermeintlich grundlos, dann ging er sofort an die Decke. War er zuhause, war das Leben ein ständiges Balancieren auf einem Vulkan, von dem man nie wußte, wann er das nächste Mal ausbrechen würde. Mega-anstrengend. Dann doch lieber Besuch bei der Familie des Freundes.

Ausgerechnet in Leitershofen traf man sich, feudalste Gegend Augsburgs. Bernhards BMW hielt vor einer riesigen Villa, ich bin gleich total eingeschüchtert gewesen. Jetzt kam ich ja selber nicht gerade aus der Gosse, auch meine Eltern besaßen ein Haus, aber diese Leute spielten in einer ganz andere Liga. Nach der schmallippigen Begrüßung durch seine Mutter betraten wir den Salon und ich erstarrte. Da saßen sie im feinsten Zwirn, die Damen in Bluse und Rock - und ich kam mit Minirock und Netzstrumpfhosen daher als ginge es geradewegs in die Disco. Wo wir danach ja auch hinwollten. Hätte er mich nicht vorwarnen können? Was für ein peinliches Debakel!

Nach dem Kaffee durften wir uns verabschieden und fuhren geradewegs nach Oberhausen, Glasscherbenviertel, zu Tonis Treff. Üble Kneipe, abgeschabtes Mobilar, dunkle Gestalten mit Schnurrbärten, gespannte Atmosphäre. Toni selbst trug ein unglaubliches Charisma vor sich her und ich fand ihn einfach wahnsinnig toll. Vor allem weil er stets ausgesucht freundlich zu mir war, ich durfte ihn sogar anrufen wenn ich mit jemandem reden wollte. Auch seine Freunde gaben mir immer wieder Tequilas aus. Wie ich heute weiß, wollten sie mich betrunken machen und auf den Strich schicken, aber so schnell wurde ich nicht betrunken. Bereits im Alter von 16 Jahren konnte ich eine Menge vertragen, das Bemühen der Herren Zwickelluden war daher von keinerlei Erfolg gekrönt. Vor allem weil Bernhard immer achtgab, auch wenn ich oft nicht gerade nett zu ihm war. 

Einmal hatte ich mich so über seine ständigen Flirtereien geärgert, daß ich meinerseits begann, mit einer Bekannten heftig herumzuknutschen bis er erbost das Lokal verließ. Weggefahren ist er aber nicht, Gottseidank, denn ich naive Idiotin bin, nach weiteren Tequilas an der Theke, doch tatsächlich mit zwei Burschen in ein Auto gestiegen, angeblich wollten sie mich heimbringen. Fuhren dann aber unbeirrt in eine völlig andere Richtung! Meine zaghaften Einwände wurden höhnisch weggelacht. Erst als sie Bernhards Auto bemerkten, das ihnen tapfer überallhin folgte, bogen sie dann doch ab und fuhren mich nolens volens nach Hause. Zu meinem zornbebenden Vater. Der mir wieder einmal vorhielt, daß ich ihm nur auf der Tasche läge, ein faules Stück sei und lautstark voraussah, daß aus mir niemals etwas werden würde.

Das alles ist nun schon lange her, ich bin erwachsen geworden. Alt, könnte man sagen, obwohl mein dreißigster Geburtstag noch keine Woche her ist. Gratuliert hat mir keiner. Wer auch. Meine Stammfreier sind schon lange zu jüngeren Kolleginnen gewechselt und Aufpasser habe ich keinen. Lohnt in meinem Alter nicht mehr, ist der allgemeine Konsens. Mir auch recht, kann ich die paar Piepen behalten. Seit ich das teure Zimmer im Laufhaus nicht mehr bezahlen kann, stehe ich buchstäblich auf der Straße. Bei meinen Eltern durfte ich mich nicht mehr blicken lassen, nachdem ich das geworden war, was Bernhards Mutter vor vielen Jahren bereits in mir gesehen hatte obwohl ich damals noch Jungfrau war: Eine Nutte. Und nun nicht einmal mehr das. Die meisten Männer fahren achtlos an mir vorüber. Fast niemand nimmt die von den billigen Plätzen, fast alle wissen, daß weiter hinten immer noch was Besseres kommt. Mir ist kalt. So kalt. Es ist November in meinem Herzen, obwohl wir erst Mitte Juni haben. Meine Füße schmerzen und ich habe noch keinen Pfennig verdient heute.

In meiner Handtasche habe ich mittlerweile eine erkleckliche Anzahl veilchenblauer Pillen aufgespart. Vielen Dank Dr. P. aus Göggingen. Bald ist es soweit. Bis dahin genieße ich den Gedanken, allen Freiern, die ohne Gummi wollen, und das sind die meisten, meine seit dem letzten Bockschein erworbenen STDs weiterzugeben. Ihre Ehefrauen täten mir leid wenn ich noch zu tieferen Empfindungen fähig wäre. Aber am Ende des Tages muß schließlich jede selber schauen wo sie bleibt.


















Sonntag, 5. November 2023

Allergisch gegen Engel



''Hey du alte Hexe, jeden Tag hier rumbetteln und dann teuren Schmuck kaufen oder was?'' Pöbelnd rempelte mich der Junge an, packte mich gar am Arm, fühlte sich wohl stark, von seinen Kumpels umgeben, alle in zerrissenen Jeans und Kapuzenpullovern, wandelnde Klischees. Wortlos machte ich mich los und verschwand in der Menge am unteren Stadtgraben. Hatte keine Lust auf lange Diskussionen. Was wissen denn die Menschen überhaupt voneinander? Nichts. Genau garnichts.

Den Juwelier und mich verband eine langjährige Freundschaft. Einst war ich eine gute Bekannte seines Vaters gewesen, der mich damals auch vor Gericht vertreten hatte, bei meiner Scheidung. Den Sohn hatte ich aufwachsen sehen und nachdem sein Vater gestorben war, hatte er in mir eine mütterliche Freundin gefunden. Seine eigene Mutter war bei der Geburt gestorben. Damals war es nicht üblich gewesen, zur Entbindung in ein Krankenhaus zu gehen.

Gerne saß ich mit ihm bei einer dampfenden Tasse Tee im gemütlichen Hinterzimmer, wir würfelten um Schillingmünzen, lachten und erzählten uns alte Geschichten, immer wieder dieselben. Kunden betraten den Laden nur selten, das meiste lief mittlerweile online. Die Geschäftsabwicklung überließ er ohnehin fast zur Gänze seinem Angestellten.

''Vertraust du ihm denn wirklich so sehr?'', hatte ich einmal gefragt. ''Schließlich könnte er jederzeit das eine oder andere kostbare Teil beiseiteschaffen.'' Er lächelte fein und antwortete einfach: ''Ja.'' Da wußte ich Bescheid und seither bekamen die beiden von mir jedes Jahr Socken mit Herzchen zu Weihnachten, die sie verschämt beiseite räumten und niemals trugen. Manchmal habe ich einen etwas schrägen Humor.

Einmal schenkte er mir einen silbernen Engel zum Umhängen. Leider reagierte meine Haut ziemlich gereizt obwohl es sich um echtes Silber handelt, daher kann ich ihn nur über der Kleidung tragen. Was im Sommer etwas blöd ist, du kannst schlecht die Leute anbetteln und ihnen gleichzeitig solch einen wunderschön gearbeiteten Schmuck vor die Nase hängen. 

Nicht selten möchte man mir helfen, mich beispielsweise zum Essen einladen, mich gar mit nach Hause nehmen und mir dort einen Job verschaffen. Auch auf diese Art von Angeboten reagiere ich allergisch. Eh lieb gemeint, aber ich schätze meine Eigenständigkeit.

Warum ich überhaupt Betteln gehe? Sag ich nicht. Vielleicht weil es mir Spaß macht? Vorzugsweise bin ich in der Altstadt unterwegs, weil sich dort die Touristen aufhalten. Woran ich die erkenne? Ganz einfach. Du lächelst eine Person an - wenn dir dann ein herzhaftes ''Griaß di'' entgegenschallt dann ist es KEIN Tourist. Wenn sie dich jedoch nur verständnislos anschauen, dann schon. Dann kann man bedenkenlos losbetteln, den Auswärtigen begegnet man meist nur einmal im Leben.

Abends, wenn dann die Münzen aus dem Portemonnaie purzeln, breitet sich eine stille Zufriedenheit in mir aus. Manchmal gehe ich dann noch etwas spazieren, in meinem Alter braucht man nicht mehr soviel Schlaf und ich mag es, in der Dunkelheit herumzulaufen, außerhalb des Ortes, wo die Wege nur vom Mondschein beleuchtet werden statt von grellen Straßenlaternen. Still ist es dann in der Natur, nur die Tiere sind noch wach, hier ein Rascheln, dort ein dumpfes 'Uhuuuuuuu', alles so vertraut, so heimelig, am liebsten legte ich mich in warmen Sommernächten an den See um dort im Schutz des alten Findlings zu schlafen. Was ich mir jedoch mittlerweile verkneife, denn im Morgenlicht betrachtet ist es dort auch nicht mehr wirklich angenehm. Schimmelige Brotreste, von unermüdlichen Entenfütterern ins Wasser geworfen und von den Wellen wieder ans Ufer getragen, alte Schuhe (ob die jemand geangelt und dann weggeworfen hat?), neuerdings sogar Tüten von McDonalds voller ekliger, fettiger Essensreste. 

Manchmal fühle ich mich einsam. Es gibt durchaus diese Momente, in denen ich gerne eine andere Person bei mir zuhause hätte. Besonders an langen Winterabenden, an denen ich einerseits froh war, eine eigene kleine Wohnung zu haben und nicht in einer Notunterkunft oder gar draußen schlafen zu müssen, mich andererseits sehr alleine fühlte. Schließlich konnte ich nicht jeden Tag zum Juwelier gehen und dort um alte, abgegriffene Münzen würfeln. Man darf Freundschaften nicht überstrapazieren. Schließlich ißt man auch nicht jeden Tag Mandeltörtchen.

Einen Garten hätte ich auch so gerne gehabt. Um allerlei Kräuter und hübsche Blumen anzupflanzen, die es sonst so bei uns nicht gibt. Auf Kreta hatte ich beispielsweise einmal wunderschöne Nieswurz gesehen. Wie herrlich die geblüht haben! Der Geruch würde mich dann immer an diesen Urlaub erinnern, damals mit ihm, Roger, meiner ersten und einzigen großen Liebe. So jung waren wir gewesen und so unbeschwert, was haben wir ausgelassen gelacht und uns gegenseitig mit Staunen immer wieder neu entdeckt. Jeden Abend saßen wir irgendwo am Lagerfeuer, jemand zupfte auf seiner Gitarre, wir tranken Wein aus großen Flaschen und liebten uns die halbe Nacht.

Aber wie das Leben so spielt war ich bald mit einem Anderen verheiratet, da Roger sich von mir getrennt hatte und daheim in Frankreich wieder mit seiner Jugendliebe zusammen war. Mein Herz war gebrochen, mir war somit einer so recht bzw. so egal wie der andere. Als ich mir eingestehen mußte, daß mein Angetrauter keineswegs der Mann von Welt war als der er sich vor mit aufzuspielen pflegte sondern ein gemeiner Narzisst, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckte, war es zu spät. 

Seit der Scheidung lebe ich zurückgezogen, arm aber glücklich in meiner kleinen Wohnung, jeder Tag ist ein Geschenk, das ich bis zur Neige auskoste. Ich erwarte nichts mehr, alles Schöne was mir begegnet ist mir ein Grund zur Dankbarkeit und Freude.

Randnotiz in der Tiroler Tageszeitung vom 23.11.2010: Als Opfer eines gewalttätigen Raubüberfalles wurde gestern leblos in ihrer Wohnung in Kufstein die arbeitslose Marianne B. aufgefunden. Gerüchten zufolge hätte die Tote massenweise Geldscheine in ihrem Kopfkissen versteckt, welche sich die Räuber wohl holen wollten. Wie groß muß ihr Erstaunen gewesen sein, als sie lediglich Hunderte von Spendenquittungen für 'Evita' (Frauen in Not) in den Händen hielten. Zwei Verdächtige wurden gestern festgenommen. Es gilt die Unschuldsvermutung.