Ein Jahr ist schnell vorbei, dachte Lukas. Danach kann ich zurückkehren und neu anfangen. Auch das gute Gehalt lockte. Also die Gelegenheit ergreifen, alles Elend zurücklassen, ab nach Alaska!
Alles was er vermissen würde, war die Torte von Tante Agathe. Dafür würde es in der Arktis sicherlich jede Menge Fisch geben. Lukas mochte Fisch. In seinem oberbayerischen Heimatdorf gab es den nur leider niemals frisch zu kaufen.
Das Jahr ging rasch vorüber, Lukas aß noch immer sehr gerne Fisch und vermißte nichts. Nicht einmal die Torte seiner Tante oder gar die Tante selbst. Er hatte seine Ruhe, eine Haushälterin, die die gut geheizte Wohnung sauberhielt und hervorragend kochte. Er verdiente eine Menge Geld und liebte es, in seiner Freizeit stundenlang von seinem Fenster aus die Robbenfamilien zu beobachten, die sich auf den Schollen des Treibeises tummeln. Blau war der Himmel und schwarz seine Seele.
Tante Agathe hatte während der ersten Monate fleißig geschrieben, hatte auch von Josephine erzählt und wie schlecht sie mit dem Tod des Töchterleins zurechtkam. Er wollte davon nichts hören. Hätte das Kind der Mutter gehorcht, wäre es nicht unter den Traktor gekommen. Ihm die Schuld für das Resultat der seiner Ansicht nach viel zu laschen Erziehung Josefinens zu geben, war schlicht eine Unverschämtheit.
Alleine der Gedanke an die tobsüchtig vorgebrachten Vorwürfe seiner Angetrauten brachten ihn noch immer an den Rand des Wahnsinns. Er hatte keinen einzigen Brief beantwortet und nach einer Weile verebbte die Postflut. Josefine selbst hatte sich kein einziges Mal gemeldet, sich für die mehr als großzügigen Unterhaltszahlungen bedankt oder wenigstens eine Weihnachtskarte geschrieben.
Sein Vertrag wurde weiter verlängert. Jahr um Jahr um Jahr. Kollegen kamen und gingen. Man nannte ihn 'Old Luke' und hinter seinem Rücken auch einmal den 'grumpy old Bavarian'. Lukas war das egal. Seine Forschungsergebnisse über die Eigenschaften furchtbar geheimer Fluide waren von den Vorgesetzten mittlerweile mehrfach mit Anerkennung bedacht worden, seine Mitarbeiter und er hatten wenig Berührungspunkte.
Eines Tages erhielt er ein amtlich aussehendes Schreiben das ihn davon in Kenntnis setzte, daß Zahlungen an die Ehefrau von nun an nicht länger geleistet werden mußten, sie hatte sich neu verheiratet. Bald darauf trudelte eine Todesanzeige ein. Tante Agathe war gestorben.
Kurz regte sich Widerstand in seiner Brust: Sollte er heimkehren und es denen heimzahlen, die damals mit dem Finger auf ihn gezeigt hatten? Reich genug wäre er mittlerweile. Alle Äcker könnte er aufkaufen und ihnen ein Einkaufszentrum vor die Nase stellen. Oder ein riesiges Asylwerberheim. Oder 30 Hochhäuser mit lauter Sozialwohnungen.
Diese rachsüchtigen Gedanken verflogen jedoch so rasch wie sie gekommen waren. Im Sommer hörte er den Gletschern beim Schmelzen zu und im Winter saß er in der gemütlichen Stube und hoffte, daß die Internetversorgung stabil bliebe. Seit Pacific Dataport ganz Alaska mit einem Internetzugang versorgte, hatte auch der ewige Winter seinen Schrecken verloren. Die trockene Kälte war ihm angenehmer als die feuchte Hitze der bayerischen Sommer. So verging die Zeit und eines Tages traf erneut ein amtliches Schreiben ein. Lukas hatte die erforderliche Anzahl an Arbeitsjahren abgeleistet und durfte in Rente gehen. Diese Mitteilung traf ihn wie ein Schlag. Seine Arbeit war sein Leben! Wenn man ihn hier nicht mehr haben wollte ... war seine Existenz absolut nutzlos geworden!
Einige Tage hing er unentschlossen in seiner Wohnung herum. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte er sich krank gemeldet.
Am vierten Tag sah ihn ein Kollege mit lediglich einem kleinen Rucksack die Forschungsstation verlassen. Kurz zögerte er. Sollte er Old Luke nacheilen und ihn fragen, wo er hinwollte? Rein aus Sicherheitsgründen? Dann schüttelte er den Kopf. Sollte der alte Grantler doch machen was er wollte, was ging es ihn an. Vielleicht wollte er vor seiner Pensionierung einfach noch eine Abschiedsrunde drehen. Ob er wohl Kuchen ausgeben würde? Alkohol war zwar verboten, wurde aber doch immer wieder ins village geschmuggelt. Vielleicht war er auf Besorgungstour?
Bald hatte der Kollege ihn vergessen und Lukas wanderte weiter in der eisigen Kälte. Stunde um Stunde stapfte er so dahin, immer wieder einen Schluck aus einem kostbaren, heimlich eingeschleusten Flachmann nehmend. So würde es rasch gehen. Er würde nicht lange leiden müssen.
Seine Schritte wurden kürzer, er taumelte, fiel in den Schnee. Blieb liegen. Ihm war nicht mehr kalt. Müde schloß er die Augen. Wer ihn wohl drüben erwarten würde?
Als er erwachte lag er dicht neben einer warmen Frau. War er im Himmel gelandet? Vorsichtig hob er den Kopf. Die Frau lächelte ihn an. ''English?'' fragte sie. Offenbar doch kein Engel sondern eine Inupiat-Ehefrau, die ihm ihr Ehemann großzügig zur Verfügung gestellt hatte, um den Gast vor dem Erfrieren zu bewahren.
''Sledge dogs sniffed dying man, we brought man home to save life.'', erfuhr er später. So hatte man ihm also das Leben gerettet. Lukas war nicht glücklich.
Was er denn könne, wurde er am nächsten Tag gefragt. Verwirrt überlegte er was er antworten sollte. Mit seinen Forschungen war den Leuten hier nicht gedient, umgekehrt hatte er wenig Ahnung von deren Kultur, sprach ihre Sprache nicht. Inwieweit könnte er hilfreich sein?
''Do you like dancing?''
Tanzen? Er? Der Ameranger Stolperkönig? Sicher nicht!
Unbeirrt lächelnd brachte sein Engel vier lange Stäbe herein, vier Männer folgten mit riesigen, mit Tierhaut bespannte Scheiben. Lachend und jauchzend begannen die Männer zu singen und dabei die Stangen rhythmisch auf ihre straff gespannten Trommeln und deren Rahmen zu schlagen während der Engel ihn mit Handbewegungen aufforderte, zu tanzen.
Zefix. Nun war guter Rat teuer.
Diese Leute hatten ihm das Leben gerettet. Das mindeste was er im Gegenzug tun konnte war, ihnen eine Freude zu bereiten. Und wenn sie ihn unbedingt tanzen sehen wollten, nun gut, so sollte es sein. Unbeholfen begann er, sich im Kreis zu bewegen wie ein abgehalfterter Zirkusbär. Mit der Zeit jedoch erinnerte er sich an seine Jugend, die Abende mit der Feuerwehr - zögerlich weitete er seine Schritte aus, schlug sich auf die Schenkel, auf die Fußsohlen, stieß ein Juchhei nach dem anderen aus ... seine neuen Freunde waren begeistert!
Fast jeden Abend durfte er nun im Gemeinschaftszelt vortanzen zur grenzenlosen Freude des gesamten Volkes. Lukas wurde zur Attraktion der gesamten Küste und lebte noch ein langes, erfülltes Leben bis er im Alter von 81 Jahren unter großen Trauerbezeugungen zu Grabe getragen wurde.
Bei den traditionellen Tanzdarbietungen der Ureinwohner Alaskas kommt es noch heute immer wieder zu erstauntem Geraune im Publikum wenn die jungen Männer dort auf einmal anfangen, einen original bayerischen Schuhplattler vorzuführen.
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