Das Wichtigste war der Bus. Der Bus um 22.15. Den mußte man bekommen, um rechtzeitig vor 23 Uhr wieder in der Klinik zu sein. Wer später kam, mußte den Nachtpförtner herausklingeln, bekam einen Eintrag und mußte sich bei der nächsten Therapiestunde vor der Psychologin rechtfertigen. Wir wurden zwar nicht rund um die Uhr bewacht (ich war wegen guter Führung nicht mehr in der geschlossenen Abteilung) und es wäre theoretisch auch möglich gewesen, sich morgens unauffällig ins Haus zu schleichen als wäre man bei einem Spaziergang gewesen, aber die Insassen beobachteten sich gegenseitig mehr als scharf. Man hatte sonst nicht viel zu tun, in dem kleinen Ort gab es nur die Straßenunterhaltung, die man sich selber machte, der Tratsch blühte und gedieh also. Konnte ich nicht brauchen.
So hielt ich meine Ausflüge stets geheim und sorgte dafür, daß ich pünktlich wieder zurück war. Sicherlich war es legitim, einen Kurschatten zu haben, doch hatte ich meine Gründe dafür, daß ich mir diesen niemals unter den anderen Klinikbewohnern suchte sondern in einem der umliegenden Dörfer. Gelangweilte Touristen gab es dort zuhauf. Urlaub am Land. Klang wunderschön. Nach Entspannung, Ruhe und Erholung. Doch spätestens am dritten Tag, mit nichts Spannenderem in Aussicht als die ewig gleichen Wanderwege und anschließendem Herumkramen in der spärlich bestückten Hausbibliothek mit musikalischer Untermalung durch im benachbarten Stall muhende und kettenrasselnde Kühe, wuchs die Langeweile ins Unerträgliche und ich konnte sie pflücken wie überreife Beeren. Sie fielen mir praktisch in die Hand.
Heute war ich wieder hungrig. Hungrig in zweifacher Hinsicht. Erstens einmal überhaupt. Es war wieder an der Zeit.
Zweitens weil ich deshalb das Abendessen hatte ausfallen lassen. Es hatte Thunfisch gegeben und ich wollte nicht aus dem Mund riechen wenn ich auf Beutezug ging.
Natürlich hätte ich mir ein Fahrrad besorgen können. Es gab im Ort welche zum Ausleihen, ich wäre flexibler gewesen. Ich hasse es, ständig auf die Uhr sehen zu müssen, vor allem weil ich nie eine trug. Uhren waren schädlich. Vor allem Armbanduhren. Niemals würde ich mir so ein Teufelsding um den Arm schnallen. Ich war ja nicht wahnsinnig.
Aber selbst auf einem Fahrrad mit extremem Leichtgang wäre es unnötig beschwerlich gewesen, die hügelige Gegend zu befahren. Obendrein waren viele Wege nicht befestigt und man mußte sich über steile Schotterpisten und wurzelige Waldwege quälen. Mit dem Fahrrad ein Ding der Unmöglichkeit. Daher zog ich den Bus und die vom Fahrer starrsinnig eingeforderten Abfahrtszeiten der meist mühsamen Strampelei vor.
Oft blieb ich beim kleinen Flugplatz stehen und bestaunte die aus der Nähe doch recht wuchtig wirkenden Teile, die tagsüber so leicht am Himmel fliegen konnten als wären sie von einem gelangweilten Engel aus einem gefrorenen Seufzer gefaltet und quasi nebenbei im Vorbeigehen von einer Wolke fallen gelassen worden.
Rudi war Pilot. Lässig lehnte er am Geländer und schüttelte seine langen Locken aus. Den Helm warf er achtlos in eine Ecke während er langsam auf mich zukam. Ein Mann im Eroberungsmodus. Irgendwie rührend. Geduldig ließ ich seine tausendmal gehörten Worte über mich ergehen. Schließlich wollte ich mein Opfer nicht verschrecken. Zwar hatte ich gelernt, mich von den Einheimischen fernzuhalten, doch Rudi war frisch aus München zugezogen. Man würde ihn nicht vermissen.
Langsam schlenderten wir um den See, ich gestattete ihm, seinen Arm um meine Schultern zu legen, wobei seine Hand wie zufällig meine Brüste streifte. Gähn. Rudi war wirklich zu berechenbar. Manchmal hatte ich ja wirklich Lust auf meine Auserwählten. Es tat gut, das Begehren in ihren Augen zu sehen, auch wenn ich wußte, daß es nicht mir galt sondern lediglich der aufsteigenden Lust geschuldet war, die ihnen die Sinne vernebelte und um derer Befriedigung Willen sie genauso gerne mit einer bedeutend älteren und weniger hübschen Frau als ich es war, vorlieb genommen hätten.
Auch ohne auf die Uhr zu sehen wußte ich, daß die Zeit gekommen war. Listig führte ich den Herrn Piloten zu einem geeigneten Baum, holte die Stricke aus meinem Rucksack und begann, ihn - meine Tätigkeit nur für gezielte Streicheleinheiten unterbrechend - an den Baum zu fesseln, was er sich auch ergeben gefallen ließ. Der starke Mann wollte bezwungen werden. Konnte er haben. Als ich ihm einen seiner Socken als Knebel in den Mund steckte, stöhnte er begeistert auf. Fast tat er mir leid. Aber nur fast. Mein gesamtes früheres Leben lang hatte ich Mitleid mit den Männern gehabt, hatte versucht, sie zu verstehen und ihr Verhalten immer wieder entschuldigt. Aber damit war jetzt Schluß. Mein ist die Rache, sprach der Herr, und in den Zeiten der Emanzipation war es an uns Frauen, ihm dabei tatkräftig zur Hand zu gehen.
Es war schnell vorüber. Er hatte sich nicht gewehrt, wie auch, fast wäre ihm sogar noch einer abgegangen. Bah. Es war eh schwierig genug, keine Spuren auf meiner Kleidung oder meinem Körper zu hinterlassen. Erklär mal einem Mann, wieso du im Sommer Handschuhe trägst. Latexhandschuhe, bei der allwöchentlichen Vorstellung im Oberarztbüro geklaut. Während virologisch gesehen unbedenklicher Jahreszeiten wirklich nur mit Perversitäten zu erklären. Für welche die Männer erfreulich leicht zu haben sind. Mal was ausprobieren, und wenn es nur das eine Mal ist? Ja gerne!
Nachdem ich mein Markenzeichen, die üblichen drei roten Blutstropfen, wie im Märchen, zu Boden hatte fallen lassen, machte ich mich aus dem Staub.
Nach mir die Geier.
Bald würde ich mir einen neuen Ablageort für die gebrauchten Handschuhe ausdenken müssen, überlegte ich mir, als ich im Bus saß und wieder Richtung Klinik fuhr. Der Abfallkübel vor dem Oberarztbüro stand einfach zu verlockend im einsamen Gang und es hing nirgends eine Kamera. Irgendwann würde sich bestimmt jemand fragen, wozu der Oberarzt einer psychiatrischen Klinik so oft Latexhandschuhe brauchte und wieso er die im Gang entsorgte und nicht im Mistkübel seines Büros. Die Beweise wären erdrückend und seine Zelle eng. Und mein Ablageort wäre nicht mehr zu gebrauchen. Nichts als Ärger mit den Männern, wenn man ihnen nicht stets gedanklich einen Schritt voraus war.
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