Manchmal bin ich einfach zu gutmütig. Immer wieder hatte ich sie vor der herannahenden Katastrophe gewarnt. Hatte sie eingeladen, mit mir zum Dorfladen zu gehen und mir zu helfen, die Einkäufe den Berg hinaufzutragen. Hatte sie in meine Pläne eingeweiht und ihr gar meine Höhle gezeigt in die ich übersiedeln wollte wenn es soweit war.
Nun war es soweit. Und sie stand da. Verschwitzt vom langen Aufstieg, bleich und hohläugig.
Nun sollte ich meine knappen Vorräte mit ihr teilen.
Nun wollte ich aber nicht mehr. Sie hatte ihre Chance gehabt.
Verstohlen sah ich mich um bevor ich die Tote mit einem Tritt den Abhang hinunterbeförderte. Hatte sich halt jemand verlaufen, war gestürzt und dumm gefallen. Pech gehabt. Bei dem was momentan unten los war, würde es Monate, wenn nicht Jahre, dauern bis man die Leiche fände.
Für viele Menschen war ein Leben ohne Telefon undenkbar. Diese würden als erstes sterben. Der Rest würde noch versuchen, in den kalten Wohnungen zu überleben. Irgendwie. Ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Einkaufsmöglichkeiten. Man würde experimentieren, verzweifelt probieren, sich noch ein paar Wochen irgendwie durchzuschlagen. Die Scheiße aus dem Fenster kippen wie früher im Mittelalter. Dann würden die Ratten kommen, die Seuchen, von parotitis epidemica (Ziegenpeter) bis zur Ruhr und dem Typhus, und niemand wäre mehr da, der auf Knopfdruck zur Hilfe eilen könnte. Jeder war sich mittlerweile selbst der Nächste, selbst der Pfarrer war sicherlich längst geflohen, solange noch Züge fuhren.
Mich wunderte es tatsächlich, daß nicht mehr Menschen auf die Idee gekommen waren, sich hier oben eine Notunterkunft einzurichten. Es gab einen kleinen Bach, somit immer frisches Wasser, im Wald lebten jede Menge Tiere die man bei Bedarf jagen konnte. Wenn man wußte wie es geht und einen die Förster nicht erwischten ... doch auch diese hatten aktuell sicherlich anderes zu tun als hinter einem einsamen Wilderer herzuspionieren.
Mir war kalt. Vielleicht hätte ich sie nicht gleich umbringen sollen. Eine Weile bei Laune halten, angekettet natürlich damit sie mir nicht alles wegfraß solange ich unterwegs war, und wenn es eng wurde mit den Essensvorräten ...
Ich hatte mal ein Buch gelesen, in dem im Detail beschrieben wurde, wie eine Gruppe von Menschen einen Flugzeugabsturz im Urwald überlebte.
Gibt's halt keine Kochrezepte im Internet, aber Internet hatte sich eh erledigt, von daher: Wurscht.
Eigentlich ziemlich kurzsichtig von den Verantwortlichen. Auf der einen Seite darauf hinarbeiten, daß mehr und mehr alltägliche Funktionen von KI übernommen wurden, auf der anderen Seite aber nicht daran denken, daß diese KI-Vorrichtungen auch ziemlich viel Energie verbrauchten und unsere Stromversorgung dies auch packen können mußte. Während die Leute noch an die Geschichten vom Klimaschutz glaubten und lauthals nach Energiewende schrien, schwächelte das Stromnetz bereits gewaltig. Da halfen drei Windräder mehr oder weniger auch nicht mehr dazu.
Immer wieder kam es zu Ausfällen in einzelnen Gebieten. In der Stadt waren die Polizisten zum großen Teil damit beschäftigt, den Verkehr zu regeln, weil die Ampeln ausgefallen waren, so daß die Ausgestoßenen der Gesellschaft in aller Ruhe die Geschäfte ausräumen und sich mit der Beute davonmachen konnten. Es war zwischendrin schon ein bissl eine Endzeitstimmung gewesen, aber nachdem die Ausfälle nie lange dauerten, nahm sie kaum jemand besonders ernst.
Meinereiner hatte sich jedenfalls Gedanken gemacht und begonnen, sich mit Nützlichem einzudecken. Feuerstahl und so. Man wußte ja nie.
Sinnend saß ich vor meiner Höhle und blickte ins Tal hinab. Viel war nicht zu sehen. Es hatte geregnet und die meisten Dorfbewohner saßen wohl in ihren Häusern. Ohne Heizung trocknet es sich nur schwer, da will man nicht naß werden.
Auf einmal kam die Sonne hinter den Wolken hervor und es bildete sich ein perfekter, formschöner Regenbogen über dem gegenüberliegenden Bergmassiv. Ich stand auf und glotzte hinüber wie ein Depp. Wie konnte es in dieser kaputten, von Angst und Gewalt beherrschten Welt noch so etwas Schönes geben? Was wollten mir die Götter damit sagen?
War ich doch noch nicht völlig vom Guten abgeschnitten?
Weinend sank ich auf die Knie und betete um meine Seele.
Die Hoffnung hatte mich wieder in ihrem grausamen Griff.
Mit einem Ruck erwachte ich. Mein Kopfkissen war naß vor Tränen und die Vollmöndin beleuchtete mein Schlafzimmer.
Alles war noch da.
Ich hatte geträumt.
Draußen liefen Betrunkene auf dem Heimweg vom Dorfkrug am Gartenzaun vorbei, ihr Gegröhle hatte mich wohl geweckt.
Statt zu schimpfen wie ich es sonst wohl getan hätte, fühlte ich Dankbarkeit in mir aufsteigen. Für das Aufwecken, aber auch für den Traum.
Meine Oma hatte immer gesagt, erst wenn man etwas verloren hat, weiß man es so richtig zu schätzen. Wie recht sie doch gehabt hatte. Gleich morgen würde ich um ein Ehrenamt im Seniorenstift anfragen. Es war Zeit. Zeit für gelebtes Miteinander. Zeit für eine wunderschöne, neue Welt.
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