Donnerstag, 18. Juli 2024

Zu spät



Endlich Sommerferien! Das bedeutete, die gesamte Familie saß mit vollgepacktem Kofferraum im Auto Richtung Blackpool. Holiday by the Sea. Same procedure as every year. Und wie jedes Jahr nervten meine kleinen Brüder total, schwiegen sich meine Eltern an und blickte ich gelangweilt aus dem Fenster und versuchte, sie alle miteinander zu ignorieren.

Und doch sollte dieses Jahr alles anders werden. Das begann schon mit der Unterkunft. Mein Vater hatte es aus unerfindlichen Gründen leider versäumt, rechtzeitig zu buchen, und so war 'unsere Wohnung', in der wir seit ich denken kann unsere Ferien verbracht hatten, leider schon vergeben. Fluchend und mit zornrotem Gesicht hatte er sich durch den Katalog gearbeitet, zweifellos die Telefongebühren innerlich vom Zimmerpreis bereits subtrahierend, bis er etwas gefunden hatte das nahe genug am Meer lag, groß genug für fünf Leute und doch einigermaßen günstig war.

So kam es, daß wir uns nach der langen Fahrt vor einer reichlich zweifelhaften Hütte wiederfanden. Abgeranzte, fleckige Fassade, großflächig mit Efeu überwuchert, an allen Ecken bröselte der Putz. Ein alleinstehendes, uraltes Haus wie aus einem Märchenbuch gepurzelt, hineingepflanzt wie ein nachträglicher Gedanke in dieses weitläufige Grundstück - und vom Meer weit und breit nichts zu sehen. Ich fand's toll. Meinem Vater hingegen fiel das Kinn auf den Boden und meine Mutter, die mit den Koffern hinter ihm hergedackelt war, zog prophylaktisch schon einmal den Kopf ein, in Erwartung eines Donnerwetters.

Glücklicherweise jedoch war die Innenausstattung überraschend modern und ließ keine Wünsche offen. Hochmodernes Bad mit Einhebelmischern an Wasserhahn und Dusche - nix mit British Plumbing, wo du stundenlang an zwei Rädchen drehst und das Wasser dennoch immer entweder zu kalt oder zu heiß ist. Drei Schlafzimmer, was bedeutete, daß ich nicht mit meinen Brüdern in einem Raum schlafen mußte, ein gemütlich eingerichteter Salon und eine supergroße Küche. Die war mir zwar relativ wurscht aber meine Mutter strahlte aus allen Knopflöchern und komponierte zweifelsohne bereits die erste Familienmahlzeit im Kopf.

Mit meinen mittlerweile 16 Jahren hatte ich jetzt nicht mehr unbedingt das Bedürfnis, den gesamten Tag mit meiner Familie zu verbringen, daher brachen Eltern und Brüder an den meisten Tagen alleine auf um an den Strand zu fahren, während ich die nähere Umgebung erkundete, mein Taschengeld im Gemischtwarenladen auf den Kopf haute und vor allem sehr viel las. Zu meiner enormen Freude hatte ich im Keller des Hauses einen ungehobenen Schatz gefunden: Eine ganze Truhe voller alter Zeitschriften, für mich alleine!

So träumte ich über Liebesgeschichten, schmunzelte über uralte Ratgeberseiten und erfuhr mit Entsetzen von einem Buben, der einen Hochspannungsmast hinaufgeklettert war und dort eine geschlagene halbe Stunde bei VOLLEM BEWUSSTSEIN hing bis die Feuerwehr endlich kam und ihn herunterholen konnte. Ich konnte die verbrannte Haut förmlich riechen und war mir sicher, diesen Artikel nie mehr zu vergessen zu können.

Mein Leben war also erfüllt und ich war glücklich. Bis zu jenem Abend, an dem ich ihm das erste Mal begegnete. Gut, begegnen konnte man es nicht direkt nennen. Eigentlich hab ich kaum etwas von ihm gesehen. Es war bereits dunkel und ich war noch einmal die Straße hinuntergegangen, ans Ende des Dorfes, von wo aus man das Meer immerhin erahnen konnte, als er nur wenige Meter entfernt an mir vorbeijoggte. In aller Ruhe und Gemütlichkeit ... und splitternackt. Ich war fasziniert.

Natürlich habe ich den gesamten nächsten Tag darauf hingefiebert wie ich es anstellen könnte, daß mir mein unbekannter Nackedei noch einmal über den Weg liefe und was ich dann zu ihm sagen könnte, wenn - FALLS - er stehenbleiben und sich mit mir unterhalten würde. Am Abend stand ich wieder auf der ansonsten verlassenen Dorfstraße und hielt Ausschau. Vergebens. Kein Jogger weit und breit zu sehen. Plötzlich tappte mir jemand von hinten auf die Schulter. Japsend fuhr ich herum: Da stand er vor mir. Bekleidet. Zwar nur mit einer Badehose und einem Unterhemd, aber immerhin. Sah grinsend auf mich herab und fragte: Wartest du auf jemanden?

Wäre ich schlagfertig gewesen, hätte ich so etwas sagen können wie: Jetzt nicht mehr, der Märchenprinz ist soeben aufgetaucht. Oder: Kann schon sein. Magst mit mir zusammen warten? Aber natürlich stand ich nur mit offenem Mund da und glotzte. Wenig attraktiv. Immerhin schien es ihn kaum zu stören, denn er drehte sich nicht sofort um und rannte davon, sondern fragte höflich, ob er mich nach Hause begleiten dürfe. Unterwegs nahm er meine Hand und erzählte mir allerlei lustige Geschichten aus seiner Heimat. Eine wandelnde Hörspielkassette. Er hatte ein paar Tage in Frankreich Urlaub gemacht und gedachte nun, auf dem Heimweg einen Bogen durch England zu schlagen bevor er zuhause sein Studium aufnahm. Er war Deutscher. Mein Vater würde durchdrehen. Seine Familie stammt aus Coventry und wir wissen alle, was das bedeutet: Gründliche Vernichtung fast der gesamten Stadt seitens der Deutschen Luftwaffe.

Das Englisch meines German Flitzers war holprig, aber seine Küsse waren tausendmal schmackhafter als selbst die teuersten Süßigkeiten aus dem Dorfladen. Ich konnte den nächsten Tag kaum erwarten, denn wir hatten ein richtiges Rendezvous! So träumte ich von langen Spaziergängen übers Land, oder einem Tag in den Amusement Arkaden, wo er nur wenige gezielte Schüsse brauchen würde um mir mit diesem unnachahmlichen Zwinkern in den Augen den großen Teddybären schenken zu können. Schließlich war er Deutscher, die kannten sich aus mit Schießen.

Was war ich doch jung und unerfahren. Möglicherweise hatte er mich tatsächlich gemocht, sonst hätte er sich kein zweites Mal mit mir verabredet. Doch sobald er merkte, und das dauerte keine drei heimlich in unserem Garten verschmuste Stunden, daß ich mir bereits ein ganzes Leben mit ihm an meiner Seite vorzustellen begann, zog er beiläufig erst seine Hand zurück und dann sich selbst, einen wichtigen Termin vortäuschend, mich auf den nächsten Tag vertröstend ... und weg war er. Für immer. Abend für Abend stand ich am Ende der Straße und wartete, doch er kam nie mehr vorbei. Die Besitzer des Häuschens fanden nach unserer Abreise eine Truhe vollgeweinter, matschiger Zeitschriften in ihrem Keller. Ich war untröstlich.

Jahre später sah ich ein Bild von ihm im Guardian. Ich erkannte ihn sofort. Er war ein international bekannter Fotograf geworden, der anläßlich einer Ausstellung aktuell in London weilte, und die Frau an seiner Seite strahlte ihn verliebt an. Die Glückliche. Was hatte sie, das ich nicht hatte? Wie hatte sie ihn zum Bleiben bewegen können? Fragen, auf die ich niemals mehr eine Antwort bekommen würde. Immerhin erfuhr ich auf diesem Wege zumindest seinen Namen, den er mir nie gesagt hatte. Wilhelm. Mein göttlicher, einzigartiger Wilhelm. Und wieder flossen die Tränen als seien sie nie versiegt gewesen.

Ich war selbst erschüttert, wie sehr mich dieser Artikel aufgewühlt hatte, wie stark der Schmerz noch immer war und wie unüberwindlich er schien. Natürlich hatte es andere Männer gegeben. Aber nie für lange und nie hatte ich jemandem mein Herz so schenken können wie ich es Wilhelm damals gerne geschenkt hätte. Und obwohl er es nicht annehmen mochte, hatte er dennoch einen Teil von mir mitgenommen auf seiner überstürzten Flucht. Einen Teil, der mir seither fehlte und ohne den ich kein erfülltes Leben zu führen in der Lage war. Wurde es nicht langsam Zeit, diese Farce zu beenden? Wozu die Quälerei, Tag für Tag für Tag in einem ungeliebten Job, und die darauf folgenden einsamen, schlaflosen Nächte, wenn die Sehnsucht doch unstillbar blieb? Weil der einzige Mensch, den ich dazu gebraucht hätte, fröhlich mit seiner Traumfrau durch die Weltgeschichte jettete und sicherlich keinen Gedanken mehr an die kleine, dickliche Engländerin verschwendete, die er damals, vor so langer Zeit, für 24 Stunden so glücklich gemacht hatte, daß es für ein ganzes Leben reichen mußte.

Draußen tobte ein Sturm, nichts Außergewöhnliches am Rande der Yorkshire Dales, als ich die über Monate zusammengesparten Schlaftabletten auflöste und mit Mangosaft zu einem flüssigen Brei verrührte. Hoffentlich würde ich sie unten behalten können und nicht mit einem Schlauch im Magen wieder aufwachen. Aber wer würde schon nach mir sehen und mich rechtzeitig finden? Diese Gefahr war ziemlich gering. Lange schon hatte ich aufgehört, auf WhatsApp alberne Guten-Morgen und Guten-Abend Grüße an meine wenigen noch verbliebenen Kontakte zu senden. Die meisten von ihnen machten sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.  Es war alles so sinnlos. Ich war bereit, zu gehen.

Kurze Zeit später lag ich auf meinem Sofa und spürte, wie mir die Sinne schwanden. 'Endlich', dachte ich und spürte eine unerwartete Erleichterung in mir aufsteigen. Nur noch ganz leise und entfernt hörte ich das Piepsen des Anrufbeantworters und die sonore Stimme eines Mannes, der mir mit starkem deutschem Akzent mitteilte, daß man meine Fotos auf flickr entdeckt hätte und mir gerne die Beteiligung an einer Ausstellung in London anbieten würde, da jemand abgesagt hätte. 'Zu spät,' dachte ich mit einem irren Aufflackern von Schadenfreude. 'Zu spät ...'







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