Sonntag, 28. Juli 2024

Der alte Zauberer Darfnix

Der alte Zauberer Darfnix saß vor seiner Hütte und brütete dumpf vor sich hin. In der Ferne hörte er, wie Skodefix mit seiner Axt auf einen Baum einhackte, und langsam löste sich eine Träne aus seinem rechten Auge. Wie gerne wäre er jetzt durch den Wald marschiert und hätte hinterher ein Bild davon gemalt, wie früher, als er noch viel unterwegs gewesen war und sogar die halbe Welt bereist hatte. Zwar war es um seine Zauberkünste nicht mehr so gut bestellt, aber ein bissl einen Ortswechsel bekam er noch immer problemlos hin, denn er hatte es, besonders im Winter, lieber warm, sonnig und gemütlich als kalt im Wald. Aber dieses Vergnügen war selten geworden. Früher, ja früher war er stundenlang, seine Eindrücke skizzierend, durch die fremden Gassen gelaufen. Er staunte, sah und malte. Seine Bilder hingen mittlerweile nicht nur überall im Haus, sondern auch im Schuppen und in den Häusern sämtlicher Bekanntschaften, da bei ihnen daheim schon lange kein Platz mehr war.

Ja, bei ihnen daheim. Darfnix war leider verheiratet. Leider deswegen, weil seine Frau ziemlich garstig war und ihm alles verbot, was ihm Freude machte. Spazierengehen, Bilder malen, Wein trinken, Freunde treffen. Alles verboten. 

So richtig schlimm war es mit der mißgünstigen Verbieterei eigentlich erst in letzter Zeit geworden. Bis vor wenigen Monaten hatte Darfnix doch mehr oder weniger seine kleinen Freiheiten gehabt und hin und wieder sogar ein Verhältnis nebenzu genossen. Seiner Frau hatte er selbstverständlich davon erzählt, denn Darfnix war ein einfacher, ehrlicher Mann und hatte keine Geheimnisse vor seinem geliebten Eheweib. Denn ja, er liebte sie nach all den gemeinsam verbrachten Jahren noch immer heiß und innig. Was leider nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Zwar kochte seine Angetraute brav, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte, aber das Haus mußte Darfnix weitgehend alleine sauberhalten und auch für den Erhalt der Kutsche, welche für gelegentliche Ausfahrten in der näheren Umgebung bereitstand, war er alleine verantwortlich. Erotik oder gar Sex gab es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Sie hatte ihm eine Tochter geschenkt und somit ihre Pflicht erfüllt. Fand sie jedenfalls. Kuscheln und lieb sein - bah. Unfug. Daher mußte sich Darfnix diese Art von Nähe anderswo suchen, wer wollte es ihm verdenken? Im Grunde war er trotz Ehefrau ein einsamer Mann.

Gerne verkroch er sich daher in seinem Keller und betrachtete in seiner mystischen Glaskugel heimlich die Bilder nackter Frauen, wie sie die großen Meister vor seiner Zeit geschaffen hatten. In diesen Keller wagte sich seine Frau nämlich nicht hinein. Sie hatte großen Respekt vor magischen Dingen und Hexenwerk, wie sie es nannte, seit sie ihm einmal mutwillig einen Zauberstab entzweigebrochen hatte und sich eine der Hälften daraufhin flugs in eine Schlange verwandelte und sie in ihre Nase biß. Welche daraufhin mächtig anschwoll und zu ihrem Leidwesen auch später nie mehr so hübsch und zierlich wurde, wie sie es dereinst gewesen war.

Nun trug es sich zu, daß Darfnix eines schönen Tages einen der Unterbergener Botenzwerge mit einer Nachricht zu der Elfe schickte auf die er seit einiger Zeit ein Auge geworfen hatte. In dieser Nachricht ging es hauptsächlich darum, wie gern er sie doch im grünen Moos verwöhnen würde, so wie dereinst, lange war es her, eine seiner wenigen Geliebten. Ein einzigartiges Erlebnis, von dem der arme Alte noch immer gerne träumte. Dummerweise hatte seine verbitterte Ehefrau eine gewaltige Aversion gegen Elfen, weil ihr beim Wäscheaufhängen immer wieder welche gegen die (zugegebenermaßen riesige) Nase rumpelten.

Verständlicherweise war sie davon extrem genervt und hatte mit der Zeit einen veritablen Elfenhaß entwickelt. Nachdem sie also mitbekommen hatte, daß ihr Mann mit einer Elfe zärtliche Brieflein austauschte, bekam sie einen riesigen Grant, legte sich eifrig auf der Lauer, und nachdem Darfnix sich stöhnend und murmelnd besagten Brief an seine Elfe abgerungen und diesen einem Botenzwerg übergeben hatte, fing sie den Zwerg ab, entriß ihm die Botschaft, senkte ihre neugierige Riesennase hinein ... und warf alsdann das arme Brieflein voller Zorn auf den Boden und trampelte auf ihm herum, bis es völlig mit dem weichen Erdboden vermantscht war. Rumpelstilzchen sah ihr vom Gebüsch aus zu und war fasziniert. Hier konnte sogar er sich noch etwas abschauen.

Grrrrrrrrrrrrrrrrrr! Mit Elfen auf dem weichen Moos herumschmusen, was? Das waren also seine ach so erholsamen Waldspaziergänge, was? Ha! Das würde er sich in Zukunft abschminken können, der werte Herr!

Wutentbrannt marschierte Darfnixens Frau nach Hause, hielt ihrem Angetrauten einen lautstarken Vortrag bis ihm die Ohren klingelten und er schlußendlich, nachdem es nach Tagen noch immer nicht besser geworden war mit den Ohren, einen Heiler im Dorf aufsuchen mußte der ihm ein Hörgerät verschrieb. Keine sehr moderne Version, wohlgemerkt, die Technik hatte ja im Zauberwald noch keinen Einzug gehalten, aber immerhin nannte Darfnix von diesem Tag an ein hübsches langes Hörrohr sein Eigen. Welches er ostentativ beiseitelegte, sobald sein Eheweib auftauchte, denn ihre Schimpferei kannte er mittlerweile auswendig, dafür brauchte er kein Hörrohr.  

Nun war guter Rat teuer, wie er seine Brieffreundschaft mit der Elfe aufrechterhalten konnte. Brieftauben waren auch keine Option. Diese hatte er früher gerne benutzt, da sie unauffälliger waren als ein Botenzwerg, doch nachdem sie immer wieder den Balkon so grausam vollgeschissen hatten, daß ihm seine Frau versprochen hatte, ihn mit ihrem Bärlauchpesto in die ewige Horizontale zu schicken wenn er nicht unverzüglich mit diesem Unsinn aufhörte ... war auch dieser Ausweg verschlossen.

So saß er nun, das Kinn in die Hände gestützt, traurig vor seiner Hütte und sah bereits seine zarte Liebschaft im Keime erstickt, noch bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Doch was war das? Was regte sich da vor seinen Füßen? Wuchs da etwas aus dem Boden? Ungläubig kniff der Alte seine Augen zusammen, woraufhin sich erneut eine Träne löste und PING, an exakt dem Ort, an dem sie zu Boden fiel, schoß ein weiterer, kleiner, bunt schillernder Pilz aus der Erde. Interessiert beäugte er die Gewächse. Was mochte es wohl mit diesen Pilzen auf sich haben? Nie zuvor hatte er Ähnliches gesehen. Ob er seine Zauberkugel befragen sollte? In der Ferne waren noch immer Skodefixens Axthiebe zu hören und langsam brach die Dämmerung herein. Die funkelnden Pilze glänzten wie in Eile verlorene Diamanten auf dem Waldboden und lockten allerlei neugierige Waldbewohner an. Schmetterlinge und Bienen hielten sie für neuartige Blumen, suchten auf ihnen nach Nektar und wandten sich enttäuscht wieder ab. Vorwitzige Käfer bissen sich ihre Zähne daran aus und sogar eine Elster kam geflogen und wollte sich einen in ihr Täschlein packen. Doch auch sie mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen, denn die Pilze steckten bummfest im Boden und ließen sich von nichts und niemandem auch nur eine winzige Lamelle krümmen.

'Heast, wos is des!', erscholl eine wohlbekannte Stimme im Abenddunkel. Eine Eule hatte es sich auf der Regenrinne hinter Darfnix bequem gemacht und spähte interessiert auf die glitzernde Pilzlandschaft zu dessen Füßen. 'Is des fia dei neichs G'spusi oda wüst dei Oide b'stechn damit's di wieda ausloßt?' 'Bitte Ethel, geh von der Dachrinne herunter! Wenn das meine Frau sieht! Am Ende hält sie dich für eine Taube und erschießt dich.'

'Ma bitte,' zeterte Ethel genervt, 'es Mannsbilder seids olle sowas von obhängig von eichene Weiba es is a Wohnsinn. Olle unta'm Pantoffl. Bist etzn du da Zaubara oda sie??? Außadem bin I kuglfest, wann's mi hamdrahn wü dann hod's a Problem. Oba die Püz, also DIE PILZE, bitte des is total interessant, I hob die nämlich schon amal wo g'sehn. Soll I dir sagn wo? Oder magst selber raten?'

Darfnix blickte erstaunt hinauf zu Ethel: 'Du hast diese Pilze schon einmal gesehen? Und wo wenn ich fragen darf? Erraten werd ich es sicherlich nie, denn trotz meines hohen Alters ist mir sowas bisher noch nicht untergekommen.'

'Am Jahrmarkt,' posaunte Ethel stolz. 'Am Jahrmarkt hab ich die gesehen, damals in der Stadt. Es mögen wohl so an die 120 Jahre vergangen sein seither, so alt bist halt dann doch no ned wie'st immer tust. Einer der fahrenden Gesellen hatte die im Hosensack und hat sie mir gezeigt. Recht geheimnisvoll hat er getan und gemeint, seit er diese wundersamen Geschmeide mit sich trüge - er hatte sie wohl für eine Art Schmuck gehalten - seien ihm die Damen wohl zugetan und er könne sich vor Angeboten kaum retten. Jetzt mein ich amal, du pflückst dir deine Wunderteile da ab, schiebst sie dir in den Hosensack und machst einen kleinen Waldspaziergang, was meinst? Da wird sich Frau Elfe auch ohne vorherige Benachrichtigung sehr bald einfinden. Bin ich mir ziemlich sicher.'

Gesagt getan. Die Pilze ließen sich, zu seinem Erstaunen, auf einmal völlig problemlos und ohne den geringsten Widerstand aus der Erde ziehen. Durch das Gespräch mit Ethel aufgemuntert, wagte Darfnix es daraufhin, seiner Frau kurz und knapp mitzuteilen, er werde nun einen kleinen Waldspaziergang machen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, klemmte er sich seinen Skizzenblock unter den Arm und marschierte von dannen. Das keifende: 'Jetzt am Abend? Im Finstern? Bist jetzt völlig durchgedreht?' hörte er schon nicht mehr. Die Axt von Skodefix war verstummt, die Sonne war fast untergegangen, und Darfnix mußte sich eingestehen, daß er wohl doch etwas zu unbedacht aufgebrochen war. Aber zurückgehen wollte er nun auch nicht. Zur schimpfenden Ehefrau, die lediglich höhnisch anmerken würde, daß sie es doch gleich gesagt hätte und was er überhaupt geglaubt hätte wo er hingeht und so weiter.

Hinter sich hörte er das Flappen von Flügeln und herbei flog Ethel, auf jeder Kralle zwei Glühwürmchen tragend, die mehr oder weniger freiwillig den Waldweg beleuchteten. 'Was tätst ohne mich, ha?', feixte sie selbstgefällig. Darfnix murmelte etwas in seinen Bart und stapfte dankbar hinter seiner alten Freundin her. Und tatsächlich, kaum hatte er die große Lichtung mitten im Wald erreicht, sah er dort seine geliebte Elfe sitzen, die ihm freudig entgegensah. Bei seinem Anblick sprang sie auf und lief ihm leichtfüßig entgegen: 'Darfnix, was für eine Freude, dich zu sehen! Gerade mußte ich an dich denken und habe mir überlegt, wie schön es wäre, jetzt mit dir einen kleinen Mitternachtsspaziergang zu machen. In dieser wunderschönen Sommernacht ist man doch nicht gern allein.'

Geschmeichelt bot Darfnix seinen Arm, die Elfe hakte sich ein und zog ihn weiterhin glücklich plappernd des Weges: 'Weißt du ich hab mir was überlegt. Ich verstehe, daß du deine Frau nicht im Stich lassen willst, und das ehrt dich auch sehr. Ohne dich wäre sie verloren, sie weiß es nur nicht. In meinen Augen bist du ein Held. Aber unterbuttern mußt du dich nicht lassen, und daher habe ich ein kleines Geschenk für dich: Einen neuen Namen und eine etwas andere Gestalt. Ich könnte dafür sorgen, daß du deutlich langsamer alterst als deine Zeitgenossen. An deinem achtzigsten Geburtstag beispielsweise wirst du dann immer noch fitter sein als andere mit 40. Und was den Namen betrifft, findest du nicht, daß Peter Pan deutlich fröhlicher klingt als Darfnix?' 

'Aber liebe Elfe, ich BIN doch schon alt, wie kannst du dann mein Altern hinauszögern wollen?'

'Unsinn Peterchen, das hat sie dir nur eingeredet. Heute Nacht ist es dunkel, man sieht nicht mehr viel. Aber blick morgen einmal in deinen Spiegel und du wirst sehen, daß ich recht habe. Und nun, guck einmal diesen prächtigen Moosteppich an. Was für eine prächtige Spielwiese! Wie geschaffen für ein kleines Schäferstündchen, bis du wieder nach Hause zurückkehren mußt. Nicht, daß sie anfängt, sich Sorgen zu machen und den halben Wald zusammenbrüllt. Wir wissen ja beide, was für ein Organ sie hat.'

Gesagt getan, und erfrischt brach Darfnix ... äh Peter, nach dem Liebesspiel wieder auf, nach Hause. Auch hier leuchtete Ethel ihm freundlich heim bis er sicher auf der Schwelle seines Hauses stand. In der guten Stube saß die Frau noch mit dem Strickzeug und wollte gerade den Mund öffnen, um ihn gehörig auszuschimpfen, als Peter sich aufrichtete und sie fest ansah: 'Hör mal carissima, ich mag dich wirklich sehr, sehr gern und das weißt du auch. Und ich werde dich niemals verlassen. Aber eins bitte ich mir von nun an aus: Wir werden einen vernünftigen Umgangston pflegen und uns gegenseitig respektvoll behandeln. Übrigens heiße ich ab heute Peter, nicht mehr Darfnix. Denn ich darf alles tun, was nicht gegen das Gesetz des Königs verstößt, und daran wird mich niemand hindern. Auch du nicht. Gute Nacht.'

Damit drehte er sich um und stieg in seine Gemächer hinauf, in Gedanken noch immer beim wunderschönen Rendezvous mit seiner geflügelten Gespielin. Was die für Stellungen kannte, mein lieber Schieber!

Im Wohnzimmer war die Frau mit offenem Mund zurückgeblieben. Draußen saß auf dem Fensterbrett eine Eule und sah zufrieden die sprach- und fassungslose Gestalt ein ganz klein wenig zusammensinken. Aber wirklich nur ein ganz kleines bißchen. Dann richtete sie sich wieder auf, legte ihr Strickzeug beiseite und verließ ihrerseits den Raum.

'Es geschehen noch Zeichen und Wunder', murmelte Ethel zu sich selbst, bevor sie sich aufschwang und ihre einsame Gestalt leise im nächtlichen Wald verschwand.





Samstag, 27. Juli 2024

Meine letzte große Liebe


Einbrechen ist ein verdammt schwieriger Job. Wenn man es ordentlich macht. Die meisten von euch denken sicherlich, es sei damit getan, die Türe aufzukriegen. Beileibe nicht! Es ist ein Handwerk, eine Kunst. Die man erlernen muß. Und ich habe sie erlernt. Von der Pike auf. Einer der Freunde meines großen Bruders, sie nannten ihn 'Nietzsche' weil er im Rausch immer aus dem 'Zarathustra' zitierte, packte mich bereits als Jungen immer wieder an den Füßen und ließ mich zum Kellerfenster des Metzgers hinab, weil ich so dünn war und daher als Einziger der Gruppe durch dieses Fenster paßte. Im Keller lagerten geräucherte Wurstwaren, die ich nach oben schaffte und die dann an diverse Wirte in der Altstadt verkauft wurden. Das klingt im Prinzip sehr einfach, aber was machst du, wenn dir im Keller auf einmal jemand entgegenkommt? Ein Anfänger gerät in Panik, schlägt den Überraschten nieder oder gar tot. Was ich gemacht habe: ich habe ihn in eins der Abteile gedrängt und dort eingesperrt. Das muß dann natürlich alles sehr schnell gehen, das Auf- und Zusperren mußt du im Schlaf beherrschen. Da ist keine Zeit für langwierige Fummeleien.

Der nächste Schwierigkeitsgrad nach Kellern von Mietshäusern sind freistehende Häuser. Auch hier latscht man nicht einfach hinein weil man es kann, sondern es empfiehlt sich, das Anwesen über einen längeren Zeitraum genau zu beobachten. Wer kommt wann nach Hause, ist eine Regelmäßigkeit auszumachen? Wenn nicht, dann Finger weg. 

Neulich hatte ich das ideale Objekt am Start. Riesenhütte, kein Hund, kein Alarm, jeden Tag von halb 10 bis ca. 15 Uhr war niemand zuhause. Hab ich mich natürlich schon gefragt, wie man mit solchen Arbeitszeiten so reich werden kann, aber gut. Vielleicht hatten sie ja geerbt. An einem diesigen Herbstmorgen gegen 11 Uhr bin ich also eingestiegen. Das Objekt war von einer dichten Hecke eingefaßt, wenn du da mal durch warst, hat dich niemand von außen mehr gesehen. Absolut ideal. Lange hatte ich nach einem Haken gesucht, aber keinen gefunden. Bald stand ich, die Terassentür war kein Hindernis für mich, im Wohnzimmer. Riesiger Flachbildschirm, total Prolo, und im Bücherregal fast nur uralte Schinken von Donauland. Zwischendrin der eine oder andere Klassiker. Es roch staubig, war es auch, und vor Hölderlins gesammelten Werken stand ein Schokoladennikolaus ohne Kopf. Wie absurd! Die beiden hatten keine Kinder, die hätte ich gesehen.

Nun war ich ja nicht hereingekommen, um die Bücherwand zu bewerten, sondern um die Dame des Hauses idealerweise um das eine oder andere hübsche Schmuckstück zu erleichtern. Leider wuchs mein Unbehagen mit jedem Zimmer das ich betrat. Normalerweise heben die Leute sowas ja im Nachtkasterl auf oder wenn's blöd läuft in einem Safe. Aber sowas hatten die garnicht. Und auch keinen Schmuck. Nur so blöde Holzperlenketten und billige Ohrringe. Was wurde hier gespielt? Hatten sie ihren Goldkram etwa in einem Bankschließfach? Im ganzen Haus fand ich absolut NICHTS von Wert. Nicht einmal ein Paar silberne Manschettenknöpfe. Kein Wunder, daß das Haus ungesichert war. Hier gab es tatsächlich bis auf den bescheuerten Flachbildschirm keinerlei Beute, und den konnte ich alleine nicht tragen. Kriegst auch nix mehr dafür, totale Zeitverschwendung. Schweren Herzens entschloß ich mich, das Objekt zu verlassen und mir ein lohnenderes Ziel zu suchen. So schade! Die langen Wochen der Beobachtung, das Planen, die Vorfreude ... alles umsonst.

Ein letztes Zimmer im oberen Stockwerk hatte ich noch nicht durchsucht, die abblätternde Farbe auf der Türe ließ auf eine Abstellkammer schließen, wenig verlockend. Aber wer weiß, vielleicht hatten sie genau dort ihre Reichtümer gebunkert?
Auf der Schwelle blieb ich stocksteif vor Schock stehen. Aus einem Bett blickten mich zwei riesige Augen aus einem abgemagerten Gesicht freundlich an, der eingefallene Mund darunter sagte: Guten Tag junger Mann. Wollten Sie mich besuchen? Was für eine Freude. Setzen Sie sich doch.
Der Gestank war bestialisch, das Fenster geschlossen. Ich unterdrückte meinen Fluchtreflex und begann mir Fragen zu stellen: Wer war diese Person und wieso kümmerte sich niemand um sie? 

Als erstes steckte ich die zerbrechliche Gestalt vorsichtig in die Badewanne, hierbei stellte ich fest, es handelte sich um eine Frau. Die noch lange nicht so alt war wie sie aussah. Ihrer Erzählung nach war der Hausherr ihr Sohn, der fröhlich von ihrem Ersparten lebte, und sie in ihrem Kämmerlein verkümmern ließ. Ab und an wurde eine Pflegerin angeheuert, aber diese Leute verlangten zu Recht mehr Geld, das sie trotz aller Versprechungen aber nicht bekamen, woraufhin sie bald wieder verschwanden.

Nun hat ja ein Mensch, der öfter mit den Ordnungshütern in Berührung kommt als ihm lieb ist, einige Kontakte zu Anwälten. Einer dieser Kontakte, ein sehr liebenswerter junger Mann, hat uns dann geholfen. Die genauen Umstände unseres Kennenlernens haben wir ihm natürlich verschwiegen, doch das Erzählte hat ihm genügt um sofort Action zu bringen. Da keinerlei Anzeichen geistigen Verfalls festzustellen waren, wurde die Versachwaltung aufgehoben, die gute Frau bekam die Vollmacht über ihre Konten zurück, zog in eine eigene kleine Wohnung und der Sohn hatte den Scherben auf.

Eigentlich könnte die Geschichte jetzt zuende sein. Das Opfer ist in Sicherheit, hat neue Zähne bekommen und sich mit dem Retter angefreundet der sie fast jeden Tag auf einen Kaffee besucht. Die beiden verstehen sich prächtig, lachen viel zusammen, und sie drückt ihm immer wieder verstohlen ein Scheinchen in die Hand wenn er klamm ist, Ende gut, alles gut. Aber so ist das nun mal nicht im Leben. Jedenfalls nicht in meinem Leben.

Nichts deutete darauf hin, daß meine neue Bekanntschaft trotz ihrer Gehbehinderung nicht noch mindestens 20 Jahre leben könnte. Gut, sie würde nicht mehr Seilspringen wie ein junges Mädchen, aber für den einen oder anderen Kurzausflug würde es reichen. Eifrig schmiedeten wir Pläne für die Zukunft, wenn erst der neue Rollstuhl da wäre, dessen Genehmigung sich leider sehr in die Länge zog.

Ich weiß noch wie ich sie das letzte Mal gesehen habe. Lieder aus ihrer Jugend summend stand sie vergnügt in der Küche und wusch unsere Kaffeehäferln ab. Ich durfte abtrocknen, danach schickte sie mich weg. Ich solle noch etwas von meiner Jugend haben und nicht ständig bei ihr alter Oma rumsitzen, meinte sie neckisch. Dabei saß ich so gerne bei ihr. Sie war der erste Mensch in meinem Leben, der mich so nahm wie ich war und mich nicht entweder ausnutzen oder ständig an mir herumerziehen wollte. Fast würde ich sagen, wir haben uns geliebt. Denn ich war beileibe nicht der einzige Mensch dessen sie hätte habhaft werden können in ihrem neuen Leben. Sie war reich und hätte sich im vornehmsten Seniorenheim des Landes einkaufen können, dort hätte sie Gesellschaft genug gehabt. Jedoch hatten wir beide gelernt, den Menschen zu mißtrauen. Sowas verbindet. Natürlich hatte sie auch eine Pflegerin, aber diese klebte nicht rund um die Uhr an ihr sondern hatte ihr eigenes Zimmer, kam nur heraus wenn sie gebraucht wurde. Manchmal hatte ich den Eindruck, ihr Deutsch war besser als sie zugeben wollte.

Zwei Tage nachdem mich meine Wohltäterin weggeschickt hatte, läutete ich wieder an ihrer Wohnungstüre. Ich fühlte mich einsam und brauchte jemanden zum Reden. Natürlich dauerte es stets eine Weile bis sie zur Türe kam, doch heute ... kam niemand. Wie konnte das sein? War sie beim Arzt? Langsam stieg ich die Treppen wieder hinab und verließ das Haus. Blickte nach oben. Zu ihren Fenstern. Sah, wie eins offen stand und der Vorhang sich leise im Wind bewegte, als wolle er mir etwas mitteilen, oder mich gar herbeiwinken. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ich sah sie sofort liegen, nachdem ich die Wohnung betreten hatte. Tot und kalt, so eiskalt. Ich hatte nicht gewußt, daß sich ein Mensch so kalt anfühlen konnte. Von der Pflegerin weit und breit nichts zu sehen. Langsam drückte ich meiner lieben Freundin die starr blickenden Augen zu und wählte die Nummer der Polizei bevor ich weinend zusammenbrach. Wieder stand ich völlig alleine auf dieser verfickten Scheiß-Erde.

Den Rest könnt ihr euch denken, oder? Natürlich hat man mir den Mord in die Schuhe geschoben. Vor allem, nachdem sich herausgestellt hatte, daß ich im Testament nicht nur erwähnt wurde, sondern einen gewaltigen Batzen ihres Vermögens erben sollte. Ich hätte heimtückisch bei der freundlichen, arglosen älteren Dame angedockt, erzählte der Sohn, mich in ihr Vertrauen geschlichen und sie anschließend, nachdem es mir mit dem Erben wohl nicht schnell genug gehen konnte, einfach erschlagen. Nix mit in dubio pro reo. Meine Spuren waren in der Wohnung reichlich vorhanden, auch direkt am Tatort, und wie war ich überhaupt hereingekommen? Nun konnte auch mein Bekannter, der Anwalt, nichts mehr ausrichten. Wer glaubte schon einem vorbestraften Einbrecher?

Nun sitze ich hier in Stadelheim. Immerhin habe ich ein Einzelzimmer bekommen wie alle anderen Mörder auch. Ich habe eine gute Arbeit dank derer ich mir beim Einkauf alles genehmigen kann was ich brauche, ohne die internen Verteilstellen in Anspruch nehmen zu müssen. Man geht mir aus dem Weg. Ich habe meine Ruhe. Mehr kann ich nicht mehr erwarten. Abends weine ich heimlich und leise, damit mich niemand hört. Würde meinem Ruf schaden. Ich vermisse meine liebe Freundin so sehr. Irgendwann werden sie mich in den offenen Vollzug lassen wo man nicht mehr ständig bewacht wird und dann, dann komme ich dir nach, Miranda. Bis bald!

Donnerstag, 18. Juli 2024

Zu spät



Endlich Sommerferien! Das bedeutete, die gesamte Familie saß mit vollgepacktem Kofferraum im Auto Richtung Blackpool. Holiday by the Sea. Same procedure as every year. Und wie jedes Jahr nervten meine kleinen Brüder total, schwiegen sich meine Eltern an und blickte ich gelangweilt aus dem Fenster und versuchte, sie alle miteinander zu ignorieren.

Und doch sollte dieses Jahr alles anders werden. Das begann schon mit der Unterkunft. Mein Vater hatte es aus unerfindlichen Gründen leider versäumt, rechtzeitig zu buchen, und so war 'unsere Wohnung', in der wir seit ich denken kann unsere Ferien verbracht hatten, leider schon vergeben. Fluchend und mit zornrotem Gesicht hatte er sich durch den Katalog gearbeitet, zweifellos die Telefongebühren innerlich vom Zimmerpreis bereits subtrahierend, bis er etwas gefunden hatte das nahe genug am Meer lag, groß genug für fünf Leute und doch einigermaßen günstig war.

So kam es, daß wir uns nach der langen Fahrt vor einer reichlich zweifelhaften Hütte wiederfanden. Abgeranzte, fleckige Fassade, großflächig mit Efeu überwuchert, an allen Ecken bröselte der Putz. Ein alleinstehendes, uraltes Haus wie aus einem Märchenbuch gepurzelt, hineingepflanzt wie ein nachträglicher Gedanke in dieses weitläufige Grundstück - und vom Meer weit und breit nichts zu sehen. Ich fand's toll. Meinem Vater hingegen fiel das Kinn auf den Boden und meine Mutter, die mit den Koffern hinter ihm hergedackelt war, zog prophylaktisch schon einmal den Kopf ein, in Erwartung eines Donnerwetters.

Glücklicherweise jedoch war die Innenausstattung überraschend modern und ließ keine Wünsche offen. Hochmodernes Bad mit Einhebelmischern an Wasserhahn und Dusche - nix mit British Plumbing, wo du stundenlang an zwei Rädchen drehst und das Wasser dennoch immer entweder zu kalt oder zu heiß ist. Drei Schlafzimmer, was bedeutete, daß ich nicht mit meinen Brüdern in einem Raum schlafen mußte, ein gemütlich eingerichteter Salon und eine supergroße Küche. Die war mir zwar relativ wurscht aber meine Mutter strahlte aus allen Knopflöchern und komponierte zweifelsohne bereits die erste Familienmahlzeit im Kopf.

Mit meinen mittlerweile 16 Jahren hatte ich jetzt nicht mehr unbedingt das Bedürfnis, den gesamten Tag mit meiner Familie zu verbringen, daher brachen Eltern und Brüder an den meisten Tagen alleine auf um an den Strand zu fahren, während ich die nähere Umgebung erkundete, mein Taschengeld im Gemischtwarenladen auf den Kopf haute und vor allem sehr viel las. Zu meiner enormen Freude hatte ich im Keller des Hauses einen ungehobenen Schatz gefunden: Eine ganze Truhe voller alter Zeitschriften, für mich alleine!

So träumte ich über Liebesgeschichten, schmunzelte über uralte Ratgeberseiten und erfuhr mit Entsetzen von einem Buben, der einen Hochspannungsmast hinaufgeklettert war und dort eine geschlagene halbe Stunde bei VOLLEM BEWUSSTSEIN hing bis die Feuerwehr endlich kam und ihn herunterholen konnte. Ich konnte die verbrannte Haut förmlich riechen und war mir sicher, diesen Artikel nie mehr zu vergessen zu können.

Mein Leben war also erfüllt und ich war glücklich. Bis zu jenem Abend, an dem ich ihm das erste Mal begegnete. Gut, begegnen konnte man es nicht direkt nennen. Eigentlich hab ich kaum etwas von ihm gesehen. Es war bereits dunkel und ich war noch einmal die Straße hinuntergegangen, ans Ende des Dorfes, von wo aus man das Meer immerhin erahnen konnte, als er nur wenige Meter entfernt an mir vorbeijoggte. In aller Ruhe und Gemütlichkeit ... und splitternackt. Ich war fasziniert.

Natürlich habe ich den gesamten nächsten Tag darauf hingefiebert wie ich es anstellen könnte, daß mir mein unbekannter Nackedei noch einmal über den Weg liefe und was ich dann zu ihm sagen könnte, wenn - FALLS - er stehenbleiben und sich mit mir unterhalten würde. Am Abend stand ich wieder auf der ansonsten verlassenen Dorfstraße und hielt Ausschau. Vergebens. Kein Jogger weit und breit zu sehen. Plötzlich tappte mir jemand von hinten auf die Schulter. Japsend fuhr ich herum: Da stand er vor mir. Bekleidet. Zwar nur mit einer Badehose und einem Unterhemd, aber immerhin. Sah grinsend auf mich herab und fragte: Wartest du auf jemanden?

Wäre ich schlagfertig gewesen, hätte ich so etwas sagen können wie: Jetzt nicht mehr, der Märchenprinz ist soeben aufgetaucht. Oder: Kann schon sein. Magst mit mir zusammen warten? Aber natürlich stand ich nur mit offenem Mund da und glotzte. Wenig attraktiv. Immerhin schien es ihn kaum zu stören, denn er drehte sich nicht sofort um und rannte davon, sondern fragte höflich, ob er mich nach Hause begleiten dürfe. Unterwegs nahm er meine Hand und erzählte mir allerlei lustige Geschichten aus seiner Heimat. Eine wandelnde Hörspielkassette. Er hatte ein paar Tage in Frankreich Urlaub gemacht und gedachte nun, auf dem Heimweg einen Bogen durch England zu schlagen bevor er zuhause sein Studium aufnahm. Er war Deutscher. Mein Vater würde durchdrehen. Seine Familie stammt aus Coventry und wir wissen alle, was das bedeutet: Gründliche Vernichtung fast der gesamten Stadt seitens der Deutschen Luftwaffe.

Das Englisch meines German Flitzers war holprig, aber seine Küsse waren tausendmal schmackhafter als selbst die teuersten Süßigkeiten aus dem Dorfladen. Ich konnte den nächsten Tag kaum erwarten, denn wir hatten ein richtiges Rendezvous! So träumte ich von langen Spaziergängen übers Land, oder einem Tag in den Amusement Arkaden, wo er nur wenige gezielte Schüsse brauchen würde um mir mit diesem unnachahmlichen Zwinkern in den Augen den großen Teddybären schenken zu können. Schließlich war er Deutscher, die kannten sich aus mit Schießen.

Was war ich doch jung und unerfahren. Möglicherweise hatte er mich tatsächlich gemocht, sonst hätte er sich kein zweites Mal mit mir verabredet. Doch sobald er merkte, und das dauerte keine drei heimlich in unserem Garten verschmuste Stunden, daß ich mir bereits ein ganzes Leben mit ihm an meiner Seite vorzustellen begann, zog er beiläufig erst seine Hand zurück und dann sich selbst, einen wichtigen Termin vortäuschend, mich auf den nächsten Tag vertröstend ... und weg war er. Für immer. Abend für Abend stand ich am Ende der Straße und wartete, doch er kam nie mehr vorbei. Die Besitzer des Häuschens fanden nach unserer Abreise eine Truhe vollgeweinter, matschiger Zeitschriften in ihrem Keller. Ich war untröstlich.

Jahre später sah ich ein Bild von ihm im Guardian. Ich erkannte ihn sofort. Er war ein international bekannter Fotograf geworden, der anläßlich einer Ausstellung aktuell in London weilte, und die Frau an seiner Seite strahlte ihn verliebt an. Die Glückliche. Was hatte sie, das ich nicht hatte? Wie hatte sie ihn zum Bleiben bewegen können? Fragen, auf die ich niemals mehr eine Antwort bekommen würde. Immerhin erfuhr ich auf diesem Wege zumindest seinen Namen, den er mir nie gesagt hatte. Wilhelm. Mein göttlicher, einzigartiger Wilhelm. Und wieder flossen die Tränen als seien sie nie versiegt gewesen.

Ich war selbst erschüttert, wie sehr mich dieser Artikel aufgewühlt hatte, wie stark der Schmerz noch immer war und wie unüberwindlich er schien. Natürlich hatte es andere Männer gegeben. Aber nie für lange und nie hatte ich jemandem mein Herz so schenken können wie ich es Wilhelm damals gerne geschenkt hätte. Und obwohl er es nicht annehmen mochte, hatte er dennoch einen Teil von mir mitgenommen auf seiner überstürzten Flucht. Einen Teil, der mir seither fehlte und ohne den ich kein erfülltes Leben zu führen in der Lage war. Wurde es nicht langsam Zeit, diese Farce zu beenden? Wozu die Quälerei, Tag für Tag für Tag in einem ungeliebten Job, und die darauf folgenden einsamen, schlaflosen Nächte, wenn die Sehnsucht doch unstillbar blieb? Weil der einzige Mensch, den ich dazu gebraucht hätte, fröhlich mit seiner Traumfrau durch die Weltgeschichte jettete und sicherlich keinen Gedanken mehr an die kleine, dickliche Engländerin verschwendete, die er damals, vor so langer Zeit, für 24 Stunden so glücklich gemacht hatte, daß es für ein ganzes Leben reichen mußte.

Draußen tobte ein Sturm, nichts Außergewöhnliches am Rande der Yorkshire Dales, als ich die über Monate zusammengesparten Schlaftabletten auflöste und mit Mangosaft zu einem flüssigen Brei verrührte. Hoffentlich würde ich sie unten behalten können und nicht mit einem Schlauch im Magen wieder aufwachen. Aber wer würde schon nach mir sehen und mich rechtzeitig finden? Diese Gefahr war ziemlich gering. Lange schon hatte ich aufgehört, auf WhatsApp alberne Guten-Morgen und Guten-Abend Grüße an meine wenigen noch verbliebenen Kontakte zu senden. Die meisten von ihnen machten sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.  Es war alles so sinnlos. Ich war bereit, zu gehen.

Kurze Zeit später lag ich auf meinem Sofa und spürte, wie mir die Sinne schwanden. 'Endlich', dachte ich und spürte eine unerwartete Erleichterung in mir aufsteigen. Nur noch ganz leise und entfernt hörte ich das Piepsen des Anrufbeantworters und die sonore Stimme eines Mannes, der mir mit starkem deutschem Akzent mitteilte, daß man meine Fotos auf flickr entdeckt hätte und mir gerne die Beteiligung an einer Ausstellung in London anbieten würde, da jemand abgesagt hätte. 'Zu spät,' dachte ich mit einem irren Aufflackern von Schadenfreude. 'Zu spät ...'







Sonntag, 14. Juli 2024

Deutschlehrer im Binärsystem

Melancholisch blickte Larsson auf den Stapel noch zu korrigierender Schularbeiten. Warum nur hatte er damals Germanistik auf Lehramt studiert? Warum, warum, warum!!! Keiner seiner Kollegen hatte auch nur annähernd soviel Arbeit mit der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, ganz zu schweigen von den Korrekturen. Obendrein wurden die Schüler gefühlt jedes Jahr dümmer. Seine Ausgaben für die purpurroten Stifte, mit denen er Anmerkungen in die Hefte schrieb, Fehler unterstrich und Wellen an den Rand malte um grammatikalische Kühnheiten zu bemängeln, waren jedenfalls deutlich angestiegen.

Als das Telefon klingelte griff er, dankbar für die Ablenkung, erfreut nach dem Hörer. 
''Larsson?'', meldete er sich, gespannt, wer ihn an diesem Nachmittag wohl anrufen würde.

''Hallo Sven, hier ist Olaf. Hör mal, ich hab dir doch heute Mittag dieses Mail geschickt. Hast du das schon geöffnet?''
''Nein, ich bin noch nicht dazugekommen, wenn du den Stapel an Heften sehen würdest ...''
''Sven das ist GUT!'', unterbrach ihn Olaf. ''Bitte lösche es sofort und ungelesen, es könnte ein fieser Virus drin sein, ich hab nämlich einen, aber hab es zu spät gemerkt. Meine Kiste ist mittlerweile komplett blockiert.''

Stille. Larsson war geschockt. Sein Freund und Kollege Olaf, den sie alle um Rat fragten wenn es um die Fisimatenten der quaderförmigen Plagegeister ging, hatte einen VIRUS? Ausgerechnet er? Das konnte, nein das DURFTE nicht wahr sein! Nicht Olaf!

''Sven, bist du noch dran?'', tönte es kleinlaut aus dem Hörer.
''Ja eh, mir hat es nur die Sprache verschlagen. Du und einen Virus? Das ist ja als ob der Papst eine Alimentenklage ... ich bin ... also wie ... hast du eine Ahnung, wie das passiert sein kann?''

''Ein stammelnder Deutschlehrer. Daß ich das noch erleben darf. Ja du, ich weiß es selber nicht. Ich hatte den Kasten ja nicht einmal an während der letzten Tage. Wie du weißt mache ich das meiste mit dem Handy. Is ja alles drauf. Fahrkarte und so. Gestern bin ich übrigens mal wieder kontrolliert worden. Hab fast das Ticket nicht mehr gefunden so lange ist das her seit dem letzten Mal, haha. Aber keine Sorge, ich werde das Kind schon schaukeln, ich wollte nur Bescheid sagen, daß du vorsichtshalber diese Mail von mir löschst, nicht daß auch bei dir was passiert. Tschö und noch viel Freude beim Korrigieren, hähä!''

Nachdenklich legte Larsson den Hörer zurück in die Gabel. Er selbst stand ja sämtlichen technischen Neuerungen eher skeptisch gegenüber, daher auch sein stures Festhalten am guten alten Festnetz. Seinen PC benutzte er nur, wenn er mußte. Wegen der Schule. Von daher hatte er, so glaubte er, von Computerviren wenig zu befürchten. Aber natürlich würde er die Mail des Freundes vorsichtshalber löschen und den Gedanken, sich doch noch so ein Smartphone zu kaufen, lieber wieder ad acta legen. Sehr tragisch schien Olaf seine Kalamität ja nicht zu nehmen, aber schließlich war er Spezialist und würde sich zu helfen wissen. Träfe es jedoch Menschen wie ihn, die von nichts eine Ahnung hatten ... Katastrophe Hilfsausdruck!

Am späten Nachmittag - Larsson lag gerade gemütlich vor dem Fernseher und beobachtete gespannt, wie ein Elfmeterschütze seine drei Minuten Berühmtheit auskostete statt einfach ein Tor zu schießen wie man es von ihm erwartete - klingelte das Telefon erneut. Dieses Mal war Larsson verständlicherweise nicht so erfreut über die Unterbrechung und erwog ernsthaft, einfach nicht hinzugehen, aber die Neugier siegte. So quälte er sich also hoch vom Sofa und trabte zum Telefon.

''Larsson?''

''Sag mal Sven, hast du auch so einen komischen Virus am PC? Handy haste ja keins.''

Gabi, seine Freundin war am Apparat. Larsson verspürte ein mulmiges Gefühl. Bisher hatte er den PC noch nicht angedreht, hatte diese Virensache für nicht SO furchbar eilig gehalten. Doch langsam wurde ihm eng im Gemüt. Zwar hatten sie mit Olaf einen Fachmann an der Hand, der ihnen sicherlich gerne aushelfen würde, aber gerade als Lehrer wollte man doch einige Dateien nicht missen wollen. Die Schüler dagegen wären in so manchen Fällen möglicherweise sehr glücklich über deren plötzliches Verschwinden.

Später, als sie eng aneinandergekuschelt auf dem Bett lagen und Gabi sich gerade lasziv eine Pistazie in den Mund fallen ließ, griff er das Thema noch einmal auf:
''Sag Gabi, glaubst du, daß einer unserer Schüler dahintersteckt? Erst Olaf, dann du ... das kann doch kein Zufall sein, oder?''

''Hab ich mir auch schon überlegt'', bekannte Gabi kauend, ''aber erstens einmal, was hätten sie davon? Unsere Dateien sind doch am Server der Schule gesichert, und für so genial halte ich keinen von denen, daß sie sämtliche Barrieren so einfach überwinden. Zweitens hat mich vorhin die Astrid angerufen, die hat es auch erwischt und die arbeitet ja, wie du weißt, im Strickwarenladen. Null Zusammenhang, keine Gemeinsamkeit mit mir und Olaf. Sie hat es bemerkt nachdem sie bei einer Fahrkartenkontrolle ...''

''HAH!'' brüllte Sven und sprang aus dem Bett. ''Fahrkartenkontrolle! Olaf hat auch sowas erwähnt. Du, da richten sie doch immer so ein komisches Gerät auf euer Handy, könnte es nicht sein ...''

''Sven du bist paranoid. Das ist ein Lesegerät, mit dem wird der QR-Code der Fahrkarte ausgelesen. Völlig harmlos. Damit kann man doch keine Viren applizieren.''

''Du Gabi, vor zwei Jahren wenn dir jemand gesagt hätte, daß die Schüler ihre Aufsätze mit Hilfe von Künstlichen Intelligenzen schreiben und wir das bislang immerhin noch daran erkennen, daß sie plötzlich keine Rechtschreibfehler mehr machen, dann hättest du es auch nicht geglaubt.''

Zwei Wochen später saß Larsson mit seiner Tageszeitung am Küchentisch, draußen tobte ein Hagelsturm und die Deckenlampe blinkte ominös. Sein Blick fiel auf eine kleine Notiz im Lokalteil: 'Falschen Fahrkartenkontrolleuren wurde das Handwerk gelegt. In Örebro trieben sich während der vergangenen 14 Tage angebliche Kontrolleure mit betrügerischer Absicht in Bussen und Bahnen herum. Zwar wurde niemand geschädigt, doch die Festgenommenen machten klar, daß es Ihnen ein Leichtes gewesen wäre, an die Konten der Fahrgäste zu kommen. Mittlerweile wird verlautet, daß ihnen seitens mehrerer großer Firmen bereits äußerst lukrative Jobs angeboten wurden.'

Ernüchtert realisierte Larsson, daß er offenbar in einem neuen Zeitalter angekommen war. Harte Arbeit lohnte nicht mehr. Denen, die sich mit Nyfz und Bitcoins und dem Bauen kitschiger Bilder und bedrohlicher Viren auskannten, denen standen Tür und Tor zur grandiosen Karriere offen. Er hatte seinen Schülern offenbar nichts mehr beizubringen. Traurig blickte er auf sein hübsches, schwarzes Telefon. 'Wir sind alt', dachte er. 'Wie lange wir uns wohl noch halten können in dieser seltsamen, neuen Welt?'