Sonntag, 25. Februar 2024

Angriff der Klinikkillerklinken

Anfangs hatte sich keiner etwas gedacht. In Altenheimen sterben nun einmal immer wieder Menschen. Das machte immer eine Menge zusätzlicher Arbeit, erregte jedoch nicht mehr Aufsehen als ein Sommergewitter. 

Gerade hier in St. Joseph lagen einige Pflegefälle, von denen manch einer den Tag herbeisehnte, an dem er dieser Erde Sayonara sagen und endlich heimkehren könnte. 

Am schlimmsten litten diejenigen, die geistig noch völlig wach waren, deren Körper ihnen jedoch nicht mehr gestattete, sich selbständig auch nur die Nase zu putzen geschweige denn auf die Toilette zu gehen oder gar auf einen kleinen Spaziergang durch den anstaltseigenen Park. 

Wenn sie Glück hatten, kam einmal die Woche eine ehrenamtliche Betreuung vorbei und las ihnen für ein Stündchen oder zwei etwas aus einem Buch vor oder erzählte ihnen von der Welt draußen. Ob sie das jetzt gerade interessierte oder nicht. 

Wenn bei der Visite alle Türen offenstanden damit sich der Herr Chefarzt nicht vor jedem Zimmer die Hände desinfizieren mußte wegen der Klinken, der gefährlichen Klinikkillerklinken - obwohl er eh jeglichen Patientenkontakt mied und sich lediglich von Patienten und Untergebenen anbeten ließ - verschwammen die Satzfetzen aus den einzelnen Zimmern zu einer Art surrealistischer Soundfile wenn man den Gang entlangmarschierte:

'... Tumore dorsal und radial ...System schon noch in Ordnung, Kreislauf und so, nur halt die Schwäche ... mit 95 noch jeden Morgen einen Ständer ... Pilz vom Cortison hat der Arzt gesagt, das nennt man Soor ... anamnestische Erstbeschreibung ... Erstgespräch heißt das du Depp ...Aua! Schwester, er hat mich gehauen ...'

Immer wieder suchte sie den Park auf für eine kurze Verschnaufpause, die Gesellschaft der immer kindischer werdenden alten Leute war schwer zu ertragen.

Waren alte Menschen in Deutschland keines selbstbestimmten Daseins mehr würdig? Von Zufriedenheit im Herbst ihres Lebens waren die meisten hier jedenfalls weit entfernt. Lagen oft stundenlang in ihrer Scheiße denn das System WAR einfach Scheiße und es steckten alle tief drin. Das konnte sie leider nicht ändern. Zumindest nicht von heute auf morgen. Jede Pflegekraft gab ihr Bestes und es war nie genug. Da konnte man schon einmal auf seltsame Gedanken kommen.

Soziale Ungerechtigkeiten seien aber keine Rechtfertigung für Selbstjustiz hatte der Richter gemeint. Und eine Haftunfähigkeit aufgrund hohen Alters sei in ihrem Fall nicht gegeben, schließlich sei sie erst 78 Jahre alt und wer es fertigbrachte, ein halbes Stockwerk auszurotten indem man immer wieder die Türklinken mit Colibakterien verunreinigte nachdem die Putzfrau durch war, Details würde er den Anwesenden jetzt ersparen, der würde sich auch mit den Umständen in einem Gefängnis abfinden können.












Sonntag, 18. Februar 2024

Die unbekannte Macht


Lässig saßen wir im Aufenthaltsraum, Werner und ich, mit den heute beschlagnahmten Bierflaschen auf dem Tisch vor uns. Eigentlich war Alkohol hier streng verboten, aber es war bereits spät, außer uns war niemand mehr da, die Frühschicht würde erst in einer Stunde übernehmen und die Kameras waren draußen am Bahnsteig. Schließlich waren WIR der Sicherheitsdienst und würden uns kaum selber anzeigen.

''Heast wos is des, Zwuckel???'' Skeptisch betrachtete Werner das Etikett der Bierflasche vor sich, die einer von uns im Laufe des Abends vermutlich am Karlsplatz mitgenommen hatte. Die jungen Leute lernten es einfach nicht. Tschechern im Untergeschoß = Bier weg. So einfach war das. Aber Zwuckel statt Zipfer? Offenbar hatten wir harmlosen Touristen ihren Marschproviant abgenommen. 

''Wos maanst, des woa sicha da neiche Kollege. Wo is a denn eigentlich? Eh scho ham? Oiso I find den ... iagendwie strange ...''
''Tu nicht nörgeln Werner, er ist verläßlich und wir können froh sein, daß wir Verstärkung bekommen haben. Was die Leut krank sind in letzter Zeit, des is nimmer normal. Patrick ist nie krank.''
''Jo eh, oba wie der redt. So redt doch ka normala Mensch!''

Eigentlich hatte Werner recht, überlegte ich mir, als ich in der U-Bahn nach Hause saß. Der Neue hatte eine extrem monotone Sprechweise, lachte nie, verstand Witze grundsätzlich nicht und wenn es irgendwo eine Schlägerei gab war er sofort mittendrin, ohne Angst vor Verletzungen. Und mit seinen endlosen Vorträgen konnte er einen echt mürbe machen. Offenbar hatten seine Eltern einen Hof im Mühlviertel, den zwar nicht er sondern ein Bruder übernommen hatte, aber wenn man ihn so hörte, könnte man annehmen, er sei für jede einzelne Frucht mitverantwortlich. So detailliert wie er die Erntevorgänge und Produktionsschritte am väterlichen Hof beschrieb war man dann direkt froh, wenn es irgendwo einen Wickel gab und man sich einmischen konnte. Nein, normal war Patrick wirklich nicht.

Während der nächsten Tage hatte ich ausreichend Gelegenheit, den neuen Kollegen aus der Nähe zu beobachten, denn man hatte ihn mal wieder mir zugeteilt. So marschierten wir zackig durch unser Revier, alles andere als fesch aber immerhin markant gekleidet in unseren neuen 'Kasperluniformen' wie wir sie verächtlich nannten. Blaues Gwand und rote Sicherheitswesten. Und wieder hatte ich große Mühe, ihn vom Thema Hof und Ernte abzubringen. Hatte der Mann nichts anderes im Schädel? Und wenn ihn der Hof so interessierte, warum war er dann nicht dortgeblieben statt hier in Wien den Kollegen mit seinen Vorträgen darüber am Nerv zu gehen?

Weiters fiel mir auf, daß er offenbar Schwierigkeiten damit hatte, Dialoge zu führen. Nicht nur, daß er einem dabei nicht in die Augen sehen konnte, er gab auch immer wieder völlig unsinnige und vom Thema abweichende Antworten. In mir keimte ein Verdacht. Las man in den Medien nicht ständig von diesen künstlichen Intelligenzen, die mittlerweile in diversen Bereichen eingesetzt wurden? In Japan hatten die Menschen mittlerweile sogar so einen Roboter als Lebensgefährten, und die sahen total ECHT aus.

Meine Anfrage beim Vienna Open Lab erbrachte, daß für einen zeitnah stattfindenden Kurs 'Gene Detectives' noch ein Platzerl frei war. Eigentlich sollte dort nur DNA von Obst und Gemüse bestimmt werden, aber hey, wenn man die Möglichkeiten und Instrumentarien dazu hatte ...

Ein Haar von Patrick war einfach beschafft, der Mann war so arglos, daß er es mir sogar mit einem Schleiferl drumrum überreicht hätte, hätte ich ihn darum gefragt. Was ich natürlich nicht getan habe. Ich hab es ihm heimlich von der Jacke gezupft, bissl was geht immer.

Die Untersuchung des Haares erwies sich als schwieriger als gedacht. Eigentlich hatte ich gehofft, alleine zurechtzukommen, aber so ganz ohne Vorkenntnisse ... unmöglich. Die Kursleiterin schaute zwar etwas seltsam, als sie mich mit dem Teil hantieren sah, bestätigte aber nach einem ausführlichen Exkurs in die Tiefen der Gentechnik, daß es sich hierbei eindeutig um ein menschliches Haar handelte. Mein Respekt vor der Frau war während ihrer Ausführungen rasant gestiegen. Die hatte echt was drauf! Fast hätte ich sie gefragt, ob ich sie zum Essen einladen dürfe, das erschien mir dann aber doch zu platt. Besser noch ein paar Kurse bei ihr belegen ... Weiterbildung schadet nie.

Meine Restzweifel besprach ich mit Werner. 
''Was meinst, sind die so gut mit ihren KI, daß sie vielleicht tatsächlich menschliche Gene verwenden, so daß man nix merken kann, auch wenn der Roboter dann mal zum Arzt muß oder so?''
''Geh heast Bertl, so a Bledsinn! A Robota geht ned zum Oazt, der geht in d'Werkstatt. Do foat die Eisenbahn drüber!''

Offenbar hatte Werner seine Klappe nicht halten können ... denn einige Tage später wurde ich zur Leitung der Sicherheitswache bestellt. Zuerst hatte ich keine Ahnung um was es ging, hatte mir sogar schon Hoffnungen auf eine Beförderung gemacht ... doch als ich nach dem sonoren 'Herein' des Chefs dessen Büro betrat prallte ich entsetzt zurück. Vor dem Schreibtisch saß, seinen Blick anklagend auf mich gerichtet, niemand anderer als Patrick.

''Kommen Sie nur herein Ewerdinger, setzen Sie sich, und dann erklären Sie mir einmal wie es zu diesen abstrusen Gerüchten kommen konnte, von denen mir Ihr Kollege soeben berichtet hat.''

Ich war sprachlos. Was zugegebenermaßen selten vorkommt. Was genau hatte man sich erzählt? Was sollte ich zugeben?

Unser Vorgesetzter lächelte schmal. ''Nun Ewerdinger, offenbar sind Sie sich nicht ganz im Klaren darüber, was Sie angerichtet haben. Herr Thompson hat mir gestattet, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, daß er von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen ist. Haben Sie schon einmal von Asperger Autismus gehört? So nannte man das früher. Es ist keine Krankheit, die Menschen sind einfach ein wenig anders. Das berechtigt uns aber nicht, uns über sie lustig zu machen und sie gar für Roboter zu halten, nur weil sie einen etwas anderen Humor haben und gerne von ihren Lieblingsthemen erzählen. 
Nun schauen Sie nicht so bedröppelt, Sie konnten das ja nicht wissen. Aber ich würde es sehr gerne sehen, wenn Sie sich mit Herrn Thompson ein wenig anfreunden könnten um dieses abscheuliche Gerücht wieder aus der Welt zu schaffen. Was meinen Sie Thompson, wären Sie damit einverstanden?''

Sofort reichte mir Thompson seine Hand und ich schlug ein. ''Sehr erfreut Bertl, darf ich dir vom neuesten Stand auf dem Hof meiner Eltern erzählen? Seit gestern sind nämlich die Pflaumen reif und da hat ...''
Innerlich stöhnend blendete ich den Redeschwall aus, mit dem mich Patrick nun ungehindert zutextete, während wir das Büro des Chefs verließen und uns zusammen auf den Weg zum Aufenthaltsraum machten.

Was keiner von uns beiden mehr mitbekam war, wie der Chef auf einem altmodischen Festnetztelefon zufrieden eine Nummer wählte und in vorwurfsvollem Ton berichtete: ''Vorfall geklärt, Gefahr beseitigt. Anweisung: Produktion stoppen bis wir die Software gründlich überarbeitet haben. Serie noch nicht völlig problemlos einsetzbar. Vorhandene Exemplare integrieren soweit möglich, aber Vorsicht walten lassen, äußerste Vorsicht. Experiment darf nicht vorzeitig enttarnt werden, eh schon wissen. Erinnerungen an Farm aus Gedächtnis tilgen, Besuch von Kollegen dort wäre fatal. Over and Out.''







Skulptur 'Wir, Erzkinder lernen Macht' von Jonathan Meese, fotografiert 2009 im Skulpturenpark Köln

Sonntag, 11. Februar 2024

Der Mönch und die Heilerin


Bruder Augustus war immer so lieb. Er redete stets etwas länger mit mir als unbedingt notwendig gewesen wäre, wenn ich die Salben und Tinkturen für das Kloster brachte. Ihre Medizin stellen die Brüder dort großteils selber her, aber einige Rezepturen sind so geheim, daß sie in unserer Gegend wirklich nur meiner Mutter und mir bekannt sind. Und nicht jedes Kloster hat einen eigenen Apothekergarten wie die Antoniter drüben in Höchst. Da muß man schon genau wissen, was wann wo wächst.

Meine Mutter. Sie würde täglich tausend Tode sterben wenn sie wüßte, daß ich mich mit einem Mönch eingelassen habe. Wobei das nie beabsichtigt war. Ich mochte ihn einfach so gerne. Es fühlte sich irgendwie an, als ob wir uns schon immer gekannt hätten.
Nachdem meine Mutter aber bereits vor zwei Jahren zu Tode gekommen war, während die große Seuche in Frankfurt wütete, bin ich jetzt ganz alleine und hätte mir manchmal ihren Rat wirklich gewünscht, so sehr mir ihre Ermahnungen früher lästig gewesen sind.

Vorigen Vollmond, als ich frühmorgens in den Wald wollte um einige Kräuter zu sammeln, habe ich die Brüder singen hören. Es war so wunderschön, daß ich vor Ehrfurcht auf die Knie gesunken bin und das Beten anfing. Bruder Augustus meinte, ich solle mich besser nicht im Umkreis des Klosters aufhalten, da der Abt ein Sexmonster sei. Als ich ihn fragte, was das bedeutet, wurde er käseweis und meinte, er müsse jetzt wieder hinein, aber wenn ich zur Mittagszeit zur Alten Eiche käme, könnte er es mir erklären.

Natürlich bin ich hingegangen, neugierig und wißbegierig wie eh und je. Dort hat er mir nicht nur sehr anschaulich erklärt, was ein Sexmonster ist und was es tut, und auch den Unterschied zur üblichen Vorgehensweise sehr deutlich herausgearbeitet - er hat mir auch ein großes Geheimnis verraten. Daß er nämlich aus der Zukunft kommt und daher immer wieder aus Versehen Worte verwendet, die in unserer Zeit niemand versteht. Er wäre in seinem früheren Leben ein rechter Tunichtgut gewesen und sei daher von den Göttern hierher in die Zeit des 30-jährigen Krieges gesandt worden, um den Menschen zu helfen und ihnen zur Seite zu stehen. 

Aufgewachsen sei er bei den Hugenotten in Frankreich, dortselbst sei er zum Orden der Antoniter gestoßen und mit diesen nach Deutschland gekommen, um zu versuchen, das Leiden der Menschen zu lindern, die vom Antoniusfeuer befallen seien. Dummerweise hätte er, da er ja Bescheid wußte, versucht, den Leuten zu erklären, daß diese Krankheit dem übermäßigen Verzehr von mit Mutterkorn verseuchtem Roggen geschuldet sei, was leider mit eklatantem Unverständnis aufgenommen worden war. Die Leute könnten einfach die Wahrheit nicht ertragen wenn sie nicht in ihr Weltbild paßte. Was bitte, hieß es, sollten die armen Leute denn essen außer Roggen wenn sie nichts anderes hätten, und er sei offenbar genauso von Dämonen besessen wie die Kranken, die sich schreiend in Krämpfen wanden. So sei er mit Schimpf und Schande weggejagt worden und war froh gewesen, nach einigen Irrwegen hier im Kloster als Mitbruder aufgenommen worden zu sein. Auch wenn ihm das Leben als Mönch nicht wirklich besonders gefalle. Vor allem die ständige Beterei sei sehr lästig.

Ich liebte seine Geschichten aus der weiten Welt. Von den Gauklern denen er sich angeschlossen hatte nachdem er von den Antonitern ausgestoßen worden war, weil ihn die lockere Art und einfache Freundlichkeit des fahrenden Volkes angezogen hatte, mit der sie jeden Willkommen hießen der bereit war, mit anzupacken. Von der Tochter des Zirkusdirektors und Hochseilartisten in die er sich verliebt hatte, die aber bald darauf vom Seil zu Tode stürzte weil sie unaufmerksam gewesen war. Ständig hatte sie nach ihm Ausschau gehalten, der er im Publikum gesessen war, Handküsse nach oben werfend und verliebte Faxen schneidend. Um seine Schuld auch nur ansatzweise zu tilgen, hatte er einige Jahre als Clown lediglich für schmale Kost und Logis gearbeitet, hätte dann aber die unheilbare Trauer des Direktors nicht mehr ertragen können, die sich wie eine schwere Decke über den gesamten Zirkus gelegt und ihn beinahe erstickt hätte, so daß er bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit Zuflucht in einem Kloster gesucht hätte, letztendlich bekanntes Terrain für ihn.

Unsere gemeinsame Zeit dauerte nur wenige Tage. Nun sitze ich hier im Verlies, weit unten im Keller des Klosters, und habe seit vorgestern nichts mehr zu essen oder trinken bekommen. Bald werde ich aussehen wie der Suppenkaspar am vierten Tag. Auch diese Geschichte hat mir Augustus erzählt. Von dem Knaben, der seine Suppe nicht essen wollte und am fünften Tag verhungert ist. So froh wäre ich jetzt um ein kleines Schälchen davon. Bald werde auch ich sterben. Anfangs habe ich noch gehofft, man wolle mir lediglich einen Schrecken einjagen und würde mich bald wieder freilassen. Nun habe ich begriffen, daß man mich hier einfach 'vergessen' wird. Ich habe keine Kraft mehr übrig um zu schreien. 

Ich frage mich, wie der Abt von unseren geheimen Treffen erfahren konnte. Niemand hatte uns gesehen, niemandem habe ich davon erzählt. Ich sei der Kirche seit langem ein Dorn im Auge, hatte er mir boshaft versichert. Mitbrüder hätten Zeugnis gegen mich abgelegt und man werde mich der Hexerei anklagen, es sei denn, ich würde auch ihm gewisse Gefälligkeiten ... seine Schweinsäuglein glitten gierig über mein Mieder während mir sein fauliger Atem ins Gesicht schlug. Natürlich habe ich mich heftig gewehrt. Nun liegt er in seinem eigenen Krankenzimmer. Was nicht zur Verbesserung meiner Lage beiträgt. Niemand wird mich vermissen. Das Schlimmste ist, daß ich nicht sicher sein kann, ob nicht Augustus selbst, möglicherweise während einer hochnotpeinlichen Befragung, Dinge erzählt hat, die ihm jetzt zwar leid tun, aber die nun einmal von den Schergen der Kirche niedergeschrieben und somit amtlich sind. Ich bin nicht dumm. Ich kann lesen, ich kann schreiben, und ich kann meinen Mund nicht halten. Schlechte Voraussetzungen für eine Frau im 17-ten Jahrhundert.

In seiner Zeit, hatte Augustus einmal gemeint, sei ich mit meinen medizinischen Kenntnissen systemrelevant gewesen. Auch wieder eins dieser Wörter, die es erst viel später einmal geben wird. Jetzt aber bin ich offenbar eine Gefahr und muß beseitigt werden. Ich bin so müde. Sie haben eine lange Reihe von Kerzen angezündet, die fast heruntergebrannt sind. Dann wird es dunkel und kalt werden hier unten. Hoffentlich wird es schnell gehen. Die Wände sind so dick, es ist kein Entkommen möglich, und bei Gott, ich habe es versucht. Meine Finger bluten und mir tut alles weh. Aber glaubt mir eins, ihr scheinheiligen Pfaffen, ich werde wiederkommen. Ich werde die neue Welt von der mir Augustus erzählt hat, auf unserer heiligen Mutter Erde mitgestalten und ihr, die ihr eigennützig und verschlagen seid, werdet erbärmlich zugrundegehen und an eurer Bosheit ersticken. Amen!













Sonntag, 4. Februar 2024

Traditionen und Kultur


Ein Jahr ist schnell vorbei, dachte Lukas. Danach kann ich zurückkehren und neu anfangen. Auch das gute Gehalt lockte. Also die Gelegenheit ergreifen, alles Elend zurücklassen, ab nach Alaska!

Alles was er vermissen würde, war die Torte von Tante Agathe. Dafür würde es in der Arktis sicherlich jede Menge Fisch geben. Lukas mochte Fisch. In seinem oberbayerischen Heimatdorf gab es den nur leider niemals frisch zu kaufen.

Das Jahr ging rasch vorüber, Lukas aß noch immer sehr gerne Fisch und vermißte nichts. Nicht einmal die Torte seiner Tante oder gar die Tante selbst. Er hatte seine Ruhe, eine Haushälterin, die die gut geheizte Wohnung sauberhielt und hervorragend kochte. Er verdiente eine Menge Geld und liebte es, in seiner Freizeit stundenlang von seinem Fenster aus die Robbenfamilien zu beobachten, die sich auf den Schollen des Treibeises tummeln. Blau war der Himmel und schwarz seine Seele.

Tante Agathe hatte während der ersten Monate fleißig geschrieben, hatte auch von Josephine erzählt und wie schlecht sie mit dem Tod des Töchterleins zurechtkam. Er wollte davon nichts hören. Hätte das Kind der Mutter gehorcht, wäre es nicht unter den Traktor gekommen. Ihm die Schuld für das Resultat der seiner Ansicht nach viel zu laschen Erziehung Josefinens zu geben, war schlicht eine Unverschämtheit.

Alleine der Gedanke an die tobsüchtig vorgebrachten Vorwürfe seiner Angetrauten brachten ihn noch immer an den Rand des Wahnsinns. Er hatte keinen einzigen Brief beantwortet und nach einer Weile verebbte die Postflut. Josefine selbst hatte sich kein einziges Mal gemeldet, sich für die mehr als großzügigen Unterhaltszahlungen bedankt oder wenigstens eine Weihnachtskarte geschrieben.

Sein Vertrag wurde weiter verlängert. Jahr um Jahr um Jahr. Kollegen kamen und gingen. Man nannte ihn 'Old Luke' und hinter seinem Rücken auch einmal den 'grumpy old Bavarian'. Lukas war das egal. Seine Forschungsergebnisse über die Eigenschaften furchtbar geheimer Fluide waren von den Vorgesetzten mittlerweile mehrfach mit Anerkennung bedacht worden, seine Mitarbeiter und er hatten wenig Berührungspunkte.

Eines Tages erhielt er ein amtlich aussehendes Schreiben das ihn davon in Kenntnis setzte, daß Zahlungen an die Ehefrau von nun an nicht länger geleistet werden mußten, sie hatte sich neu verheiratet. Bald darauf trudelte eine Todesanzeige ein. Tante Agathe war gestorben. 

Kurz regte sich Widerstand in seiner Brust: Sollte er heimkehren und es denen heimzahlen, die damals mit dem Finger auf ihn gezeigt hatten? Reich genug wäre er mittlerweile. Alle Äcker könnte er aufkaufen und ihnen ein Einkaufszentrum vor die Nase stellen. Oder ein riesiges Asylwerberheim. Oder 30 Hochhäuser mit lauter Sozialwohnungen.

Diese rachsüchtigen Gedanken verflogen jedoch so rasch wie sie gekommen waren. Im Sommer hörte er den Gletschern beim Schmelzen zu und im Winter saß er in der gemütlichen Stube und hoffte, daß die Internetversorgung stabil bliebe. Seit Pacific Dataport ganz Alaska mit einem Internetzugang versorgte, hatte auch der ewige Winter seinen Schrecken verloren. Die trockene Kälte war ihm angenehmer als die feuchte Hitze der bayerischen Sommer. So verging die Zeit und eines Tages traf erneut ein amtliches Schreiben ein. Lukas hatte die erforderliche Anzahl an Arbeitsjahren abgeleistet und durfte in Rente gehen. Diese Mitteilung traf ihn wie ein Schlag. Seine Arbeit war sein Leben! Wenn man ihn hier nicht mehr haben wollte ... war seine Existenz absolut nutzlos geworden!

Einige Tage hing er unentschlossen in seiner Wohnung herum. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte er sich krank gemeldet.

Am vierten Tag sah ihn ein Kollege mit lediglich einem kleinen Rucksack die Forschungsstation verlassen. Kurz zögerte er. Sollte er Old Luke nacheilen und ihn fragen, wo er hinwollte? Rein aus Sicherheitsgründen? Dann schüttelte er den Kopf. Sollte der alte Grantler doch machen was er wollte, was ging es ihn an. Vielleicht wollte er vor seiner Pensionierung einfach noch eine Abschiedsrunde drehen. Ob er wohl Kuchen ausgeben würde? Alkohol war zwar verboten, wurde aber doch immer wieder ins village geschmuggelt. Vielleicht war er auf Besorgungstour?

Bald hatte der Kollege ihn vergessen und Lukas wanderte weiter in der eisigen Kälte. Stunde um Stunde stapfte er so dahin, immer wieder einen Schluck aus einem kostbaren, heimlich eingeschleusten Flachmann nehmend. So würde es rasch gehen. Er würde nicht lange leiden müssen.
Seine Schritte wurden kürzer, er taumelte, fiel in den Schnee. Blieb liegen. Ihm war nicht mehr kalt. Müde schloß er die Augen. Wer ihn wohl drüben erwarten würde?

Als er erwachte lag er dicht neben einer warmen Frau. War er im Himmel gelandet? Vorsichtig hob er den Kopf. Die Frau lächelte ihn an. ''English?'' fragte sie. Offenbar doch kein Engel sondern eine Inupiat-Ehefrau, die ihm ihr Ehemann großzügig zur Verfügung gestellt hatte, um den Gast vor dem Erfrieren zu bewahren.
''Sledge dogs sniffed dying man, we brought man home to save life.'', erfuhr er später. So hatte man ihm also das Leben gerettet. Lukas war nicht glücklich. 

Was er denn könne, wurde er am nächsten Tag gefragt. Verwirrt überlegte er was er antworten sollte. Mit seinen Forschungen war den Leuten hier nicht gedient, umgekehrt hatte er wenig Ahnung von deren Kultur, sprach ihre Sprache nicht. Inwieweit könnte er hilfreich sein? 
''Do you like dancing?''
Tanzen? Er? Der Ameranger Stolperkönig? Sicher nicht!

Unbeirrt lächelnd brachte sein Engel vier lange Stäbe herein, vier Männer folgten mit riesigen, mit Tierhaut bespannte Scheiben. Lachend und jauchzend begannen die Männer zu singen und dabei die Stangen rhythmisch auf ihre straff gespannten Trommeln und deren Rahmen zu schlagen während der Engel ihn mit Handbewegungen aufforderte, zu tanzen.
Zefix. Nun war guter Rat teuer.

Diese Leute hatten ihm das Leben gerettet. Das mindeste was er im Gegenzug tun konnte war, ihnen eine Freude zu bereiten. Und wenn sie ihn unbedingt tanzen sehen wollten, nun gut, so sollte es sein. Unbeholfen begann er, sich im Kreis zu bewegen wie ein abgehalfterter Zirkusbär. Mit der Zeit jedoch erinnerte er sich an seine Jugend, die Abende mit der Feuerwehr - zögerlich weitete er seine Schritte aus, schlug sich auf die Schenkel, auf die Fußsohlen, stieß ein Juchhei nach dem anderen aus ... seine neuen Freunde waren begeistert! 

Fast jeden Abend durfte er nun im Gemeinschaftszelt vortanzen zur grenzenlosen Freude des gesamten Volkes. Lukas wurde zur Attraktion der gesamten Küste und lebte noch ein langes, erfülltes Leben bis er im Alter von 81 Jahren unter großen Trauerbezeugungen zu Grabe getragen wurde.

Bei den traditionellen Tanzdarbietungen der Ureinwohner Alaskas kommt es noch heute immer wieder zu erstauntem Geraune im Publikum wenn die jungen Männer dort auf einmal anfangen, einen original bayerischen Schuhplattler vorzuführen.