Freitag, 17. Dezember 2021

Weihnachtsessen mit Musik

Wenzel haßte Restaurants. Allein der Gedanke, was das unterbezahlte und daher konsequenterweise unmotivierte und mieselsüchtige Personal alles in die Speisen fallen ließ, erfüllte ihn mit profundem Ekel. Essenseinladungen ging er daher, soweit möglich, stets aus dem Weg.

Außer natürlich, wenn diese vom Chef persönlich ausgesprochen wurde, wie jedes Jahr im Dezember. Dann gab es kein Drumrum. Da mußte man hin.
 
Als er die schwere, eisenbeschlagene Eingangstüre aufstemmte, schlug ihm der Geruch von mehrmals aufgekochtem Fett wie ein Brett ins Gesicht und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Kaum hatte er sich wieder einigermaßen gefaßt, sah er sie schon hocken, die Speichellecker, die Ja-Sager, kurz: seine feinen Herren Kollegen.

Schief lächelnd steuerte Wenzel auf die kleine Gruppe zu, hoffend, daß man ihm wenigstens einen Platz freigehalten hatte und er nicht die Aufmerksamkeit aller Umsitzenden auf sich ziehen mußte indem daß man den Kellner bat, einen zusätzlichen Stuhl für ihn zu besorgen, er derweilen herumstehen mußte wie bestellt und nicht abgeholt, und sich schlußendlich irgendwo zwischen zwei der meistgehaßten Kollegen quetschen mußte, neben denen sonst niemand sitzen wollte.

Aber er hatte Glück im Unglück, Paul hatte seine etwas verspätete Ankunft vorausgeahnt und ihm einen Stuhl neben sich reserviert. Was keine Kunst gewesen war, denn von Paul, obwohl er wirklich ein feiner Kerl war, hielten die anderen gerne Abstand, da Hoffmann, der Chef, nicht gut auf ihn zu sprechen war und jeder fürchtete, daß dessen Unmut auf ihn abfärben könnte, wenn er zu oft in Gesellschaft Pauls gesehen wurde. Erleichtert ließ Wenzel sich auf den freundlich dargebotenen Sessel fallen und zog die Menükarte zu sich heran.

'Was nehmts ihr so?' nuschelte er halbherzig vor sich hin, während er unlustig die Auflistung des Gebotenen überflog. Du meine Güte! Was war das für ein Laden? Currywurst? Ernsthaft? Gebratener Leberkäs? Die Kollegen gegenüber, bereits hör- und sichtbar angetrunken, johlten ihm was von 'Schweinsbraten mit Knödeln, echt subbr' entgegen und ihm schauderte.

Letztendlich entschied er sich für eine Ofenkartoffel, damit konnten sie wohl nicht allzuviel falsch machen und er hatte seine Pflicht getan. Mußte sie ja nicht ganz aufessen. Leider gab es in diesem Etablissement keine Weinkarte, womit er auch nicht wirklich gerechnet hatte, auch das angepriesene Bier einer berühmt-berüchtigen lokalen Brauerei erzeugte allein beim Gedanken daran Übelkeit - somit bestellte er unter den höhnischen Blicken der Umsitzenden, mit Ausnahme Pauls, der ebenfalls ein nicht-alkoholisches Getränk vor sich stehen hatte, eine Apfelschorle. Aber nicht einmal diese war ihm vergönnt, und so mußte er mit einem kleinen Glas Fanta vorliebnehmen. 'Zuckerbrühe, widerliche', konstatierte er nach einem vorsichtigen Schluck, aber da mußte er jetzt durch. 

Bereits der erste Bissen der Ofenkartoffel machte das Maß voll. Lauwarm, steinhart und der lieblos darübergeträufelte weiße Gatsch hatte deutlich schmeckbar bereits einen ziemlich langen Aufenthalt im Kühlschrank in Gesellschaft einiger Fische und viel Knoblauch hinter sich. Was sollte das sein? Sauerrahm? Topfen? Oder hatte gar einer der Männer sich erfrecht, ihm einen besonderen Gruß aus der Küche ...???

Hastig erhob er sich, etwas von 'dringendem Bedürfnis' murmelnd und verschwand eilig in Richtung Häusln. Das konnte doch alles nicht mehr wahr sein! Warum hatte man ausgerechnet diese Kaschemme für das alljährliche Pflicht-Weihnachtsessen ausgesucht? Hätte man nicht ein anständiges Restaurant wählen können oder von ihm aus auch eine Pizzeria? Nein, es mußte ja der absolut hinterletzte Laden in Augsburgs verwinkelter Altstadt sein. Bis er den mal gefunden hatte! Deswegen war er ja auch als Letzter gekommen. Nicht nur wegen seiner ausgeprägten Unlust auf dieses 'gesellige Zusammensein' wie es fröhlich in der Rundmail beworben worden war, sondern weil er drei Passanten hatte fragen müssen, bis er endlich die Fassade der 'Drei Wilden Bäume' vor sich auftauchen sah. 

Der Drang, eine Zigarette zu rauchen, war mittlerweile übermächtig geworden und zu seiner großen Freude - zumindest eine an diesem Abend - entdeckte er neben der Küche eine Abzweigung, die direkt in den Hinterhof führte. Die Türe stand einladend offen, Wenzel trat hinaus in die abendliche Kühle und lehnte sich aufatmend an die Hausmauer. Gierig zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Aaaaaaaah, das tat gut. Glücklich inhalierend betrachtete er den um diese Uhrzeit natürlich düsteren Hinterhof um sich herum, lediglich einzelne Fenster hingen wie verirrte Lichttupfer im vielfach schattierten Grau. Doch halt, was war das? Dieses Glitzern am Boden? Hatte hier etwa jemand seinen Schmuck verloren? Bei dem Klientele da drinnen würde es sicherlich nichts Wertvolles sein, doch schließlich gab es ja auch ideelle Werte und ... forschend beugte Wenzel sich nach vorne um das schwache Glitzern deutlicher in Augenschein zu nehmen. Doch gleich darauf fuhr er entsetzt wieder hoch, beinah hätte er sich den Hinterkopf an der Regenrinne angehauen. Ein Fingernagel! Das was da am Boden lag und feucht vor sich hinglitzerte war ein Fingernagel! Wie kam ein Fingernagel in den Hinterhof eines, naja, Restaurants???

Hastig trat Wenzel seine Zigarette aus und wollte sich soeben wieder auf den Weg zurück zur ekligsten Ofenkartoffel der Welt machen, da ertönte aus dem Fenster direkt über seinem Kopf wildes Geschrei. Eindeutig eine Frauenstimme. Augenblicklich zuckten wilde Bilder durch Wenzels Kopf: Gequälte Frauen sah er vor seinem inneren Auge, Frauen denen man die Fingernägel ausriß und aus dem Fenster warf, die mit glühenden Zangen und Zigarettenkippen gefoltert und anschließend vergewaltigt wurden. Was konnte er tun? Hinaufgehen? Niemals ... es blieb nur eins ... die Polizei zu rufen. Obschon er bislang eher unangenehme Begegnungen mit den Ordnungshütern gehabt hatte, zog er eilends sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte mit zitternden Fingern die 110.

Später, als die lachenden Beamten ihm, noch dazu in Gegenwart seiner inzwischen völlig ausgelassenen, vor Heiterkeit beinah unter dem Tisch kugelnden Kollegen, eröffneten, daß es sich bei der Frau im Stockwerk über dem Restaurant keineswegs um ein gequältes Opfer handelte sondern um eine Opernsängerin, die ihr Domizil extra über der Kneipe bezogen hatte um hier ungestört üben zu können - da der Lärm aus der Gaststube ihren Gesang im allgemeinen zu übertönen pflegte - wollte Wenzel am liebsten im Boden versinken. Eine Opernsängerin? 

'Muuuhahaaa, der Wenzel, der Kunstkenner ...' johlten die Kollegen ... und Wenzel fragte leise: 'Ja aber, der Fingernagel???'

Später erfuhr er aus der Zeitung, daß die Opernsängerin wohl, in einem Anfall von Frust, nachdem es ihr nicht gelungen war, eine neu gelieferte Schachtel mit künstlichen Fingernägeln sachgerecht zu applizieren, von einem Wutanfall herkuleanischen Ausmaßes ergriffen, die ganze Schachtel einfach aus dem Fenster geworfen hatte. Dummerweise ihm direkt vor die Füße bzw. dahin, wo diese kurz darauf zu stehen gekommen waren. 









Sonntag, 5. Dezember 2021

Kontaktlos reisen?



Wer mich kennt weiß, daß ich sehr gerne lese. Zu meiner Wonne lebe ich in einer großen Stadt, in der man in fast jedem Viertel einen Bücherschrank finden kann, manchmal sogar mehrere. So griff ich auch heute, nach meinem Besuch im Nordbad, erfrischt wenn auch etwas fröstelnd in der kalten Dezemberluft, beherzt mehrmals in den Bücherschrank, der freundlicherweise direkt vor der in einem klassischen alten Gebäude untergebrachten Badeanstalt aufgebaut war. Einer der ersten Bücherschränke übrigens, der in unserer Stadt errichtet worden war.

Bepackt mit meinem Rucksack, der großen Tasche mit dem Bademantel und dem nur marginal kleineren Büchersackl wankte ich zur nächstgelegenen Haltestelle um nach Hause zu fahren. Kaum hatte ich die U-Bahn betreten, hörte ich eine unflätige Männerstimme lauthals fluchen: 'Du Fotze, du dreckige Fotze, schaut euch die Schlampe an!'

Mir fuhr der Schreck in alle Glieder denn für einen Moment glaubte ich, er meine am Ende gar mich, da ich in letzter Zeit einige sehr unschöne Erlebnisse in den Öffis gehabt hatte. Aufgrund der Tatsache, daß ich mich beharrlich weigerte, eine FFP2 Maske zu tragen, fühlten sich immer wieder Leute bemüßigt, mich über die aktualisierte Maskenpflicht zu belehren. Warum??? Schließlich habe ich meinen Impfausweis stets dabei und bin obendrein meist frisch getestet, sonst hätte ich ja z.B. auch das Nordbad nicht betreten dürfen - und ich trage immerhin eine chirurgische Maske um die Allgemeinheit vor meinem Giftatem zu beschützen - wovor hatten die Leute also Angst? Oder ging es einfach nur darum, recht zu haben und zu behalten? Die wahre Krankheit unserer Zeit? Erst wenige Tage davor hatte beispielsweise ein Mann mit dem Finger auf mich gezeigt und laut durch den gesamten Waggon geplärrt: 'DAS IST DIE FALSCHE MASKE!'

Sagt wer? Die Dummheit mancher Leute ist schon immer fast grenzenlos gewesen, und in dieser Zeit der Krise kommt diese Flachheit des Denkens einmal wieder prachtvoll zum Vorschein. Kein Wunder also, daß ich mich von den Beschimpfungen des weiterhin ordinär fluchenden Mannes in diesem Augenblick persönlich betroffen fühlte. Still setzte ich mich auf einen Platz, zog den Kopf ein und verstaute mein Handy im Rucksack, so daß ich für den Fall eines Kampfes die Hände frei hatte.

Offenbar jedoch stänkerte der Mann ganz allgemein dort hinten umeinander und ich begann, mich wieder ein wenig zu entspannen, wenn auch weiterhin ein diffuses Gefühl der Bedrohung und ein starkes Unbehagen blieb, denn der Stänkerer hörte nicht und nicht auf, umeinanderzukrakeelen, und ohne Brille wollte sich mir auch beim vorsichtigen Blick nach hinten nicht mehr erschließen als ein verschwommenes Gewirr von bunt gekleideten Leibern. Vorhölle, sozusagen.

Endlich oben im Norden der Stadt angekommen stolperte ich hastig aus dem Wagen, doch erst in dem Moment, in dem sich die Türen von lautem Signalton untermalt schlossen, stellte ich fest, daß ich mein Büchersackl unter meinem Sitz vergessen hatte! Hilflos mußte ich bei einem letzten Blick ins Wageninnere mitansehen, wie es ohne mich weiter Richtung Norden fuhr.

Zornig stapfte ich die Stufen hinauf ins Einkaufszentrum, wo ich in der Apotheke ein Medikament abzuholen hatte. Wie kopflos von mir! Die schönen Bücher! Unwiederbringlich verloren!

Natürlich wird der geneigte Leser jetzt einwenden können, daß ich die Bücher ja gratis bekommen hatte und daher kein materieller Verlust entstanden war - aber wer Bücher liebt der weiß, wie man sich über jedes einzelne freut und der Verlust auch dann spürbar schmerzt, wenn man keine Lawine dafür hat bezahlen müssen wie es früher grundsätzlich der Fall gewesen war.

Aber halt, war denn da garnichts mehr zu machen? Konnte ich denn nicht die Bahn wieder abfangen wenn sie an der Endstelle umgedreht war und zurück in die Stadt fuhr und diese auf der Suche nach den verlorenen Büchern von vorn nach hinten durchschreiten? Es war den Göttern sei Dank ein durchgehender Zug gewesen, keine aus einzelnen Waggons bestehende Garnitur, somit sollte sich die Suche innerhalb einer Haltestelle erledigen lassen.

Gesagt, getan, hoffnungsvoll begab ich mich wieder hinab ins Untergeschoß und wartete auf den nächsten Zug in Richtung Stadt. Welcher nach acht langen Minuten endlich kam (es war Samstag). Unter jeden Sitz blickte ich, die Leute sahen mich bereits seltsam an, bis ich auf einmal jäh zum Halten kam. Vor mir auf dem Boden lag ein Mann. Mitten auf dem Gang. Ob er betrunken war oder ganz einfach nur so gestürzt war, konnte ich natürlich nicht feststellen, aber er war alt, wie der zerrupfte graue Haarkranz verriet, der unter der verrutschten Mütze hervorlugte.

Erschrocken blickte ich um mich, sah noch wie einer der Umsitzenden dem Unglücklichen das Handy reichte, das ihm wohl beim Sturz entglitten war, und sich dann, genau wie der zweite ebenfalls anwesende Mann, wieder in das Seinige vertiefte. Ja und nun? Mußte man nicht helfen? Und wenn ja, wie? Was konnte ich tun? Nachdem ich keinen Führerschein besitze, habe ich auch nie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und stand der Situation völlig hilflos gegenüber. Sollte ich einfach aussteigen und so tun, als ob ich nichts gesehen hätte? Was sicherlich am Einfachsten gewesen wäre. Aber konnte man den Mann einfach so liegen lassen?

Vorsichtig, um nicht auch noch während der rüttelnden Fahrt den Halt zu verlieren, beugte ich mich zu dem Mann hinunter und fragte: 'Haben Sie sich was getan? Kann ich Ihnen aufhelfen oder haben Sie irgendwo Schmerzen?'

Schließlich bestand ja immer die Gefahr, daß man eine Fraktur disloziert, wenn man einen Gestrauchelten einfach so bewegt. Am Ende wäre er querschnittsgelähmt und ich wär schuld!

Mit verschleiertem Blick, der mich an meinen langjährigen, leider mittlerweile am Alkohol verstorbenen Freund erinnerte, sah der Mann mich lange an und meinte leise: 'Laßt mich doch alle in Ruhe ihr scheinheiligen Gutmenschen. Willst dir wohl ein Fleißbildchen vom lieben Gott abholen, was? Ich bin einfach müde und habe es mir hier ein Weilchen gemütlich gemacht. Hast ein Problem damit?'

Ich war baff. Getroffen ließ ich mich auf den Sitz neben seiner ausgestreckten Figur fallen und starrte ihn an. 'Naja', antwortete ich nach einer Weile 'es wird wohl deines Verweilens hier nicht viel länger sein mein ich mal, spätestens an der nächsten Endstelle wird der Fahrer durch den Wagen gehen und Streß machen. Willst des? Bullen und so? Glaub ned, oder?'

Erneut blickte der Mann nach oben und so etwas wie Erkennen blitzte in seinen schlauen kleinen Knopfaugen auf. 'Immerhin könnt ich als Kunstprojekt durchgehen, oder ned? Gefallener Mann ohne Maske.'

Stimmt, er hatte garkeine Maske im Gesicht! Das erklärte auch das hastige Zurückweichen der beiden anderen Männer vorhin. 

'Ja und was mach mer jetzt', fragte ich ihn ratlos. 'Magst da jetzt wirklich liegenbleiben? Ich mein, wegen mir aus und so, aber eigentlich wär's schon g'scheiter, sich wieder auf einen der Polster hinzusetzen. Der Boden ist sicher sauhart, oder?'

'Ja, dann hilfst mir halt auf, gibst ja eher doch keine Ruhe, aber mach langsam, ich bin ein alter Mann!'

Unter einigem Ächzen und Stöhnen schafften wir es tatsächlich, ihn auf einen der Sitze zu hieven, woraufhin er mit geschlossenen Augen in die Ecke sank und tief atmete. 'Diese Drecksmasken. Ins Auge ist sie mir gerutscht, ich hab nix mehr gesehen und bis ich g'schaut hab, bin ich da am Boden gelegen. Sag, hast mir vielleicht 'nen Euro für'n Bier? Hab heute noch garnich ordentlich gefrühstückt.'

Wie ich in meiner Hosentasche nach Kleingeld suchte sah ich aus dem Augenwinkel, wie ein Mann zwei Reihen weiter eine brombeerfarbene Stofftasche auf einen leeren Sitz stellte. Meine verloren geglaubten Bücher! Strahlend hielt ich meinem maskenlosen Freund einen Fünfeuroschein hin und rief: 'Schau, meine Bücher sind wieder aufgetaucht! Die hab ich nämlich vorhin vergessen beim Aussteigen und nun hab ich doch die richtige Bahn erwischt und hier sind sie wieder! Ich wünsch dir alles Gute und trink eins für mich mit!'

Beglückt griff ich nach dem Büchersackl und dankte beim Aussteigen im Stillen den Göttern, daß sie mich dazu verleitet hatten, den Mann am Boden anzusprechen. Denn wäre ich einfach wortlos der Situation entflohen, hätte ich meine Bücher und das hübsche Sackl aus Linz niemals wiedergesehen. Nicht nur werden kleine Sünden sofort bestraft, auch kleine Wohltaten werden mitunter unverhofft belohnt.
















Sonntag, 8. August 2021

Misanthropenmonolog



Ich habe mir die Eintrittskarte nun doch nicht gekauft. So sehr ich Lust auf die Darbietung hatte, so sehr hasse ich es, Teil des Publikums zu sein. Eigentlich müßte ich sagen: Ich hasse die Zuschauer. Ich hasse sie, und ertrage es nicht länger, als unbedeutendes Puzzlestückchen mittendrin zu sitzen, praktisch einer Masse zugehörig zu sein mit der ich nichts gemein haben möchte.

Wie sie sich schon vor der Vorstellung in Szene setzen als wären sie selbst die Künstler, sich gegenseitig überschreien, jeder hat es wichtig, muß unbedingt etwas mitteilen das sich sein Gegenüber mit offenem Mund anhört. Nicht weil er dem Erzähler so gebannt lauscht, nein, sondern weil er auf eine kleine Pause, eine winzige Unsicherheit des Redners wartet um sofort einzuhaken und das loszuwerden, was ihm die ganze Zeit schon selbst auf der Zunge liegt.

Je nach Lokation schaffen es manche, während dieses Vorgangs auch noch gabelweise Eßbares in sich hineinzustopfen und mit den jeweils landesüblichen Getränken nachzuspülen.

Die Herren gehen vor Beginn der Vorstellung rasch eine letzte Zigarette rauchen während die Damen sich prophylaktisch auf die Toilette begeben und dort nach Erledigung der Hauptsache vor dem Spiegel ewig an sich herumzupfen. Als ob in der Dunkelheit des Zuschauerraumes irgendwer mit der Taschenlampe umherliefe und die bestaussehende Dame mit einem Sonderpreis bedächte. Ein Meet and Greet mit dem vortragenden Künstler vielleicht, oder gar ein Abendessen mit anschließendem Matratzentest?

Fängt die Vorstellung endlich an, geht das Sich-in-Szene-Setzen lustig weiter. Am liebsten mag ich die ganz Gescheiten, die nach jeder Wuchtel zu Wiehern und zu Prusten anfangen wie ein alter Gaul, damit auch jeder der Umsitzenden und idealerweise natürlich der Künstler oben auf der Bühne mitbekommt, daß sie den Schmäh verstanden haben. Sozusagen Idealpublikumsmitglied. Intelligent genug, um das Dargebotene zu begreifen. Toll. Handelt es sich um jüngeres Publikum so wird nicht selten auch noch wild gepfiffen, der Tinnitus dankt. Nicht erst einmal habe ich wegen eines solchen Exemplars in meiner Nähe bereits während der Pause die Vorstellung verlassen müssen.

Sehr beliebt, vor allem beim Künstler, ist der Zwischenrufer. Routinierte Kabarettisten lassen sich von einem solchen nicht aus dem Konzept bringen, haben ihre Standardsätze mit denen der Übeltäter lässig beschossen wird und bald beschämt in seinem Sessel kauert. Er wird sich für den Rest des Abends nicht mehr hervortun. Beim nächsten Mal jedoch wird er es erneut probieren. Dieser Zuschauertypus rekrutiert sich meist aus unscheinbaren Gestalten, die sich damals, in der Schule, bei der Rede des Direktors in der Aula, nicht getraut haben, den Mund aufzumachen. Inzwischen aber, aus der vermeintlichen Anonymität des Zuschauerraums heraus, da geht was, da möcht' man frech werden und sich von den Umsitzenden bewundern lassen.

Ab und an beobachtet man die heimlichen Streber, die ihre Lieblingswuchteln aufnotieren und ansonsten dem Künstler gebannt an den Lippen hängen. Nicht selten sind auch sie es, die sich hinterher um ein Autogramm bemühen und solange am Hinterausgang herumwarten, bis der müde Kabarettist aus der Garderobe kommt und eigentlich nur noch eine Kleinigkeit essen möchte und dann nach Hause. Stattdessen darf er sich mit einer Schar strebsamer Bewunderinnen herumplagen, die ihn um die genaue Bedeutung dieser oder jener Textstelle fragen ... also praktisch eine private Zugabe erwarten, ohne gefragt zu haben, ob das dem Menschen dort am Bühnenausgang überhaupt recht ist.

Sie alle öden mich unendlich an. Die Vornehmen in München, die Lauten in Frankfurt, die Lustigen in Wien und die Gelangweilten auf dem Land, die meist nicht einmal genau wissen, was eigentlich gespielt wird. Hauptsache man ist dabei wenn einmal was los ist ... und dann hocken sie da wie angeleimt und klatschen nicht einmal, wenn der Künstler die Bühne betritt. Peinliches Schweigen. Die ersten Worte, zögerlich fallen sie in die begierige Meute die nur auf einen Fehler, auf einen Hänger, auf einen Versprecher lauert ... es ist zum Fremdschämen.

Nein, dazu möchte ich nicht mehr gehören. Es freut mich nicht mehr. Daher habe ich mir die Eintrittskarte nun doch nicht gekauft. Ein anderer wird sie glücklich an sich reißen und sich hoffentlich während der Vorstellung anständig benehmen.




Hinter Glas



Ich bin Lehrer. Für Deutsch, Geschichte und Religion. Und ich bin Idealist. Meistens. Ok, manchmal. Immer seltener. Dabei sind meine Maßstäbe nicht wirklich zu hoch angelegt, würde ich meinen. Aber mittlerweile ist das Niveau so gesunken dass ich mich bereits über Aufsätze wie diesen zum Thema 'Griechenland der Antike' so richtig freuen kann: 'Die alten Griechen waren alles voll die Schwuchteln. Der eine ist zwanzig Jahre mit dem Schiff rumgefahren, nur damit er seine Verlobte daheim nicht zu heiraten braucht. Der nächste hat freiwillig einen Becher mit Gift getrunken, damit er sich die Motzereien seiner Alten nicht mehr länger anhören muss, weil er lieber mit seinen Kumpels abgehangen ist als ihr daheim zu helfen. Wieder ein anderer wurde von seiner Mutter in Frauenkleider gesteckt damit er nicht in den Krieg muss, aber wie sie ihm draufgekommen sind und er doch in den Krieg musste, hat er sich gleich in den Feind verknallt aber weil er das vor sich selber nicht zugeben konnte, hat er ihn gejagt bis in den Tod und darüber hinaus.'

Orthographisch fast einwandfrei, lediglich inhaltlich ... naja. Aber wenn Sie wüssten, was ich mir manchmal anhören darf. 'Ey Lehrer, leck misch am Arsch mit deine Scheiße Grammatik, brauch isch keine Grammatik wenn isch Zuhälter bin wie meine Bruder!' Und das meinte Mehmet durchaus ernst. Saß mit seinen 16 Jahren fett grinsend wie Buddha im Klassenzimmer unter lauter 13-jährigen und guckte frech.

Beim letzten Elternsprechtag saß der kleine Rudolf Kramer aus der ersten Klasse mit seinen Eltern vor mir (unüblich, ich weiß, aber sie wollten beide gerne kommen und der Babysitter war krank geworden). Herr Kramer erzählte von einem Nachbarn, mit dem es neulich gewaltig Ärger gegeben hatte. Seine Erzählung war etwas wirr und ich fragte nach: 'Wer ist jetzt dieser Herr Matthes?' Ruft der Rudi forsch dazwischen: 'Des is der Zipfiklatscha der wos in unsara Wiesn parkt hod!'

Zipflklatscher. Ich bitte Sie! Ich musste diesen Begriff erst einmal nachschlagen. Woher kennt das Kind solche Schimpfwörter?

Meine Frau fragte immer öfter: 'Warum gehst du nicht einfach in Pension?' und betonte dabei das Fragezeichen wie ein vor hilfloser Wut verkrümmtes Ausrufezeichen. Bisher hatte ich immer abgewunken. Ich liebe meinen Beruf, das muss sie doch verstehen dachte ich, weiters hatte ich durchaus den Anspruch an mich selbst, Schlimmeres verhüten zu wollen. Die jungen Lehrer haben doch selber schon 'keinen Bock mehr' und machen lediglich Dienst nach Vorschrift. Obwohl man mir immer öfter nahegelegt hatte, zu gehen, bin ich daher weiter aktiv im Dienst geblieben. 

Aber nun, nun habe ich endgültig genug. In Bayern wurde voriges Jahr ein neues Schulfach eingeführt. Gesundheitserziehung. Da denkt man zuerst: Na klasse! Endlich mal mehr Sport, weniger Handy, gesünderes Essen, mehr Gemüse statt immer nur Pommes und Cola, aber denkste. Es handelte sich vielmehr um die Fortsetzung der Gehirnwäsche, die bereits im Jahre 2020 begonnen hatte, als sich dieses neuartige Virus zu verbreiten begann. Den Kindern wird nun eingebläut, sich 'verantwortungsvoll' zu verhalten, in den Pausen nicht mit den Schulkameraden zu spielen sondern, wann immer möglich, Abstand von ihnen zu halten. Auf dem Schulgelände sind stets die Masken zu tragen. Diese dürfen nur zum Essen oder nach der Pause, wenn die Schüler wieder am Platz sitzen, abgenommen werden, falls der Landeshauptmann und die Inzidenzen dies erlauben. Ansonsten müssen sie auch im Unterricht getragen werden. Ich kann so nicht arbeiten! Wie soll ich meine Schülerinnen voneinander unterscheiden, wenn die Hälfte Kopftuch trägt und nun auch noch Gesichtsmaske?

Händedesinfektion und täglicher Selbsttest sind Selbstverständlichkeiten geworden. Auch außerhalb der Schule sind die Kontakte einzuschränken. Wer jemanden sieht, der sich nicht an die Regeln hält, soll dies unbedingt der Lehrkraft seines Vertrauens mitteilen, gerne auch anonym. Miteinander reden oder gar lachen? Fehlanzeige. Bei Aldous Huxley gab es wenigstens noch Soma, wenn die Menschen allzu traurig wurden. Bei uns? Nichts dergleichen. Alles was Freude macht, wurde verboten und wer aus dem Fenster springen wollte - bitteschön!

Nachdem genug Impfstoff verfügbar war für alle, und dieser auch für die Kinder zugelassen worden war, wurden die Tests kostenpflichtig, was sich viele Familien nicht mehr leisten konnten. Der gut vernetzte Untergrund stellte alternative Schulformen zur Verfügung, welche von der Verpflichtung zum Präsenzunterricht entbanden. Im Prinzip eine gute Sache, wenn dort wirkliche Pädagogen zu Werke gegangen wären und nicht irgendwelche Eso-Fuzzies, die bei Vollmond in der alten Ruine oben seltsame Rituale mit einer toten Katze vollzogen. Waldorfschule Hilfsausdruck. In diesen Etablissements wurde nicht der Name getanzt, da wurden satanische Verse gelehrt, und ich war dabei, Sie können mir also unbesehen glauben, dass ich weiß, wovon ich spreche. Immer wenn man meint, es könne nicht noch schlimmer kommen, setzt die Menschheit kalt lächelnd einen drauf.

Nachdem also auch in diesen Stätten meines Wirkens nicht mehr länger war, habe ich mich schweren Herzens entschlossen, meinen Beruf an den Nagel zu hängen. Wer braucht schon Bildung. Selber denken ist schon lange unerwünscht, und um einfach nur nachzuplappern, was Lehrer, Chef oder Minister vorsagen, bedarf es keiner besonderen Intelligenz.

Seit voriger Woche arbeite ich als Tierpfleger bei den Menschenaffen im Frankfurter Zoo. Dort wird noch gelacht und rumgealbert, und die Kunst der Konversation ist ebenfalls noch nicht völlig ausgestorben, sie findet lediglich auf einer anderen Ebene statt. Ich bin zufrieden. Guten Abend!




Sonntag, 18. Juli 2021

Das langsame Sterben des Erich N.



Das Schlimmste ist die Einsamkeit. Anfangs war noch ein anderer meiner Art hier im Raum, leider ebenfalls ein Männchen. Leider deswegen, weil mir die Kraft fehlte, seine Avancen abzulehnen. Anfangs hab ich mir nichts dabei gedacht, hab geglaubt er übt lediglich das Heranschleichen und wollte mich jetzt nicht irgendwie mädchenhaft benehmen ... aber bis ich geschaut hab, war er über mir. Besser genährt war er auch, also deutlich überlegen. Spaß hat es mir keinen gemacht, aber ich wollte nicht unhöflich sein und dachte wir werden vielleicht Freunde und gehen gemeinsam Essen suchen, aber nix. Grad, daß er mich nicht aufgefressen hat, geschwächt wie ich war. Aber das machen bei uns nur die Frauen. Von daher: eigentlich Glück gehabt. Danach ist er mir aus dem Weg gegangen, obwohl weit und breit niemand da war, vor dem ich ihn hätte kompromittieren können. Vielleicht wollte er einfach nur schauen, ob noch alles funktioniert bei ihm. 

Eigentlich muß man in dieser Wohnung keinen Hunger leiden, auch wenn es keine Fliegen gibt, wegen dem Gitter an den Fenstern. Hat jedoch ein Zeitl gedauert bis ich gemerkt habe, daß in der pinkfarbenen Matratze drüben eine exorbitante Anzahl von Milben lebt, oder sagen wir mal lebte, da die lustige Gesellschaft zahlentechnisch mittlerweile deutlich reduziert ist, ohne mich selber loben zu wollen. So daß ich mittlerweile mindestens ebenso gut genährt bin wie mein Vergewaltiger, welcher jedoch mittlerweile verstorben ist, wie ich neulich mit nicht geringer Genugtuung feststellen durfte. Sah ihn mit angezogenen Beinen neben einem Bücherstapel liegen, der seit meiner Ankunft hier nicht angerührt worden ist. Die Schwerkraft ist also nicht schuld. 

Überhaupt hat man mit der Person, die hier wohnt zwar keinen Ärger aber auch wenig Freude. Sie hat keine Angst vor mir, schreit nicht, klettert bei meinem Anblick nicht auf Stühle, erstens wohl weil sie kaum Möbel hat, somit auch keine Stühle auf die sie klettern könnte, zweitens glaub ich fast sie sieht mich garnicht. Wenn man sie überhaupt einmal trifft dann murmelt sie irgendetwas vor sich hin, redet auch mit der Pflanze die dort am Fensterbrett steht, soweit ich weiß handelt es sich um eine Hibiskusblüte aber fragen Sie mich nicht, ich bin kein Botaniker. 

Soweit ich das feststellen kann, gehört die Person der unteren Mittelklasse an. Es gibt wie gesagt wenig Möbel, aber es kommt auch nie der Exekutor. Woher ich das weiß mit dem Exekutor? Na bitte, das gehört doch zur Allgemeinbildung! Schließlich ist das hier nicht meine erste Wohnung. Aber wohl meine letzte. Ich komm hier nicht mehr lebend raus, fürchte ich. Ein zwar komfortables Gefängnis, aber man muß sich nichts vormachen. Freiheit geht anders.

Oft träume ich von früher, als ich jung war und noch wirklich lebte. Draußen, in der zwar unbarmherzigen, aber herzerfrischenden Natur. Wo es Wind gibt, Regen, Jahreszeiten und vor allem andere Geschöpfe. Klar, auch Vögel und Wespen vor denen man stets auf der Hut sein muß, aber wie heißt es so schön? No risk, no fun. Hier drinnen ist immer alles gleich. Man erlebt nichts. Ich habe sogar aufgehört, Netze zu weben, es verfängt sich ja doch niemand darinnen. Nicht einmal die Putzfrau kann man damit ärgern, sie beachtet sie einfach nicht. Als wäre ich, mitsamt meiner Netze, unsichtbar geworden. Vor lauter Nichtbeachtung durchsichtiger und durchsichtiger, bis mich am Ende keiner mehr mitbekommt.

So gerne würde ich vor meinem Tod noch einmal mit jemandem reden, beispielsweise über all die erstaunlichen Dinge, die ich in den immer wieder offen herumliegenden Zeitschriften zu lesen bekomme. Aber seit Monaten habe ich niemanden mehr getroffen. So daß ich vor lauter Einsamkeit nun begonnen habe, Interviews mit imaginären Reportern zu führen. Also mit Ihnen. Nun, wer weiß, vielleicht werde ich doch noch eines Tages berühmt. Da gilt es, vorbereitet zu sein.








Sonntag, 13. Juni 2021

Mieses Rattenleben


Hartmann saß in seiner Ecke und nagte mißmutig an einem Stück Gurkensalat, das wohl jemand im Klo runtergespült hatte und das gerade verlockend um die Ecke gesegelt gekommen war. Riesenklumpen. Aber offensichtlich schonmal gegessen. Blöde Bulimiker!

So ein Rattenleben war hart, man konnte nicht jeden Tag Sandkuchen mit Schlagobers erwarten, selbst wenn man sich direkt unter dem Gulli vor der Bäckerei Felber postierte. Da fiel höchstens mal ein Stück Brezel hindurch, und das bekam dann auch nicht er sondern Ewald vom Clan der Vornamenratten. DEN hätte sich die Frau Sengl damals aussuchen sollen für ihre Ausstellung 'Die letzten Tage der Menschheit' nach Karl Kraus. Aber nein, sie mußte Onkel Sedlacek hernehmen. Seinen geliebten, redegewandten und saucoolen Onkel, den er zeitlebens bewundert und für unsterblich gehalten hatte. Hinterher wurde  frech behauptet, es seien keine Ratten für die Ausstellung getötet worden sondern man hätte die Leichen aus dem Bestand für Zuchtratten entnommen. Gelogen! Er würde ja wohl seinen Onkel erkennen wenn er ihn sah! 

Museen waren prima Futterplätze. Kinderleicht, sich dort zu verköstigen, man mußte halt nachts rein, da war die Gefahr, erwischt zu werden, relativ gering, aber ein bisserl aufpassen mußte man schon auch. Tante Navrotil aus Salzburg war da mal böse reingefallen. Sie teilte seine Vorliebe für Gurken und war, obwohl sie eigentlich unter der Festung wohnte und dort wahrhaft fürstlich von den Resten der Touristenjausen leben konnte, eines Nachts ins Museum der Moderne rüberspaziert und wollte sich an den Gurkerln von Erwin Wurm gütlich tun. Na bah aber auch!!! Hatte der die mit so einem grauslichen Zeug präpariert gehabt! Tante Navrotil hatte auf dem gesamten Heimweg gespieben wie blöd und seither keine Gurke mehr angebissen. Vorsichtshalber. 

Nicht unbedingt ein Abenteuer, dessen man sich hätte rühmen dürfen, aber wie das Leben so spielt, genau diese Geschichterln erzählen sich praktisch von selber herum und Tante Navrotil hatte sich so manches Mal böse auslachen lassen dürfen, bis ihr Erlebnis von einer anderen Sensation abgelöst worden war, nämlich vom grausamen Tod des Cousin Eder. Dieser hatte im Hause eines emeritierten Professors in Döbling gehaust und eines Nachts aus purer Blödheit dessen Sammlung alter Folianten angenagt. Böser Fehler. Der Professor hatte beinah einen Herzinfarkt erlitten und nicht geruht bis er des Banausen habhaft wurde, und solange mit dem Spazierstock auf ihn eingeschlagen bis der Arme völlig zermatscht war und ihn die Frau Sengl ned amal mehr für die Darstellung einer ihrer zu Tode verwundeten Soldaten mehr hätte brauchen können. Die Bergung von Cousin Eder war eine der gefährlichsten Missionen der Rattenheit gewesen, an die man sich erinnern konnte. Aber schließlich hatte auch er ein anständiges Begräbnis verdient. A scheene Leich, wie man in Wien zu sagen pflegte, auch wenn er wirklich nicht mehr hübsch aussah, aber das hatte er zu Lebzeiten eh auch schon nicht getan, von daher ... wurscht.

Hartmann selber hatte lange Zeit im Essl-Museum gewohnt, das hieß schon so und hatte auch immer gehalten, was es versprach. Volle Abfallkörbe allenthalben, man mußte sich nicht einmal bis hin zum Restaurant durchbeißen. Kunstinteressiert wie er war, das lag in der Familie, war er immer gerne auch mal durch die Ausstellungen geschlendert und mit einem Mal: Boff. Ein riesiger Raum voller ausgestopfter Ratten. Schock! Zuerst hatte er niemanden erkannt, war sogar seltsam fasziniert gewesen von der Skurrilität der Exponate, die von der Künstlerin in menschliche Posen gebogen worden waren ... bis ihm auf einmal glühend der Schreck durch die Glieder fuhr: Onkel Sedlacek!!! Wie er leibte und lebte, noch mit dem Sektglas in der Hand - nur war er halt jetzt tot. Tot, gebleicht und ausgestopft zur Belustigung der Menschheit ausgestellt.

Die Kletterpartie hinauf auf den Kahlenberg danach war keine lustige gewesen, aber er hatte das Museum nach diesem Schock nicht mehr betreten wollen und von irgendwas mußte er ja leben. Die guten Plätze am Kahlenberg oben waren aber natürlich schon belegt gewesen, die Vornamenmafia hatte sich auch hier bereits bestens etabliert gehabt und so blieb ihm nur die berühmte Wiener Kanalisation, wo sich die Heimatlosen einfanden, die Gestrauchelten, die Leute ohne Beziehungen und ohne Vornamen. Die an dem nagen durften, was die Menschenschaft oben durch ihre Scheißhäuser fallen ließ. Wie beispielsweise das Stückerl gespiebener Gurkensalat, das er soeben in den Pfoten hielt.

Manchmal, aber nur manchmal, fragte er sich, wie es wohl wäre, ein Mensch zu sein. Ob die sich auch klag- und kritiklos mit allem zufriedengeben mußten, was so von oben angeschissen kam? 





Sonntag, 30. Mai 2021

Fräulein Adelgunde



'I soll was bitte? Ihne geht's wohl ned guat?'
Erzürnt blickte Fräulein Adelgunde den Bürgermeister über ihre Halbmondbrille hinweg an. Korrekt gekleidet wie immer, heute im apricotfarbenen Twinset, thronte sie hinter ihrem Schreibtisch, ganz Leib und Seele der Gemeindebücherei.

'Frau Adelgunde,' warf der Bürgermeister leicht verzweifelt und mit der korrekten Anrede ein, denn Fräulein sagte man, wie so vieles andere, schon lange nicht mehr, 'Sie müssen mich verstehen, ich hab die Gesetze nicht gemacht, ich muß nur drauf achten, daß sie eingehalten werden. Und wenn die Läden und Büchereien landesweit schließen müssen, dann eben auch bei uns.'

'Ha, des meunet Se! Etzt hend mir sowieso nur am Sonndag von Neune bis Zwölfe auf, wo sollet die jonge Leut denn a Bildung härkriega, wenn mir no GARNEMME aufhend? Nur no ins Hendy gugga ond elles falsch schreiba? Jo guat's Nächtle au! Mei Bücherei bleibt auf, do miaßt mi des Kretschmännle scho persönlich raustraga, ond des schafft der ned. I bleib do hanna hocka, ond etzt ab in da Gottesdienscht mit Ihne, gäbat se a Beischpiel! Odr isch där au verboda?'

'Das nun noch nicht,' antwortete der Bürgermeister gemessen, 'und soweit wird es wohl bei uns auch nicht kommen, aber Freude macht es auch keine, mit dieser Maske stundenlang dazusitzen und zu warten, bis der Herr Pfarrer mit seiner kilometerlangen Predigt fertig ist. Wenn nur die Solistin im Chor nicht so knödeln würde ...'

'Hano, an Kunschtgenuß wia in dr Schtadt derfet Se bei ons et erwarta,' warf Fräulein Adelgunde  gespielt affektiert ein, 'abr Sie kennet ja amol selbr mitsenga, om des Niveau zu senka, no fallt des Adele nemme so unguat auf, was meunet Se?'

Die Provokation gekonnt ignorierend drehte sich der Bürgermeister desillusioniert um und verließ die Bücherei. Er hatte sein Bestes getan, nun war guter Rat teuer.

Natürlich war die Bücherei wichtig. Erst neulich hatte ihm seine Frau ganz glücklich von einem Gartenbuch erzählt, das ihr das Fräulein Adelgunde empfohlen hätte, war ganz glücklich neben seiner Sonnenliege auf- und abgelaufen und hatte ständig von 'Ausgeizen' gesprochen. Wie immer hatte er nur mit halbem Ohr zugehört und zunächst geglaubt, ganz Schwabe, es hätte etwas mit Geld zu tun das wer von ihnen wollte und das man ihnen stur nicht gibt bis sie aufhören zu nerven, aber nein, es handelte sich wohl um eine Methode, der Braunfäule bei Tomaten zuleibezurücken, und da er sehr gerne Tomatensalat aß war ihm das Gartenstudium seiner Frau natürlich durchaus recht.

Am Mittwoch darauf, in der Gemeinderatsitzung. Kekse und Softdrinks in der Mitte des großen Tisches, eine willkommene Ausrede, die Masken zum Zwecke des Mümmelns kürzer oder länger beiseitezuschieben. Großes Thema heute natürlich: Wie bekommen wir die Bücherei geschlossen ohne das Fräulein Adele unter Lebensgefahr hinaustragen zu müssen.

'I hätt do a Idee,' meldete sich der Xaver, welcher nicht nur einer der größten Bauern im Ort war sondern auch ein kleines aber feines Bordell in einem umgebauten Kuhstall betrieb. Betrieben hatte ...

'Es gott ja nur darum, daß mer von außen glauba soll, es wär ned auf. Wäga die Nachbarn ond so. Also müssemer die Adelgunde drinnen so beschäftigen, daß sie meunt es isch auf, ond sie abr garned merkt, daß keu Kundschaft kommt. Ablenkungsmanöver, sozusagen. Ond mer müsset ned in Gottesdienscht ...'

Das war natürlich ein Argument, dem sich kaum jemand entziehen wollte und die Gesichter um den Tisch lebten merklich auf. Angestrengtes Nachdenken und lebhafte Diskussionen folgten, der nächste Sonntag stand immerhin kurz bevor. 

Samstagabend saßen die Herren des Gemeinderates geschlossen Fräulein Adelgunde gegenüber. Aufgeputzt wie die Pfingstochsen, mit sämtlichen Orden und Verdienstabzeichen geschmückt, wegen der Autorität halt, hatte man sich im Hinterzimmer des Ochsen versammelt, auf dem Land nahm man es nicht so genau und außerdem war es ja dienstlich. Xaver räusperte sich vernehmlich und ergriff dann das Wort: 'Fräulein Adelgunde, wir haben eine Bitte an Sie. Wir kennen alle Ihr weiches Herz, auch wenn Sie es nur allzuoft zu verbergen wissen. Wir haben da ein kleines Problem und hoffen sehr auf Ihre Hilfe. Ehrlich gesagt, ohne Sie sind wir aufgeschmissen und hoffen sehr, daß Sie uns beistehen mögen.'

'Heilix Blechle Xaver, wenn du hochdeutsch schwätzt, no isch es wirklich ernscht. Wa hend er denn für a Probläm?', fragte Adelgunde halb amüsiert, halb besorgt.

'Es geht um einen Asylwerber. Der soll abgeschoben werden noch vor seiner Verhandlung, das geht natürlich nicht und wir wollen ihm gerne helfen. Und ich wüßte kein besseres Versteck als das Hinterzimmer der Bücherei. Natürlich dürfen wir keinen Kundenverkehr haben in dieser Zeit. Wir müßten also vorne absperren, damit er sicher ist und ihn niemand sieht', meldete sich der Bürgermeister zu Wort.

Fräulein Adelgunde erklärte sich sofort bereit, dem 'arma Bua' Zuflucht in ihrer Bücherei zu gewähren und verfügte sich stante pede nach Hause um Kekse zu backen, damit er nicht am Ende eines qualvollen Hungerstodes stürbe, bevor der Gerechtigkeit Genüge getan werden konnte. Die Herren baten den Asylwerber in Gedanken um Verzeihung (sie kannten diese Kekse aus eigener leidvoller Erfahrung) und marschierten von dannen, um den jungen Mann, dessen Schicksal ihnen erst kürzlich vom Bürgermeister der Nachbargemeinde zugetragen worden war, in seiner Unterkunft abzuholen.

So betrat noch am selben Abend, im Schutze der Dunkelheit, Arif die Gemeindebücherei und schlug dort sein bescheidenes Lager auf. Die Themen der nächsten Gemeinderatssitzung waren dem Bürgermeister der Nachbargemeinde nämlich wohlbekannt und er war brennend daran interessiert was da wohl so geredet werden würde. Er verfügte weiters über beste Beziehungen, nicht nur nach ganz oben sondern auch weit und breit im Ländle, er hatte vom Büchereidilemma des Kollegen erfahren und ganz 'uneigennützig' seine Hilfe angeboten. 

Und so begann Arif, kaum hatte man ihn mit Lebensmitteln, Decken und Kissen wohlversorgt zurückgelassen, sich mit Hilfe einer kleinen Taschenlampe einen Weg ins Hinterzimmer des Hirschen zu bahnen (welches direkt an die Bücherei angrenzte, und dort gezielt Wanzen und Mini-Videokameras zu verteilen. Sollte ihm das Anfängerglück hold sein, so würden sicher bald spannendere Aufgaben folgen hatte es geheißen. Bis dahin mußte es ihm genügen, vor der Anwältin sicher zu sein. Bis hierher würde sie ihn sicherlich niemals verfolgen. Wenn nur diese Adelgunde mit ihren Keksen nicht wäre ...







Samstag, 22. Mai 2021

Knapp entwischt ...



'Bringst noch an Speck mit vom Hofer, Annelie? Ich tät gern amal wieder Alpenglühen zum Frühstück haben???'

'Logisch Tonerl, moch I!'

Annelie, die Frau des Feuerwehrhauptmannes warf sich mit Begeisterung in ihr neues Auto, welches sie zum Geburtstag von ihrem Mann bekommen hatte, und brauste los. Inzwischen traute sie sich, den erfreulich schnellen Flitzer voll auszufahren, es konnte ihr ja nichts passieren, immerhin war ihr Mann auch der Chef der örtlichen Polizei.

Der Einkauf war rasch erledigt, vormittags waren grundsätzlich wenig Leute beim Einkaufen unterwegs, die meisten waren beispielsweise damit beschäftigt den Hund auszuführen, damit die Trümmerln dann vor den Grundstücken der Nachbarn lagen und nicht vor den eigenen, das Jackett des Ehemannes nach fremden Haaren abzusuchen oder mit dem Geigerzähler durch den Wald zu marschieren, im Fall daß die Pilze verstrahlt wären die sie sich gerade ins Körberl sammeln wollten, die wären dann immer noch als Geschenk für die Schwiegermutter geeignet.

Annelie ging beim Ausparken bereits im Kopf das Rezept für die Alpenglühen-Weckerln durch, denn Kochen war ihre Leidenschaft, Essen die ihres Mannes, und die Kunst dabei war, beides so zu verbinden, daß dennoch beide nicht noch weiter zunahmen. Dergestalt beschäftigt bemerkte sie daher auch den näherkommenden Traktor nicht, setzte, ganz in Gedanken, völlig abrupt rückwärts aus der Parklücke, und erst als neben ihr der Traktor infolge seines hastigen Ausweichmanövers halb über die Kante hängend zum Stehen kam und die Ladung sich heftig prasselnd, praktisch Steinschlag, vom umgekippten Hänger halb auf den Parkplatzboden, halb auf ihr Autodach, ergoß, wachte sie aus ihren Kochträumen auf.

'Jössas naa, wos is jetzt los? Jöh, der oame Foara!'

Der Traktorfahrer hing halb aus seiner Kabine, erst konnte sie, die sie ihm selbstverständlich rasch zur Ersten Hilfe geeilt war, sein Gesicht nicht sehen doch dann bildete sich jähes Erschrecken auf ihren trotz ihres Alters noch immer attraktiven Zügen ab. Jonas! Der Fahrer war keiner der Bauern aus der Umgegend, was schlimm genug gewesen wäre, sondern ausgerechnet Jonas! Ein ehemaliger Liebhaber aus ihrer wilden Zeit in Wien, welcher ganz in der Nähe, drinnen im Wienerwald, ein Häuschen besaß welches ihr bestens bekannt war, nicht nur von außen.

Aber was hatte er hier in ihrer Ortschaft zu suchen, noch dazu auf einem Trecker, der einen mit Steinen beladenen Anhänger hinter sich herzog? Beziehungsweise gezogen hatte ... der Traktor hing noch immer halb über der Kante Richtung Hofer, und Jonas ... der schlug gerade seine Augen auf, richtete sich stöhnend auf, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah sie an: 

'Na geh, die Annelie! Heast, wos duast denn? Seit waun host du an Schein? Vorgestern? Man schaut doch bevor man ausparkt! Na seavas, do brauch ma die Feuerwehrler, I hoff du bist gut versichert, des kost a Lawine da konnst di drauf valossn!'

'Wie geht's da denn?', fragte Annelie beschämt, 'hast dir eh nix brochn oder so? Duat ma laad, I hob an wos aundas docht ... oba wos führst a grod etzn die Staana do vuabei? So a bleda Zuafoi ...'

'Ahso, die aundan kennen di woahscheinli scho und umfahrn di prophlaktisch bereits großräumig, wos?' Sich langsam wieder zu seiner imposanten Größe aufrichtend berichtete Jonas von den Umbauarbeiten eines Freundes in seiner Nachbarschaft, dem er aktuell behilflich sei, ein paar Mauern einzureißen, da dieser eifrig dabei sei, sein Haus zu vergrößern. Wilde Partys seien geplant und sie wisse eh. Wie damals halt, im Swingerclub, nur eben privat. Tief Luft holend sah er sie an: 'I maan I mir is nix passiert, müßt ma halt den Anhänger wieder ... und den Trecker ... oba huach, do kummt schon die Feierwea ... na fesch, die san schnö. Woascheinlich immer in Bereitschaft wannst mid'n Auto unterwegs bist ha? Oba guat schaust aus, des Landlebn scheint dir zu bekommen!'

Mittlerweile war das Feuerwehrauto herbeigebraust, zum Stehen gekommen und heraus sprang ... ausgerechnet Toni ... Annelie schaffte es gerade noch, Jonas zuzuflüstern, daß sie so tun sollten, als ob sie sich nicht kennen, da ihr Mann nichts von ihren Wiener Eskapaden wisse, da standen die Männer bereits um den Traktor herum, zogen die Gurte an, sicherten was zu sichern war, während Toni sich festen Schrittes dem Führerhaus näherte. 

'Seawas, brauch man an Notarzt? Geht die Tür noch auf? Alles soweit in Ordnung sonst?' Jonas versicherte, daß ihm bis auf den Schrecken nichts passiert sei, und grinste dann hinterhältig: 'Bissl heftig, des Zusammentreffen mit der Annelie, wie früher halt, gell Annerl? Warst schon immer ein fescher Kracher.' 'Ach, ihr kennt euch?', fragte Toni erstaunt? 'Aber hallo! Sowas von. Sozusagen feststehende Bekanntschaft, haha.'

Annelie funkelte ihn erbost an, und blickte dann, wie auf eine Eingebung hoffend, auf dem Parkplatz umeinander - und tatsächlich kam, klassischer Deus ex Machina, exakt in diesem Augenblick ein Auto direkt neben dem ihren zu stehen und heraus stieg, man sollte nie glauben es könne nicht schlimmer kommen, die Chefin des Swingerclubs, in dem sie und Jonas damals verkehrt waren.

'Geh Jonas,', rief die Frau Chefin erschrocken aus, 'was ist dir denn passiert? Ganz bleich schaust aus!' Diskret wie immer sah sie immerhin davon ab, Annelie auch noch zu begrüßen, aber Toni sah mit gerunzelter Stirn dem Austausch zu, denn natürlich wußte er, wer die Frau war, in so einem kleinen Ort kennt man sich eben. Die Chefin eines bekannten Swingerclubs begrüßt mit Leidenschaft einen Mann, der seinerseits seine Annelie als alte Bekannte bezeichnet hatte? Und seine Frau, sonst wirklich nicht auf den Mund gefallen, stand daneben wie das personifizierte schlechte Gewissen? Was war da los, was wurde da gespielt? Hatte sie sich am Ende ... mit ihm dort getroffen? Auch mit anderen? Und ihm nichts davon erzählt? Er hatte sie damals als grundanständige, zwar geschiedene aber ehrbare alleinstehende Frau kennengelernt, die in einer Behörde einen Minijob hatte und sich so eher mühsam über Wasser hielt.

Toni versicherte der Frau Chefin, daß dem Jonas nichts passiert sei und bat sie, nun aber zur Seite zu treten, damit seine Männer mit der Bergung des Fahrzeugs beginnen könnten. Jonas, fies grinsend, rief ihr noch hinterher, man könne ja Annelie vielleicht ein bisserl strippen lassen, um die Männer zu Höchstleistungen anzuspornen. Vor Verlegenheit wußte diese nicht mehr, wohin sie schauen sollte, die Chefin erfaßte die Situation jedoch augenblicklich und rief laut: 'Jonas, du bist ein boshaftes Mensch. Du weißt genau, daß ich die Annelie damals nur als Kellnerin eingestellt hatte, also was soll der depperte Schmäh jetzt?'

Zu Annelie gewandt erklärte sie, deutlich und so daß Toni alles hören konnte: 'Frau Annelie, die Leut fragen immer noch nach Ihnen obwohl Sie damals immer viel zuviel anhatten. Aber sonst hat es nie eine Kritik gegeben, und ich hab Sie ja auch nur sehr ungern gehen lassen wie Sie wissen, Sie haben immer hervorragende Arbeit geleistet, immer korrekt, immer pünktlich und stets freundlich auch mit schwierigen Kunden. Aber nachdem Sie die Arbeit dort nicht mehr mit ihrem Verständnis von Anstand und Würde vereinbaren konnten ... ja, was sollte ich machen, ich konnte Sie ja nicht festbinden. Obwohl sich dafür sicher auch ein Publikum gefunden hätte ...'

Mit einem gespielt erschrockenen Räusperer aufgrund ihrer Offenheit drehte sie sich am Absatz um, und strebte Richtung Hofer. 'Bussi baba olle miteinand, I geh dann mal, heut is der Schampus im Angebot ...' und weg war sie.

Stumm starrte ihr Annelie hinterher, insgeheim die hochglänzende Fabulierkunst der guten Frau bewundernd, und wagte dann einen vorsichtigen Blick in die Richtung ihres Mannes. Dieser tat einen lauten Seufzer und meinte: 'Annerl, des hättst mir doch können erzählen, daß du dort als Kellnerin warst. Und daß du trotz deiner angespannten finanziellen Lage auf den Job letztendlich verzichtet hast, also das ist ... eigentlich ein Blödsinn gell, aber freuen tut's mich irgendwie schon. Na, jetzt hast ja mich, da mußt dich nicht mehr von solchen Grobianen beleidigen lassen!'

Fürsorglich zog er seine Frau zu deren Auto und meinte, mit einem letzten abschätzigen Blick in Richtung Traktor: 'Die Männer können das jetzt allein erledigen, ich führ dich rasch heim, nach dem Schock laß ich dich nimmer selber fahren, ned daß am End noch wirklich was passiert.'




Mittwoch, 5. Mai 2021

Einladung zum Dinner




Natürlich wisse seine Frau Bescheid, hatte er mir ernsthaft versichert. Bald würde man Goldene Hochzeit feiern und es habe für ihn immer nur diese eine Frau gegeben. Aber leider sei er trotz seines fortgeschrittenen Alters sexuell noch sehr aktiv, während seine Frau ...

Begeistert sei sie natürlich nicht darüber, daß er sich immer wieder einmal eine kleine Freundin aus den unzähligen Models herauspicken würde, die ihm im Laufe seines Fotografenlebens vor die Linse kämen, und es sei ihr auch klar, daß er mit den Mädels nicht nur ins Kino oder ins Theater ginge, sondern daß es sich hierbei um die zumindest geplante Befriedigung beiderseitig vorhandener Erregungszustände handle. Aber, so erzählte er weiter, seine Frau habe somit immerhin einen zufriedenen Mann zuhause, daher habe sie sich mit seinen Verhältnissen arrangiert. Allzu oft käme es sowieso nicht vor, das letzte Mal sei nun schon 12 Jahre her.

Tja, und zack waren meine Vorsätze, mich von verheirateten Männern fernzuhalten, den Bach hinunter. Reißender Gebirgsbach, sozusagen.

Das erste Fotoshooting lag bereits hinter uns, wir hatten uns phantastisch verstanden, viel geredet und gelacht, man merkte ihm sein fortgeschrittenes Alter tatsächlich nicht an, er war fitter als die meisten Männer die ich bisher kennengelernt hatte, obwohl diese erheblich jünger waren, teilweise sogar jünger als ich selbst. Wahrscheinlich die gesunde Bergluft im Voralpenland. 

Kurz darauf stand die nächste Verabredung an, dieses Mal eine gemeinsame Fototour in Garmisch, wo er in der Früh einen Arzttermin hatte und wir den Rest des Tages mit unseren Kameras in der Gegend umherstreifen wollten. Wie das Wetter in den Bergen nun einmal ist, zogen unversehens dicke, graue Wolken auf, die fetteste unter ihnen schien direkt über uns zu hängen, und während ich noch besorgt nach oben blickte brach plötzlich ein Platzregen los, daß es nur so spritzte.

Den Göttern sei Dank befand sich direkt gegenüber ein kleines Lokal, welches auch bereits geöffnet hatte und in das wir uns flüchten konnten. Bei Käseplatte, Oliven und Nüssen saßen wir lange in vertrauter Zweisamkeit, ich hatte mittlerweile nicht nur das Höschen ausgezogen und der Großteil meiner Kleidung dampfte auf den Heizkörpern vor sich hin. Es herrschte eine seltsam erotisch aufgeladene Stimmung, mein Oberteil war völlig absichtslos, praktisch selbständig, verrutscht, und als er in weinseliger Stimmung vorschlug, ich könne mich ja bei ihm zuhause duschen und umziehen, damit ich mir keine Erkältung holte, auf dem langen Weg nach München in den noch immer feuchten Kleidern, stimmte ich erfreut zu. Schließlich wußte seine Frau ja Bescheid.

Der Empfang bei ihm zuhause fiel dennoch etwas frostig aus, ich wollte mich daher lieber nicht lange aufhalten, doch die Frau des Hauses, ganz die Dame, bestand darauf, daß ich mit ihnen noch zu Abend äße, bevor ich mich auf den Heimweg machte. Sie hätte erst dieser Tage auf dem Friedhof frischen Bärlauch geerntet und daraus Pesto und auch Brotaufstrich bereitet, den MÜSSE ich einfach probieren und es würde schließlich daheim niemand auf mich warten, oder?

Sorgsam bestrich sie die Brötchenhälften und achtete auch darauf, daß ihr Gemahl nicht zu kurz kam. 

Was mir nicht auffiel war, daß sie den Aufstrich aus verschiedenen Gläsern entnahm. Das weiß ich erst jetzt, wo ich selber auf Wolken reite und mich an dem Regen erfreue, der aus ihnen herab auf die Welt purzelt und alles reinwäscht. Alles, bis auf die Mörder und Mörderinnen. Die tragen ihre Schuld für den Rest ihrer Existenz mit sich herum. Auch wenn man ihnen niemals draufkommt, so wie damals, im Voralpenland, wo praktischerweise jeder hinter dem Haus einen eigenen Komposthaufen hat in dem er alles vergräbt, was an Hausmüll so anfällt.














Sonntag, 25. April 2021

Vom Regen in die Traufe



Arif war stinkig. Extrem stinkig. So richtig, richtig sauer. Nach längerer Diskussion hatte er letztendlich doch dem Plan der Herren im Anzug zugestimmt. Ehre und Charakter hin oder her - immerhin war er noch relativ jung, grad einmal Mitte vierzig, und auch sonst gut beinand, warum sollte er sein Leben wegwerfen, wenn noch soviel mileage drin war im body? Und ganz ehrlich, so richtig Lust zum Sterben hatte er sowieso keine gehabt. Man mußte schon sehr couragiert sein um den Tod zu wählen, sei dieser noch so glorreich, wenn einem praktisch in letzter Minute ein verlockender Ausweg geboten wurde. 

Mit seiner pompösen Rede von Ehre und Stolz hatte er sowieso weniger sich selber erklären als hauptsächlich Miranda loswerden wollen, seine Anwältin, die sich schon SEHR an ihn geklammert hatte. Auch wenn sie es gewesen war, die ihm den Kontakt zu seinen geheimnisvollen Rettern letztendlich verschafft hatte, bedeutete das nicht, daß er sich aus Dankbarkeit von ihr mit Haut und Haar verzehren lassen mußte. Da hätte er ja fast lieber die Folter in seinem Heimatland vorgezogen, die dauerte wenigstens nicht lebenslang.

Also hatte er das Theater mitgespielt, sein Bettlaken in kunstvoller Technik zu halbwegs reißfesten Stricken geformt und hernach ausgiebig seinen Sessel drangehängt, damit die Ballistiker hinterher authentisch langgezogene Fasern finden konnten. Wenn auch keine Leiche, denn die hatte der geschickt hineingeschmuggelte 'neue Wärter' dann doch sehr rasch ins Spital bringen lassen. Der übliche Polizist vor der Türe war ebenfalls von 'der Truppe', so kam er schlußendlich hier im 'safe house' an, um auf die neuen Papiere zu warten ... und auf den Termin beim Schönheitschirurgen.

Aber das zog sich. Die Fotos für den Ausweis konnten schließlich erst NACH dem Eingriff gemacht werden. Und da mußte man drauf warten, wie das in Österreich nun einmal üblich war. Auch wenn man vom Geheimdienst war. Draußen bestes Wetter, im Häfn hätte er wenigstens eine Stunde rausdürfen über Mittag, aber hier ... nichts. Niente. Nada.

'Waßt eh, es ist besser wenn dich niemand sieht, scheiß an die Kirschblüte, die gibt's nächstes Jahr eh wieder, jetzt ist es wichtiger, daß ned no in letzter Minutn wos danebngeht! Stö da vua die Miranda kummt voabei und sicht di!' Schaudernd mußte Arif dem Mann recht geben. Dann doch lieber sich indoors fadisieren.

Leicht irritiert sah sich Arif in der armseligen Bude um, in die man ihn gesteckt hatte. Offenbar eine sonst als Ferienwohnung genutzte Immobilie. Typisch österreichisch eingerichtet. Fesche Holzsesseln um einen riesigen Eßtisch gruppiert, Servietten mit Edelweißmuster, der obligatorische röhrende Hirsch an der Wand, und im Schlafzimmer ein Riesenbildnis der Mutter Gottes wie sie segnend die Hände über die Schlafenden hielt.
Arif hatte bei dem Anblick sofort beschlossen, auf der Couch im Wohnzimmer zu nächtigen.

Nicht, daß er nicht offen gegenüber anderen Religionen gewesen wäre. Als Kosmopolit sah er das eh alles nicht so eng, aber er hatte ein Problem mit der Scheinheiligkeit vieler christlicher Europäer. Einerseits sich die Toilette von der mazedonischen Putzfrau saubermachen lassen oder sich zum Shoppen in einer von nubischen Tagelöhnern getragenen Sänfte schaukeln lassen, es völlig in Ordnung finden, diese Leute mit einem Mindestlohn abzufinden, wenn überhaupt, und sich noch großartig vorkommen wenn man ihnen ab und an was Altes schenkte, das man selber nicht mehr mochte ... aber wehe jemand fand den Sarotti-Mohren süß. Was für ein elender Rassist der doch war!!! Mohr sagt ma ned!!! Empörung hoch drei!!!

Grad hier am Land gab es Leut, die waren so hohl, die gäben wunderbare Orgelpfeifen ab. Einfach nebeneinander an die Empore nageln und aus. Brauchst keine Spenden mehr einsammeln. Die Katholischen ham eh gern soviel gequälte Leichen wie möglich in ihren Kirchen, do kamat's auf a paar mehr oder weniger ned drauf an, oder?

Plötzlich hörte er, wie von der Wohnung nebenan die Türe aufgeschlossen wurde. Neugierig linste er durch den Türspion, sah direkt in ein breit grinsendes Frauengesicht und fuhr erschrocken zurück. Kreizdeifi! Mußte die genau jetzt hergucken? Hatte sie ihn bemerkt? 

Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, erscholl seine Türklingel. Ja bestens. Was sollte er jetzt tun? Die gute Frau hatte gesehen, daß jemand zuhause war, totstellen war also nicht. Im Spiegel erblickte er sein fahles Gesicht. Jetzt war guter Rat teuer.

Beherzt griff er zur Klinke und öffnete die Türe einen Spalt. 'Ja bitte?', fragte er, um Freundlichkeit bemüht. 'San Sie der neiche Nachbar?', erscholl es von draußen? Weiterhin breit grinsend winkte ihm eine gut gebaute Dame mit extrem kurzen Haaren, er schätzte sie auf Anfang 50, zu, und sprach dann weiter, ohne auf seine Antwort zu warten. Denn wie ein Handwerker sah er wirklich nicht aus.
'Ich bräucht grad amal Ihre Hilfe, kanntn Sie kurz mit ummekommen? Ich krieg den Kasten allein ned von der Wand, mir is was hinten runterg'fallen, da komm I sonst ned hin.'

Was sollte er machen? Die Dame im Treppenhaus stehen lassen? Damit hätte er sich erst recht verdächtig gemacht. Also verließ er, einen Seufzer unterdrückend, seine Wohnung um ihr hinüber in die ihrige zu folgen. Bereits beim Eingang traf ihn beinah der Schlag. Wie sah es denn hier aus? Überall standen Kisten mit wild durcheinandergeworfenem Zeug drin, Kleider, Puppen, Stoffetzen, Werkzeug ... und am Boden stapelten sich Büchertürme. Vorsichtig folgte er der Frau in eins der Zimmer, die vom Hausflur abgingen. Auch hier sah es nicht besser aus. Wild durcheinandergeworfene Kleidung und jede Menge Büchertürme bedeckten den Boden und ließen kaum mehr Platz, um die Füße dazwischenzusetzen. Man mußte sich, so wie man sich im Japangarten von Fliese zu Fliese über den Bach hangelt, hier von freiem Fleckchen zu freiem Fleckchen hangeln. 

Und der Staub! Überall lag fingerdick der Staub! Nachdem er der Frau geholfen hatte, ihren Kasten von der Wand weg und nach erfolgreichem Aufklauben des entschwundenen Schriftstücks wieder zurechtzurücken, konnte er sich nicht mehr beherrschen, denn auch unter dem Schrank hatte es ausgesehen, frage nicht.

'Vom Saubermachen halten Sie nicht gerade viel, oder? Ab und zu mal Staubwischen wäre kein Fehler!' konnte er sich einen leisen Tadel nicht verkneifen.
Lachend drehte die Nachbarin sich um: 'Ja wos moanst! Des kommt von den Zwergenbriefen.'
'Von den Zwergenbriefen???'
'Ja genau. Die san mit Zaubertintn g'schrieben, die kannst nur gaaanz kurz lesen dann verschwindet die Tintn und der gesamte Brief zerfällt zu Staub. Also wannst viel Post kriegst, dann kommst mit dem Saubermachen nimmer nach. Man hat ja auch noch was anders zum tun, oder? I bin Künstlerin, da muß ich der Inspiration folgen und ned mit dem Putzfetzn umeinanderfeudln.'

Arif fehlten die Worte. Und das kam nun wirklich extrem selten vor. Er schlug die fröhlich vorgebrachte Einladung auf eine Tasse Tee entschieden aus (wer weiß ob es in diesem Haushalt überhaupt eine saubere Tasse gab?) und schaute, daß er in seine Wohnung zurückkam.

Die spinnen, die Österreicherinnen. Sobald er seine neuen Papiere hatte, würde er sich schleunigst vom Acker machen. Am besten rief er gleich mal seinen Kontakt an um ihn dringend darum zu bitten, ihm einen tschechischen Ausweis basteln zu lassen. Dann würde er sich irgendwo hinter dem Riesengebirge verstecken und auf seinen ersten Einsatz warten. Und sehr, sehr hoffen, daß der nichts, aber auch GARNICHTS mit irgendwelchen abgedrehten Frauen aus Österreich zu tun haben würde.

Linz, 22.7.16



















Sonntag, 11. April 2021

Alles eine Frage der Ehre



'I killed the wrong man!'

Postenkommandant Huber starrte mit offenem Mund auf den Mann, der sich vor dem Schutzglas aufgebaut hatte und ihn seinerseits anblickte ohne mit der Wimper zu zucken. Hatte er richtig gehört? Der Mann hatte sich soeben des Mordes bezichtigt? Und wieso am falschen Mann? Vor allem: Was sollte er jetzt tun? Englisch war nicht seine starke Seite und mit Mördern hatte man hier in Kaumberg praktisch keine Erfahrung. Nicht einmal in St. Pölten. Gemordet wurde, wenn überhaupt, in Wien. Großstadt und so. Aber doch nicht in seinem beschaulichen kleinen Dörfchen, unterhalb der Araburg, wo die Frau des Feuerwehrhauptmannes mit Schwung die Gemeindebibliothek betrieb und ansonsten gerne und gut für das leibliche Wohl der Feuerwehrleute und auch der Polizisten sorgte, denn der Feuerwehrhauptmann war gleichzeitig der Polizeichef.

Aber ans Essen durfte Huber jetzt nicht denken, er hatte einen Mörder vor der Scheibe stehen, und er konnte nicht einmal seinen Chef rufen ... der war nämlich grad daheim ... beim Essen!

'Are you ... äh ... do you have ze Puffn, ze pistol wis you?', wagte Huber sich an die Befragung des Verdächtigen.
Ein Muskel zuckte leicht an dessen linker Wange, ansonsten blieb seine Miene unbewegt als er antwortete: 'My friend, do not fear me, I am a broken man. I killed the wrong target. I have no weapon with me now. Please arrest me, I must atone for my sin.'

Mit diesen Worten streckte er Huber seine Unterarme hin, praktisch als Aufforderung, ihm die Handschellen anzulegen.
Mit Todesverachtung wagte sich dieser aus seinem Kabuff heraus und verbrachte den Mann ordnungsgemäß in die Arrestzelle. Aber wie sollte er jetzt die Personalien in das offizielle Protokoll übernehmen? Der mutmaßliche Täter hatte den Fragebogen auf arabisch ausgefüllt!!! Und ihn danach, dieses Mal mit einem offensichtlichen Grinsen im Gesicht, durch die Gitterstäbe gereicht.
Huber konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß man sich über ihn lustig machte. Genervt und gestreßt begab er sich wieder auf seinen Platz und sehnte, zum ersten Mal seit seiner Zeit als Lehrling in Traiskirchen, die Rückkehr seines Vorgesetzten herbei.

Zwei Tage später im Innenministerium von Karl dem Großen. Eine Frau im edlen Kostüm und zwei Männer im Anzug an einem Besprechungstisch sitzend, in eine hitzige Debatte verwickelt.

Einer der Männer, noch immer außergewöhnlich freundlich, wandte sich erneut an die Frau: 'Schauen'S, es ist aso: Ihre private Meinung in allen Ehren, aber umbrocht is umbrocht, und des geht ned. Ned bei uns in Österreich. Daham kennan die Tschuschn mochn wos woin, oba ned bei uns, heast!'

'Ich habe Ihnen doch gerade erklärt,' echauffierte sich die Frau, 'daß es sich bei dem Getöteten um ein übelstes Subjekt gehandelt hat, der seine Frau böswillig unterdrückt und mißhandelt hat. Dafür sollen wir den Mann jetzt bestrafen? Daß er die Welt von so einem ... ach was Menschen, von so einem Monster befreit hat? Außerdem hat er sich selber gestellt, wir wären ihm doch sonst nie daufkommen. Never ever. Der Mann hat Schneid, forgive the pun, aber wie der mit dem Messer umgehen kann, ich bin begeistert! Den können wir doch an vorderster Stelle einsetzen! Was für eine Verschwendung, solch einen Mann lebenslänglich einzusperren oder ihn gar an den Feind zurückzugeben, wo man ihn lediglich zu Tode foltern wird.

Ich wiederhole hiermit meinen Antrag, diesem Mann eine neue Identität zu verschaffen und ihn dem Heeres-Nachrichtenamt zuzuführen. Spricht perfekt Englisch, Arabisch und auch Deutsch, ist bestens ausgebildet im Nahkampf, und vor allem: hervorragende Manieren! Beherrscht sogar den Handkuß.'

'Frau Magister, bei allem Verständnis, aber auch wenn ein Mörder den Handkuß beherrscht, bleibt er ein Mörder. Do foaht die Eisenbahn drüber. Sie können ihm ja einen Liebesbrief schreiben, wie dereinst die Damen dem Herrn Unterweger, aber wir können den Mann doch jetzt nicht in unsere Reihen aufnehmen, nur weil er Ihnen g'foit! Wo kamat ma denn do hin wenn a jeder seine Günstling bei uns einführn woitat!'

'Wir wollen keine überstürzten Entscheidungen treffen,' beschwichtigte der zweite Mann den Aufgebrachten. 'Lassen Sie uns die Sache einmal überschlafen, wir treffen uns morgen noch einmal, selbe Zeit, selber Ort, und ich werde mir den Burschen zwischenzeitlich einmal ansehen, warum nicht. Anschaun kost nix. Habe die Ehre, Frau Magister, Herr Kollege, auf Wiederschaun!'

Zwei Tage später in der Justizanstalt St. Pölten. Besucherraum. Arif saß stolz aufgerichtet auf seinem unbequemen Plastiksessel und sah der Anwältin fest in die Augen: 'Ich bleibe bei meiner Aussage. Ich werde meine Strafe annehmen wie ein Mann. Ich hatte das Gebäude mit der Absicht betreten, eine andere Person zu töten, es handelt sich um eine bedauerliche Verwechslung. Meine Organisation wird die Konsequenzen ziehen, ich werde mich deren Entscheidung beugen. Ich habe versagt.'

'Aber Arif! Denk doch was wir für ein aufregendes Leben zusammen hätten wenn du mein Angebot annehmen würdest! Du wärst ein romantischer Held und ich deine Marian, du wärst ein Künstler, ein Dichter, der Erschaffer eines völlig neuen Zeitalters und ich deine Muse! Arif ich bitte dich, bei allem was dir heilig ist, wirf das doch nicht einfach weg! Bedeute ich dir denn garnichts??'

'Verzeih mir Miranda, du meinst es nur gut, ich verstehe dich und ich erkenne an, wie schwer es einer starken Frau wie dir fallen muß, sich so zu erniedrigen vor einem Mann. Jedoch: My answer is no. Es ist eine Frage der Ehre.'

'Ehre, Arif? EHRE??? Deswegen wirfst du unsere Liebe und dein Leben so leichtfertig weg? Nur weil du den falschen Typen abgeknallt hast und dabei doch den richtigen erwischt hast? Ich mein, das eigentliche Opfer kann ja immer noch wer anders ... ich BEGREIFE dich einfach nicht!'

'Ein clash of cultures liebe Miranda. Bitte mach es mir und dir nicht schwerer als es unbedingt sein muß,' erwiderte der Mann und erhob sich steif aus seinem Sessel.
'Gehe nach Hause und studiere Arthur Schnitzler, vielleicht kannst du dann annähernd begreifen, warum ich so handeln muß. Leb wohl Miranda ...'

Mit diesen Worten wandte er sich ab, gab dem wachhabenden Beamten ein Zeichen und, ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er hocherhobenen Hauptes den Raum, jeder Zoll der stolze Wüstensohn, während Miranda noch lange wie erstarrt dasaß bis der Beamte sie grummelig aufforderte, die Anstalt zu verlassen, die Besuchszeit sei vorbei. Sie wußte, ihr Leben würde ab jetzt nur noch in Monochrom ablaufen, mühsam ratternd wie ein kaputter alter Film. Farblos, tonlos, freudlos.

Zwei Tage später, die Frau des Kaumberger Polizeichefs goß sich gerade ihr abendliches Glas Prosecco ein, tat ihr Mann plötzlich einen so lauten Pruster über seiner Zeitung, daß sie zusammenzuckte und eine nicht unbeträchtliche Menge des kostbaren Nasses danebengoß.

'Heast Tonerl, wos is denn? Hod's an neichn Dodn gehm? Oba des wissatn mia doch ois Ersta, oda ned?'

'Der Araber, kannst dich an den Araber erinnern mit dem unser Huber so ein G'frast g'habt hat, weil der so getan hat, als ob er kein Deutsch könnt und der Huber is bald verzweifelt mit ihm? Du der hat sich in seiner Zelle in Pöltn drüben aufg'hängt. Frag mich bloß womit. Des san schlaue Hund, die Araber,von denan kanntn mir no wos lernan ...'