Sonntag, 5. Dezember 2021

Kontaktlos reisen?



Wer mich kennt weiß, daß ich sehr gerne lese. Zu meiner Wonne lebe ich in einer großen Stadt, in der man in fast jedem Viertel einen Bücherschrank finden kann, manchmal sogar mehrere. So griff ich auch heute, nach meinem Besuch im Nordbad, erfrischt wenn auch etwas fröstelnd in der kalten Dezemberluft, beherzt mehrmals in den Bücherschrank, der freundlicherweise direkt vor der in einem klassischen alten Gebäude untergebrachten Badeanstalt aufgebaut war. Einer der ersten Bücherschränke übrigens, der in unserer Stadt errichtet worden war.

Bepackt mit meinem Rucksack, der großen Tasche mit dem Bademantel und dem nur marginal kleineren Büchersackl wankte ich zur nächstgelegenen Haltestelle um nach Hause zu fahren. Kaum hatte ich die U-Bahn betreten, hörte ich eine unflätige Männerstimme lauthals fluchen: 'Du Fotze, du dreckige Fotze, schaut euch die Schlampe an!'

Mir fuhr der Schreck in alle Glieder denn für einen Moment glaubte ich, er meine am Ende gar mich, da ich in letzter Zeit einige sehr unschöne Erlebnisse in den Öffis gehabt hatte. Aufgrund der Tatsache, daß ich mich beharrlich weigerte, eine FFP2 Maske zu tragen, fühlten sich immer wieder Leute bemüßigt, mich über die aktualisierte Maskenpflicht zu belehren. Warum??? Schließlich habe ich meinen Impfausweis stets dabei und bin obendrein meist frisch getestet, sonst hätte ich ja z.B. auch das Nordbad nicht betreten dürfen - und ich trage immerhin eine chirurgische Maske um die Allgemeinheit vor meinem Giftatem zu beschützen - wovor hatten die Leute also Angst? Oder ging es einfach nur darum, recht zu haben und zu behalten? Die wahre Krankheit unserer Zeit? Erst wenige Tage davor hatte beispielsweise ein Mann mit dem Finger auf mich gezeigt und laut durch den gesamten Waggon geplärrt: 'DAS IST DIE FALSCHE MASKE!'

Sagt wer? Die Dummheit mancher Leute ist schon immer fast grenzenlos gewesen, und in dieser Zeit der Krise kommt diese Flachheit des Denkens einmal wieder prachtvoll zum Vorschein. Kein Wunder also, daß ich mich von den Beschimpfungen des weiterhin ordinär fluchenden Mannes in diesem Augenblick persönlich betroffen fühlte. Still setzte ich mich auf einen Platz, zog den Kopf ein und verstaute mein Handy im Rucksack, so daß ich für den Fall eines Kampfes die Hände frei hatte.

Offenbar jedoch stänkerte der Mann ganz allgemein dort hinten umeinander und ich begann, mich wieder ein wenig zu entspannen, wenn auch weiterhin ein diffuses Gefühl der Bedrohung und ein starkes Unbehagen blieb, denn der Stänkerer hörte nicht und nicht auf, umeinanderzukrakeelen, und ohne Brille wollte sich mir auch beim vorsichtigen Blick nach hinten nicht mehr erschließen als ein verschwommenes Gewirr von bunt gekleideten Leibern. Vorhölle, sozusagen.

Endlich oben im Norden der Stadt angekommen stolperte ich hastig aus dem Wagen, doch erst in dem Moment, in dem sich die Türen von lautem Signalton untermalt schlossen, stellte ich fest, daß ich mein Büchersackl unter meinem Sitz vergessen hatte! Hilflos mußte ich bei einem letzten Blick ins Wageninnere mitansehen, wie es ohne mich weiter Richtung Norden fuhr.

Zornig stapfte ich die Stufen hinauf ins Einkaufszentrum, wo ich in der Apotheke ein Medikament abzuholen hatte. Wie kopflos von mir! Die schönen Bücher! Unwiederbringlich verloren!

Natürlich wird der geneigte Leser jetzt einwenden können, daß ich die Bücher ja gratis bekommen hatte und daher kein materieller Verlust entstanden war - aber wer Bücher liebt der weiß, wie man sich über jedes einzelne freut und der Verlust auch dann spürbar schmerzt, wenn man keine Lawine dafür hat bezahlen müssen wie es früher grundsätzlich der Fall gewesen war.

Aber halt, war denn da garnichts mehr zu machen? Konnte ich denn nicht die Bahn wieder abfangen wenn sie an der Endstelle umgedreht war und zurück in die Stadt fuhr und diese auf der Suche nach den verlorenen Büchern von vorn nach hinten durchschreiten? Es war den Göttern sei Dank ein durchgehender Zug gewesen, keine aus einzelnen Waggons bestehende Garnitur, somit sollte sich die Suche innerhalb einer Haltestelle erledigen lassen.

Gesagt, getan, hoffnungsvoll begab ich mich wieder hinab ins Untergeschoß und wartete auf den nächsten Zug in Richtung Stadt. Welcher nach acht langen Minuten endlich kam (es war Samstag). Unter jeden Sitz blickte ich, die Leute sahen mich bereits seltsam an, bis ich auf einmal jäh zum Halten kam. Vor mir auf dem Boden lag ein Mann. Mitten auf dem Gang. Ob er betrunken war oder ganz einfach nur so gestürzt war, konnte ich natürlich nicht feststellen, aber er war alt, wie der zerrupfte graue Haarkranz verriet, der unter der verrutschten Mütze hervorlugte.

Erschrocken blickte ich um mich, sah noch wie einer der Umsitzenden dem Unglücklichen das Handy reichte, das ihm wohl beim Sturz entglitten war, und sich dann, genau wie der zweite ebenfalls anwesende Mann, wieder in das Seinige vertiefte. Ja und nun? Mußte man nicht helfen? Und wenn ja, wie? Was konnte ich tun? Nachdem ich keinen Führerschein besitze, habe ich auch nie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und stand der Situation völlig hilflos gegenüber. Sollte ich einfach aussteigen und so tun, als ob ich nichts gesehen hätte? Was sicherlich am Einfachsten gewesen wäre. Aber konnte man den Mann einfach so liegen lassen?

Vorsichtig, um nicht auch noch während der rüttelnden Fahrt den Halt zu verlieren, beugte ich mich zu dem Mann hinunter und fragte: 'Haben Sie sich was getan? Kann ich Ihnen aufhelfen oder haben Sie irgendwo Schmerzen?'

Schließlich bestand ja immer die Gefahr, daß man eine Fraktur disloziert, wenn man einen Gestrauchelten einfach so bewegt. Am Ende wäre er querschnittsgelähmt und ich wär schuld!

Mit verschleiertem Blick, der mich an meinen langjährigen, leider mittlerweile am Alkohol verstorbenen Freund erinnerte, sah der Mann mich lange an und meinte leise: 'Laßt mich doch alle in Ruhe ihr scheinheiligen Gutmenschen. Willst dir wohl ein Fleißbildchen vom lieben Gott abholen, was? Ich bin einfach müde und habe es mir hier ein Weilchen gemütlich gemacht. Hast ein Problem damit?'

Ich war baff. Getroffen ließ ich mich auf den Sitz neben seiner ausgestreckten Figur fallen und starrte ihn an. 'Naja', antwortete ich nach einer Weile 'es wird wohl deines Verweilens hier nicht viel länger sein mein ich mal, spätestens an der nächsten Endstelle wird der Fahrer durch den Wagen gehen und Streß machen. Willst des? Bullen und so? Glaub ned, oder?'

Erneut blickte der Mann nach oben und so etwas wie Erkennen blitzte in seinen schlauen kleinen Knopfaugen auf. 'Immerhin könnt ich als Kunstprojekt durchgehen, oder ned? Gefallener Mann ohne Maske.'

Stimmt, er hatte garkeine Maske im Gesicht! Das erklärte auch das hastige Zurückweichen der beiden anderen Männer vorhin. 

'Ja und was mach mer jetzt', fragte ich ihn ratlos. 'Magst da jetzt wirklich liegenbleiben? Ich mein, wegen mir aus und so, aber eigentlich wär's schon g'scheiter, sich wieder auf einen der Polster hinzusetzen. Der Boden ist sicher sauhart, oder?'

'Ja, dann hilfst mir halt auf, gibst ja eher doch keine Ruhe, aber mach langsam, ich bin ein alter Mann!'

Unter einigem Ächzen und Stöhnen schafften wir es tatsächlich, ihn auf einen der Sitze zu hieven, woraufhin er mit geschlossenen Augen in die Ecke sank und tief atmete. 'Diese Drecksmasken. Ins Auge ist sie mir gerutscht, ich hab nix mehr gesehen und bis ich g'schaut hab, bin ich da am Boden gelegen. Sag, hast mir vielleicht 'nen Euro für'n Bier? Hab heute noch garnich ordentlich gefrühstückt.'

Wie ich in meiner Hosentasche nach Kleingeld suchte sah ich aus dem Augenwinkel, wie ein Mann zwei Reihen weiter eine brombeerfarbene Stofftasche auf einen leeren Sitz stellte. Meine verloren geglaubten Bücher! Strahlend hielt ich meinem maskenlosen Freund einen Fünfeuroschein hin und rief: 'Schau, meine Bücher sind wieder aufgetaucht! Die hab ich nämlich vorhin vergessen beim Aussteigen und nun hab ich doch die richtige Bahn erwischt und hier sind sie wieder! Ich wünsch dir alles Gute und trink eins für mich mit!'

Beglückt griff ich nach dem Büchersackl und dankte beim Aussteigen im Stillen den Göttern, daß sie mich dazu verleitet hatten, den Mann am Boden anzusprechen. Denn wäre ich einfach wortlos der Situation entflohen, hätte ich meine Bücher und das hübsche Sackl aus Linz niemals wiedergesehen. Nicht nur werden kleine Sünden sofort bestraft, auch kleine Wohltaten werden mitunter unverhofft belohnt.
















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