Sonntag, 7. Juni 2020

Wenn Bücher sprechen könnten ...



Darf ich mich vorstellen? Ich bin ein Buch. Ein sehr, sehr altes Buch, das seit einiger Zeit im offenen Bücherschrank neben der St-Agnes-Kirche im Münchner Norden sitzt. Jeder darf sich hier Bücher nehmen und natürlich auch welche bringen.

Manche von uns werden, kaum daß sie gebracht wurden, schon wieder mitgenommen, andere, so wie ich, sitzen schon sehr lange hier. 

Die Kirchenglocke schlägt alle 15 Minuten, eine Erinnerung daran, daß die Zeit vergeht. Was für ein so altes Buch wie mich natürlich höchst irrelevant ist. Was bedeutet mir ein Jahr, ein Monat, ein Tag oder eine winzige Viertelstunde? 

Vor der Kirche steht, inmitten duftender, blumendurchsetzter und bienenumsummter Gräser, die in diesem März bei dem feinen Wetter fast schon eine Sommerwiese bilden, eine Bank, auf der ich ab und an, vor allem am Wochenende, ein älteres Paar beobachten durfte, offenbar schon lange verheiratet, die sich dort niederließen um in einem der Bücher aus unserem Schrank zu blättern bevor sie es wie einen Schatz einpackten und langsam miteinander davonhumpelten. Hand in Hand, und niemals ein böses Wort gewechselt. Unglaublich, welche Rührung mein altes Bücherherz noch zu empfinden in der Lage ist, dachte ich bei mir.

Während der Woche hörte ich fast den ganzen Tag Kindergekreisch aus der nahegelegenen Schule oder vom gegenüberliegenden Kinderhort, nur übertönt vom stetigen Rollen des Autoverkehrs. Nicht sehr angenehm, aber Gottes Wege sind unergründlich und niemand hat einen Einfluß darauf, wohin das Leben einen trägt.

Eines Tages jedoch verstummte die unselige Kakophonie, mein altes Pärchen kam nicht mehr, und selbst am Sonntag blieb die Kirche leer. Was war geschehen? Wieder einmal ein deutscher Weltkrieg?

Das eine oder andere Auto fuhr nach wie vor die Straße entlang, auch eilte hier und da ein Fußgänger mit eingezogenem Kopf und scheuem Blick vorüber, die meiste Zeit jedoch herrschte grandiose Stille. Welche ich, ein Buch, das noch an die staubgesättigte Ruhe wahrhafter Büchereien gewohnt ist, natürlich sehr genoß. 

Ich hörte die Vögel singen, die Bienen summen, ein wunderbarer lautloser Frieden lag über allem - lediglich die Kirchenuhr erfüllte weiterhin unermüdlich ihre Pflicht und erinnerte jede Viertelstunde daran, daß die Zeit weiterlief. Man hätte es sonst wohl vergessen können und sich in der seligen Ewigkeit wähnen.

Wäre da nicht diese eine Frau gewesen, die fast jeden zweiten Tag kam um uns zu besuchen. Obwohl ich mich mittlerweile an meinem Platz wirklich wohlfühlte, erwachte doch bei ihrem Anblick jedes Mal die Hoffnung in mir, daß sie mich erwählen möge. Sie schien mir jemand zu sein, der Bücher zu schätzen wußte und sie pfleglich behandeln würde. Woran ich das zu erkennen glaubte? Nun, sie war anders. Wühlte nicht mit gierigen Händen und starrem Blick durch die Reihen, lediglich nach den neuen Büchern greifend und alles verschmähend was einen Stempel trug oder gar beschädigt war. Nein, sie schenkte jedem von uns ihre Aufmerksamkeit, besah sich den Umschlag, blätterte ein wenig hier oder da ... aber leider war ich niemals unter den Glücklichen, die in ihrer Tasche verschwanden und mit ihr nach Hause durften und ich war nach jedem Besuch seltsam niedergeschlagen. Wenn Bücher weinen könnten, hätten meine Nachbarn und ich nicht selten nasse Füße bekommen. Zurückweisung schmerzt auch ein altes Herz nicht unerheblich.

Andererseits gefiel es mir immer besser, einfach nur im Bücherschrank zu sitzen, völlig ohne Verpflichtungen, ohne sich in einem Büro die ständigen Telefonate und Brainstormings anhören zu müssen, ohne die Angst, von Kinderhänden zerfleddert und beschmutzt zu werden, ohne Gebrüll und Lärm, der meine arme Seele stets aufs Grausamste plagte.

Einfach nur dazusitzen, mit Aussicht auf die sonnenbeschienenen Pflastersteine des Kirchhofs die kaum mehr jemand betrat, nichts mehr zu denken, nichts mehr zu wollen, einfach nur zu sein.
Welch pure, ungetrübte Glückseligkeit ...





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