Sonntag, 5. April 2020

Es hat sich ausgelinzt



'Sie wissen, warum Sie hier sind, Herr Nyfzgen?'
'Nein', antwortete ich betroffen. 'In der Vorladung stand lediglich Ort und Uhrzeit, kein Grund.'
'Und Sie können es sich auch nicht denken? Sie sind doch sonst immer so schlau, quatschen die Leute voll und verbreiten Ihre Ansichten in sämtlichen Foren?'

Mir wurde flau im Magen. Hatten die mein Telefonat mit Hanna neulich abgehört, in dem ich mich ausführlich über den Staat und dessen neuesten Machenschaften ausgelassen hatte?

'Sie haben wirklich keine Ahnung Herr Nyfzgen, was? Nun, so lassen Sie mich zur Sache kommen.'
'Ich bitte darum ...' entgegnete ich schwach.

'Wie Sie sich erinnern, hatten Sie sich damals geweigert, diese App auf Ihrem Handy zu installieren, mit deren Hilfe wir den Lockdown vorzeitig beenden konnten und die Leute ihr gewohntes Leben zumindest teilweise wieder aufnehmen konnten. Nicht sehr sozial von Ihnen, aber gut. War ja freiwillig.'

Sein Telefon begann in diesem Augenblick auf der funkelnd polierten Schreibtischplatte umherzutanzen, irritiert blickte er aufs Display und bellte hinein: 'Ich hab Ihnen doch gesagt Fräulein Schneider ... WAS??? Er hat WAS??? Gut, stellen Sie durch ...'
'Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen,' rief er über die Schulter in meine Richtung, während er bereits die Klinke seiner Bürotüre in der Hand hielt, 'bin sofort wieder bei Ihnen.'

'Kann's kaum erwarten', murmelte ich vor mich hin und fragte mich, zum x-ten Male, was denn der Beamte von mir wollen könnte. Amt für Verfassungsschutz. War ich ein Spion? Nein. Hatte ich irgendwas mit Terroristen oder so zu tun? Nein. Was zum Henker ...

Damals, im Frühsommer vorigen Jahres, waren die Bürger nach Wochen des Eingesperrtseins langsam aber sicher an ihre Grenzen gelangt. Selbst die, die noch Arbeit hatten, also eh nicht den ganzen Tag daheim zu hocken hatten, riefen immer lauter nach einem Ende des Lockdowns. Auch wenn ich nicht unmittelbar betroffen war, denn mein Job im Krankenhaus war sicher und ich war sowieso dezidiert misanthropisch veranlagt, war es auch für mich kein Spaß gewesen, auf einmal niemanden mehr treffen zu dürfen. Es ist immer ein Unterschied, ob man freiwillig auf die Gesellschaft anderer Leute verzichtet oder ob man den Verzicht von oben diktiert bekommt.

Ins Internet zu gehen war bereits nach kurzer Zeit keine gangbare Alternative zur persönlichen Konversation mehr, da sich dort genau die Leute tummelten, die im wirklichen Leben nichts zu sagen hatten, nun dafür aber alles besser wußten und andere bei jeder Gelegenheit aufs Heftigste beschimpften. Nicht gut, wenn die Nerven sowieso schon blank liegen.

Auch draußen war der immerhin noch erlaubte Spaziergang keine Freude mehr. Die Menschen machten weite Bögen umeinander herum, niemand schaute den anderen mehr an, als ob Blicke bereits töten könnten, jeder hastete mit gesenktem Kopf durch die Natur und war froh, wenn er seine Türe wieder hinter sich zumachen und tief Atem holen konnte. Die Stay-at-Home-Fraktion belauerte ihre Umgebung auf Schritt und Tritt, keine fünf Minuten konnte der Spaziergänger mehr auf einer Bank sitzen ohne daß jemand die Polizei anrief und diesen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz meldete. Und wehe jemand bekam Besuch. Da konnte man sicher sein, daß nach spätestens zehn Minuten ein Beamter vor der Türe stand, den ausgefüllten Erlagsschein bereits in der Hand. Paradoxerweise waren es genau diejenigen, die am lautesten nach Solidarität schrien, die dann ganz vorne mit dabei waren wenn es darum ging, andere Menschen hinzuhängen. Wir alle müssen uns an die Regeln halten, lautete die Parole. Da kannte der deutsche Bürger nix. 

Der Himmel über unserer Kleinstadt war trübe geworden, die Vögel ungewöhnlich still. Der Frühling verhallte weitgehend unbemerkt.

Ostern war es besonders schlimm. Erklär mal einem Sechsjährigen, wieso er nicht, wie im Vorjahr, mit den anderen Kindern Eier suchen gehen durfte. Oma weinte am Telefon und konnte nicht begreifen, warum man sie nicht mehr besuchen kam. Das Wort Pandemie sagte ihr nichts, sie wollte ihren Enkel sehen, solange dies noch möglich war! Meine Briefe konnte sie schon lange nicht mehr lesen, die Augen wollten nicht mehr so recht, und die freiwillige Helferin, die ihr bisher ihre Post erledigt und auch mal aus einem Buch oder der Zeitung vorgelesen hatte, durfte aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht mehr zu ihr. Bald darauf ist sie aus Gram gestorben. Die Beerdigung fand im kleinsten Kreise statt, der Mindestabstand wurde eingehalten, der Leichenschmaus fiel natürlich aus. Bedrückt gingen wir unserer Wege und fragten uns: Wie lange noch?

War es verwunderlich, daß ich voller Wut war auf diese Zustände, die meiner Meinung nach von gewissen gierigen Industriellen herbeigeführt und von der Politik aus Eigeninteresse billigend in Kauf genommen wurden? Die Duldsamkeit, mit der die meisten anderen diese einschneidenden Restriktionen über sich ergehen ließen fand ich abnormal, die Zahlen, mit denen sie uns in einer Tour bewarfen waren unsauber hochrechnet, die 'Fakten' erschienen immer unglaubwürdiger, Mahner wurden als Verschwörungstheoretiker und Leugner bezeichnet und ausgebuht. Es war zum Ausrasten. Was ich gelegentlich auch tat, ich gebe es zu.

Jedoch litten bald alle unter den Umständen, jeder auf seine Weise - und so hatten es die Menschen natürlich wundervoll gefunden, endlich wieder ohne Begründung und Restriktion ihre Wohnungen verlassen zu dürfen, ungehindert zum Friseur, ins Theater und ins Museum zu gehen, oder gar spontan in ihre Autos oder den Zug zu steigen zu um einen kleinen Ausflug in den Biergarten zu machen. Auch wenn das Oktoberfest fix abgesagt worden war, a Moß ging alleweil, und das war die Hauptsache. Prost alleweil und no aane auf die Madln mit die festn Wadln!

Die Lockerung der Ausgangsbeschränkung erfolgte allerdings unter einer Bedingung: Nur wenn mindestens 60% der Bevölkerung sich bereit erklärten, sich diese neue App aufs Handy zu laden, mittels derer jederzeit überprüft werden konnte, wo sie sich zu welcher Zeit aufgehalten und mit wem sie Kontakt gehabt hatten, war man bereit, ihnen ihre Freiheiten wiederzugeben.

Daß auf einmal keine Rede mehr war von den vielen Tausend Toten, die unbeschränktes Umherlaufen der Bürgerschaft unweigerlich zur Folge haben würde, und von der Verantwortung die wir alle mittragen müßten und aufgrund derer man auf KEINEN Fall den Lockdown vorzeitig beenden dürfe, fiel niemandem auf. Einfach App drauf und raus in die Freiheit, juchhee!!!

Der Beamte, der sein Telefonat am Gang inzwischen beendet hatte, riß mich aus meinen Gedanken, indem er sich jovial mir gegenüber auf seinen Sessel plumpsen ließ und mich mit blitzenden Zähnen angrinste:
'So, Herr Nyfzgen, wo waren wir stehengeblieben? Richtig, die App. Sie hatten doch wohl nicht geglaubt, daß wir uns damit zufriedengeben würden, die Überwachungs-Software nur bei den Leuten zu installieren, die 'nichts zu verbergen' hatten? Grad die anderen waren ja interessant. Haben Sie also garnicht bemerkt, Sie kleiner Klugscheißer, daß wir beim nächstbesten Update auch bei Ihnen ein kleines Spiönchen reingedonnert haben, was? Tja, für Spionage sind wir ja die Experten, hihihi ...'

Mann, hatte der sich jetzt am Klo 'ne Nase gegeben oder was war auf einmal los mit ihm? Der kriegte sich ja vor lauter Heiterkeit nicht mehr ein.

'Und bevor Sie jetzt dann nach Hause marschieren', fuhr er grinsend fort, 'und ihr Handy entsorgen, lassen Sie sich gesagt sein: Das nutzt nix. Wie sie ja bereits beim Kauf ihrer vorigen SIM-Card auf sämtlichen Kanälen erbost kundgetan hatten - jaja wir schreiben alles mit - ist der Kauf einer solchen Karte nur unter Vorlage des Ausweises möglich. Welcher kopiert und eingeschickt wird. Noja, und schwupps, schon ist die Software auch auf dem neuen Handy drauf. Sie gehören übrigens zur blauen Kategorie. Das ist noch nicht so wild wie violett, aber schon kurz vor bedenklich. Und somit kommen wir zu dem Grund, warum ich Sie heute hier vorgeladen habe. Nicht, um Sie zu warnen. Da hätt ich viel zu tun, ich wollte mir einfach nur Ihr dummes Gesicht anschauen wenn Sie hören, daß Sie uns trotz allen Widerstandes nicht auskommen können, haha köstlich, man gönnt sich ja sonst nix. Nein, ich habe Sie hierherbestellt um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Sie ihre Punktzahl für dieses Jahr fast erreicht haben und wenn Sie sich nur noch das kleinste Bissl zuschulden kommen lassen dann ... aber hallo! Da brauchen Sie jetzt kein arrogantes Gesicht zu machen, Herr Oberschlau. Ve haff our vays ... und wer nicht spurt der muß fühlen.

Und ich red jetzt nicht von Ihren dummen Bemerkungen im Internet. Das kratzt uns wenig, wir notieren das zwar aber im Grunde ist es uns egal was Herr und Frau Bundesbürger von uns denken. Was uns aber ganz gewaltig stört, das sind so Sachen wie Kontakte zu Widerständlern in anderen Ländern. Netzwerken und so. Wir wissen ganz genau, wen Sie im letzten Jahr wiederholt besucht haben. In Linz. Ich verwarne Sie hiermit höchst offiziell. Entweder Sie brechen diesen Kontakt auf der Stelle ab oder Sie werden die Konsequenzen zu tragen haben. Kapiert, Herr Oberschlau?'

Kontakte in Linz? Redete dieses Nachtschattengewächs von meinem Kumpel, den ich seit mindestens zehn Jahren kannte? Meinem Kumpel Andreas, mit dem ich nichts Gefährlicheres tat als über den Teich in seinem Garten zu plaudern und dumme Witze per WhatsApp auszutauschen?

'Ich sehe, Sie haben keine Ahnung', plauderte das Nachtschattengewächs heiter weiter. Ihr Kumpel Andreas ist nicht das Problem sondern seine Frau. Und nachdem Sie von deren Machenschaften offenbar keine Idee haben, werde ich Sie auch nicht weiter aufklären. Der Bürger muß nicht alles wissen, nur zu gehorchen hat er. Unser Gespräch ist hiermit beendet Herr Nyfzgen, Sie wissen was zu tun ist: Es hat sich ausgelinzt, zumindest was diese beiden da oben in ihrem hübschen kleinen Häuschen betrifft. In den Zoo oder zum Zwergerlschneuzen dürfen Sie natürlich weiterhin, ich sehe, Sie haben die Tierpatenschaft für eine der Ziegen übernommen, wie herzig. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag und auf Wiedersehen.'

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