Freitag, 17. Dezember 2021

Weihnachtsessen mit Musik

Wenzel haßte Restaurants. Allein der Gedanke, was das unterbezahlte und daher konsequenterweise unmotivierte und mieselsüchtige Personal alles in die Speisen fallen ließ, erfüllte ihn mit profundem Ekel. Essenseinladungen ging er daher, soweit möglich, stets aus dem Weg.

Außer natürlich, wenn diese vom Chef persönlich ausgesprochen wurde, wie jedes Jahr im Dezember. Dann gab es kein Drumrum. Da mußte man hin.
 
Als er die schwere, eisenbeschlagene Eingangstüre aufstemmte, schlug ihm der Geruch von mehrmals aufgekochtem Fett wie ein Brett ins Gesicht und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Kaum hatte er sich wieder einigermaßen gefaßt, sah er sie schon hocken, die Speichellecker, die Ja-Sager, kurz: seine feinen Herren Kollegen.

Schief lächelnd steuerte Wenzel auf die kleine Gruppe zu, hoffend, daß man ihm wenigstens einen Platz freigehalten hatte und er nicht die Aufmerksamkeit aller Umsitzenden auf sich ziehen mußte indem daß man den Kellner bat, einen zusätzlichen Stuhl für ihn zu besorgen, er derweilen herumstehen mußte wie bestellt und nicht abgeholt, und sich schlußendlich irgendwo zwischen zwei der meistgehaßten Kollegen quetschen mußte, neben denen sonst niemand sitzen wollte.

Aber er hatte Glück im Unglück, Paul hatte seine etwas verspätete Ankunft vorausgeahnt und ihm einen Stuhl neben sich reserviert. Was keine Kunst gewesen war, denn von Paul, obwohl er wirklich ein feiner Kerl war, hielten die anderen gerne Abstand, da Hoffmann, der Chef, nicht gut auf ihn zu sprechen war und jeder fürchtete, daß dessen Unmut auf ihn abfärben könnte, wenn er zu oft in Gesellschaft Pauls gesehen wurde. Erleichtert ließ Wenzel sich auf den freundlich dargebotenen Sessel fallen und zog die Menükarte zu sich heran.

'Was nehmts ihr so?' nuschelte er halbherzig vor sich hin, während er unlustig die Auflistung des Gebotenen überflog. Du meine Güte! Was war das für ein Laden? Currywurst? Ernsthaft? Gebratener Leberkäs? Die Kollegen gegenüber, bereits hör- und sichtbar angetrunken, johlten ihm was von 'Schweinsbraten mit Knödeln, echt subbr' entgegen und ihm schauderte.

Letztendlich entschied er sich für eine Ofenkartoffel, damit konnten sie wohl nicht allzuviel falsch machen und er hatte seine Pflicht getan. Mußte sie ja nicht ganz aufessen. Leider gab es in diesem Etablissement keine Weinkarte, womit er auch nicht wirklich gerechnet hatte, auch das angepriesene Bier einer berühmt-berüchtigen lokalen Brauerei erzeugte allein beim Gedanken daran Übelkeit - somit bestellte er unter den höhnischen Blicken der Umsitzenden, mit Ausnahme Pauls, der ebenfalls ein nicht-alkoholisches Getränk vor sich stehen hatte, eine Apfelschorle. Aber nicht einmal diese war ihm vergönnt, und so mußte er mit einem kleinen Glas Fanta vorliebnehmen. 'Zuckerbrühe, widerliche', konstatierte er nach einem vorsichtigen Schluck, aber da mußte er jetzt durch. 

Bereits der erste Bissen der Ofenkartoffel machte das Maß voll. Lauwarm, steinhart und der lieblos darübergeträufelte weiße Gatsch hatte deutlich schmeckbar bereits einen ziemlich langen Aufenthalt im Kühlschrank in Gesellschaft einiger Fische und viel Knoblauch hinter sich. Was sollte das sein? Sauerrahm? Topfen? Oder hatte gar einer der Männer sich erfrecht, ihm einen besonderen Gruß aus der Küche ...???

Hastig erhob er sich, etwas von 'dringendem Bedürfnis' murmelnd und verschwand eilig in Richtung Häusln. Das konnte doch alles nicht mehr wahr sein! Warum hatte man ausgerechnet diese Kaschemme für das alljährliche Pflicht-Weihnachtsessen ausgesucht? Hätte man nicht ein anständiges Restaurant wählen können oder von ihm aus auch eine Pizzeria? Nein, es mußte ja der absolut hinterletzte Laden in Augsburgs verwinkelter Altstadt sein. Bis er den mal gefunden hatte! Deswegen war er ja auch als Letzter gekommen. Nicht nur wegen seiner ausgeprägten Unlust auf dieses 'gesellige Zusammensein' wie es fröhlich in der Rundmail beworben worden war, sondern weil er drei Passanten hatte fragen müssen, bis er endlich die Fassade der 'Drei Wilden Bäume' vor sich auftauchen sah. 

Der Drang, eine Zigarette zu rauchen, war mittlerweile übermächtig geworden und zu seiner großen Freude - zumindest eine an diesem Abend - entdeckte er neben der Küche eine Abzweigung, die direkt in den Hinterhof führte. Die Türe stand einladend offen, Wenzel trat hinaus in die abendliche Kühle und lehnte sich aufatmend an die Hausmauer. Gierig zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Aaaaaaaah, das tat gut. Glücklich inhalierend betrachtete er den um diese Uhrzeit natürlich düsteren Hinterhof um sich herum, lediglich einzelne Fenster hingen wie verirrte Lichttupfer im vielfach schattierten Grau. Doch halt, was war das? Dieses Glitzern am Boden? Hatte hier etwa jemand seinen Schmuck verloren? Bei dem Klientele da drinnen würde es sicherlich nichts Wertvolles sein, doch schließlich gab es ja auch ideelle Werte und ... forschend beugte Wenzel sich nach vorne um das schwache Glitzern deutlicher in Augenschein zu nehmen. Doch gleich darauf fuhr er entsetzt wieder hoch, beinah hätte er sich den Hinterkopf an der Regenrinne angehauen. Ein Fingernagel! Das was da am Boden lag und feucht vor sich hinglitzerte war ein Fingernagel! Wie kam ein Fingernagel in den Hinterhof eines, naja, Restaurants???

Hastig trat Wenzel seine Zigarette aus und wollte sich soeben wieder auf den Weg zurück zur ekligsten Ofenkartoffel der Welt machen, da ertönte aus dem Fenster direkt über seinem Kopf wildes Geschrei. Eindeutig eine Frauenstimme. Augenblicklich zuckten wilde Bilder durch Wenzels Kopf: Gequälte Frauen sah er vor seinem inneren Auge, Frauen denen man die Fingernägel ausriß und aus dem Fenster warf, die mit glühenden Zangen und Zigarettenkippen gefoltert und anschließend vergewaltigt wurden. Was konnte er tun? Hinaufgehen? Niemals ... es blieb nur eins ... die Polizei zu rufen. Obschon er bislang eher unangenehme Begegnungen mit den Ordnungshütern gehabt hatte, zog er eilends sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte mit zitternden Fingern die 110.

Später, als die lachenden Beamten ihm, noch dazu in Gegenwart seiner inzwischen völlig ausgelassenen, vor Heiterkeit beinah unter dem Tisch kugelnden Kollegen, eröffneten, daß es sich bei der Frau im Stockwerk über dem Restaurant keineswegs um ein gequältes Opfer handelte sondern um eine Opernsängerin, die ihr Domizil extra über der Kneipe bezogen hatte um hier ungestört üben zu können - da der Lärm aus der Gaststube ihren Gesang im allgemeinen zu übertönen pflegte - wollte Wenzel am liebsten im Boden versinken. Eine Opernsängerin? 

'Muuuhahaaa, der Wenzel, der Kunstkenner ...' johlten die Kollegen ... und Wenzel fragte leise: 'Ja aber, der Fingernagel???'

Später erfuhr er aus der Zeitung, daß die Opernsängerin wohl, in einem Anfall von Frust, nachdem es ihr nicht gelungen war, eine neu gelieferte Schachtel mit künstlichen Fingernägeln sachgerecht zu applizieren, von einem Wutanfall herkuleanischen Ausmaßes ergriffen, die ganze Schachtel einfach aus dem Fenster geworfen hatte. Dummerweise ihm direkt vor die Füße bzw. dahin, wo diese kurz darauf zu stehen gekommen waren. 









Sonntag, 5. Dezember 2021

Kontaktlos reisen?



Wer mich kennt weiß, daß ich sehr gerne lese. Zu meiner Wonne lebe ich in einer großen Stadt, in der man in fast jedem Viertel einen Bücherschrank finden kann, manchmal sogar mehrere. So griff ich auch heute, nach meinem Besuch im Nordbad, erfrischt wenn auch etwas fröstelnd in der kalten Dezemberluft, beherzt mehrmals in den Bücherschrank, der freundlicherweise direkt vor der in einem klassischen alten Gebäude untergebrachten Badeanstalt aufgebaut war. Einer der ersten Bücherschränke übrigens, der in unserer Stadt errichtet worden war.

Bepackt mit meinem Rucksack, der großen Tasche mit dem Bademantel und dem nur marginal kleineren Büchersackl wankte ich zur nächstgelegenen Haltestelle um nach Hause zu fahren. Kaum hatte ich die U-Bahn betreten, hörte ich eine unflätige Männerstimme lauthals fluchen: 'Du Fotze, du dreckige Fotze, schaut euch die Schlampe an!'

Mir fuhr der Schreck in alle Glieder denn für einen Moment glaubte ich, er meine am Ende gar mich, da ich in letzter Zeit einige sehr unschöne Erlebnisse in den Öffis gehabt hatte. Aufgrund der Tatsache, daß ich mich beharrlich weigerte, eine FFP2 Maske zu tragen, fühlten sich immer wieder Leute bemüßigt, mich über die aktualisierte Maskenpflicht zu belehren. Warum??? Schließlich habe ich meinen Impfausweis stets dabei und bin obendrein meist frisch getestet, sonst hätte ich ja z.B. auch das Nordbad nicht betreten dürfen - und ich trage immerhin eine chirurgische Maske um die Allgemeinheit vor meinem Giftatem zu beschützen - wovor hatten die Leute also Angst? Oder ging es einfach nur darum, recht zu haben und zu behalten? Die wahre Krankheit unserer Zeit? Erst wenige Tage davor hatte beispielsweise ein Mann mit dem Finger auf mich gezeigt und laut durch den gesamten Waggon geplärrt: 'DAS IST DIE FALSCHE MASKE!'

Sagt wer? Die Dummheit mancher Leute ist schon immer fast grenzenlos gewesen, und in dieser Zeit der Krise kommt diese Flachheit des Denkens einmal wieder prachtvoll zum Vorschein. Kein Wunder also, daß ich mich von den Beschimpfungen des weiterhin ordinär fluchenden Mannes in diesem Augenblick persönlich betroffen fühlte. Still setzte ich mich auf einen Platz, zog den Kopf ein und verstaute mein Handy im Rucksack, so daß ich für den Fall eines Kampfes die Hände frei hatte.

Offenbar jedoch stänkerte der Mann ganz allgemein dort hinten umeinander und ich begann, mich wieder ein wenig zu entspannen, wenn auch weiterhin ein diffuses Gefühl der Bedrohung und ein starkes Unbehagen blieb, denn der Stänkerer hörte nicht und nicht auf, umeinanderzukrakeelen, und ohne Brille wollte sich mir auch beim vorsichtigen Blick nach hinten nicht mehr erschließen als ein verschwommenes Gewirr von bunt gekleideten Leibern. Vorhölle, sozusagen.

Endlich oben im Norden der Stadt angekommen stolperte ich hastig aus dem Wagen, doch erst in dem Moment, in dem sich die Türen von lautem Signalton untermalt schlossen, stellte ich fest, daß ich mein Büchersackl unter meinem Sitz vergessen hatte! Hilflos mußte ich bei einem letzten Blick ins Wageninnere mitansehen, wie es ohne mich weiter Richtung Norden fuhr.

Zornig stapfte ich die Stufen hinauf ins Einkaufszentrum, wo ich in der Apotheke ein Medikament abzuholen hatte. Wie kopflos von mir! Die schönen Bücher! Unwiederbringlich verloren!

Natürlich wird der geneigte Leser jetzt einwenden können, daß ich die Bücher ja gratis bekommen hatte und daher kein materieller Verlust entstanden war - aber wer Bücher liebt der weiß, wie man sich über jedes einzelne freut und der Verlust auch dann spürbar schmerzt, wenn man keine Lawine dafür hat bezahlen müssen wie es früher grundsätzlich der Fall gewesen war.

Aber halt, war denn da garnichts mehr zu machen? Konnte ich denn nicht die Bahn wieder abfangen wenn sie an der Endstelle umgedreht war und zurück in die Stadt fuhr und diese auf der Suche nach den verlorenen Büchern von vorn nach hinten durchschreiten? Es war den Göttern sei Dank ein durchgehender Zug gewesen, keine aus einzelnen Waggons bestehende Garnitur, somit sollte sich die Suche innerhalb einer Haltestelle erledigen lassen.

Gesagt, getan, hoffnungsvoll begab ich mich wieder hinab ins Untergeschoß und wartete auf den nächsten Zug in Richtung Stadt. Welcher nach acht langen Minuten endlich kam (es war Samstag). Unter jeden Sitz blickte ich, die Leute sahen mich bereits seltsam an, bis ich auf einmal jäh zum Halten kam. Vor mir auf dem Boden lag ein Mann. Mitten auf dem Gang. Ob er betrunken war oder ganz einfach nur so gestürzt war, konnte ich natürlich nicht feststellen, aber er war alt, wie der zerrupfte graue Haarkranz verriet, der unter der verrutschten Mütze hervorlugte.

Erschrocken blickte ich um mich, sah noch wie einer der Umsitzenden dem Unglücklichen das Handy reichte, das ihm wohl beim Sturz entglitten war, und sich dann, genau wie der zweite ebenfalls anwesende Mann, wieder in das Seinige vertiefte. Ja und nun? Mußte man nicht helfen? Und wenn ja, wie? Was konnte ich tun? Nachdem ich keinen Führerschein besitze, habe ich auch nie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und stand der Situation völlig hilflos gegenüber. Sollte ich einfach aussteigen und so tun, als ob ich nichts gesehen hätte? Was sicherlich am Einfachsten gewesen wäre. Aber konnte man den Mann einfach so liegen lassen?

Vorsichtig, um nicht auch noch während der rüttelnden Fahrt den Halt zu verlieren, beugte ich mich zu dem Mann hinunter und fragte: 'Haben Sie sich was getan? Kann ich Ihnen aufhelfen oder haben Sie irgendwo Schmerzen?'

Schließlich bestand ja immer die Gefahr, daß man eine Fraktur disloziert, wenn man einen Gestrauchelten einfach so bewegt. Am Ende wäre er querschnittsgelähmt und ich wär schuld!

Mit verschleiertem Blick, der mich an meinen langjährigen, leider mittlerweile am Alkohol verstorbenen Freund erinnerte, sah der Mann mich lange an und meinte leise: 'Laßt mich doch alle in Ruhe ihr scheinheiligen Gutmenschen. Willst dir wohl ein Fleißbildchen vom lieben Gott abholen, was? Ich bin einfach müde und habe es mir hier ein Weilchen gemütlich gemacht. Hast ein Problem damit?'

Ich war baff. Getroffen ließ ich mich auf den Sitz neben seiner ausgestreckten Figur fallen und starrte ihn an. 'Naja', antwortete ich nach einer Weile 'es wird wohl deines Verweilens hier nicht viel länger sein mein ich mal, spätestens an der nächsten Endstelle wird der Fahrer durch den Wagen gehen und Streß machen. Willst des? Bullen und so? Glaub ned, oder?'

Erneut blickte der Mann nach oben und so etwas wie Erkennen blitzte in seinen schlauen kleinen Knopfaugen auf. 'Immerhin könnt ich als Kunstprojekt durchgehen, oder ned? Gefallener Mann ohne Maske.'

Stimmt, er hatte garkeine Maske im Gesicht! Das erklärte auch das hastige Zurückweichen der beiden anderen Männer vorhin. 

'Ja und was mach mer jetzt', fragte ich ihn ratlos. 'Magst da jetzt wirklich liegenbleiben? Ich mein, wegen mir aus und so, aber eigentlich wär's schon g'scheiter, sich wieder auf einen der Polster hinzusetzen. Der Boden ist sicher sauhart, oder?'

'Ja, dann hilfst mir halt auf, gibst ja eher doch keine Ruhe, aber mach langsam, ich bin ein alter Mann!'

Unter einigem Ächzen und Stöhnen schafften wir es tatsächlich, ihn auf einen der Sitze zu hieven, woraufhin er mit geschlossenen Augen in die Ecke sank und tief atmete. 'Diese Drecksmasken. Ins Auge ist sie mir gerutscht, ich hab nix mehr gesehen und bis ich g'schaut hab, bin ich da am Boden gelegen. Sag, hast mir vielleicht 'nen Euro für'n Bier? Hab heute noch garnich ordentlich gefrühstückt.'

Wie ich in meiner Hosentasche nach Kleingeld suchte sah ich aus dem Augenwinkel, wie ein Mann zwei Reihen weiter eine brombeerfarbene Stofftasche auf einen leeren Sitz stellte. Meine verloren geglaubten Bücher! Strahlend hielt ich meinem maskenlosen Freund einen Fünfeuroschein hin und rief: 'Schau, meine Bücher sind wieder aufgetaucht! Die hab ich nämlich vorhin vergessen beim Aussteigen und nun hab ich doch die richtige Bahn erwischt und hier sind sie wieder! Ich wünsch dir alles Gute und trink eins für mich mit!'

Beglückt griff ich nach dem Büchersackl und dankte beim Aussteigen im Stillen den Göttern, daß sie mich dazu verleitet hatten, den Mann am Boden anzusprechen. Denn wäre ich einfach wortlos der Situation entflohen, hätte ich meine Bücher und das hübsche Sackl aus Linz niemals wiedergesehen. Nicht nur werden kleine Sünden sofort bestraft, auch kleine Wohltaten werden mitunter unverhofft belohnt.