Sonntag, 8. August 2021

Misanthropenmonolog



Ich habe mir die Eintrittskarte nun doch nicht gekauft. So sehr ich Lust auf die Darbietung hatte, so sehr hasse ich es, Teil des Publikums zu sein. Eigentlich müßte ich sagen: Ich hasse die Zuschauer. Ich hasse sie, und ertrage es nicht länger, als unbedeutendes Puzzlestückchen mittendrin zu sitzen, praktisch einer Masse zugehörig zu sein mit der ich nichts gemein haben möchte.

Wie sie sich schon vor der Vorstellung in Szene setzen als wären sie selbst die Künstler, sich gegenseitig überschreien, jeder hat es wichtig, muß unbedingt etwas mitteilen das sich sein Gegenüber mit offenem Mund anhört. Nicht weil er dem Erzähler so gebannt lauscht, nein, sondern weil er auf eine kleine Pause, eine winzige Unsicherheit des Redners wartet um sofort einzuhaken und das loszuwerden, was ihm die ganze Zeit schon selbst auf der Zunge liegt.

Je nach Lokation schaffen es manche, während dieses Vorgangs auch noch gabelweise Eßbares in sich hineinzustopfen und mit den jeweils landesüblichen Getränken nachzuspülen.

Die Herren gehen vor Beginn der Vorstellung rasch eine letzte Zigarette rauchen während die Damen sich prophylaktisch auf die Toilette begeben und dort nach Erledigung der Hauptsache vor dem Spiegel ewig an sich herumzupfen. Als ob in der Dunkelheit des Zuschauerraumes irgendwer mit der Taschenlampe umherliefe und die bestaussehende Dame mit einem Sonderpreis bedächte. Ein Meet and Greet mit dem vortragenden Künstler vielleicht, oder gar ein Abendessen mit anschließendem Matratzentest?

Fängt die Vorstellung endlich an, geht das Sich-in-Szene-Setzen lustig weiter. Am liebsten mag ich die ganz Gescheiten, die nach jeder Wuchtel zu Wiehern und zu Prusten anfangen wie ein alter Gaul, damit auch jeder der Umsitzenden und idealerweise natürlich der Künstler oben auf der Bühne mitbekommt, daß sie den Schmäh verstanden haben. Sozusagen Idealpublikumsmitglied. Intelligent genug, um das Dargebotene zu begreifen. Toll. Handelt es sich um jüngeres Publikum so wird nicht selten auch noch wild gepfiffen, der Tinnitus dankt. Nicht erst einmal habe ich wegen eines solchen Exemplars in meiner Nähe bereits während der Pause die Vorstellung verlassen müssen.

Sehr beliebt, vor allem beim Künstler, ist der Zwischenrufer. Routinierte Kabarettisten lassen sich von einem solchen nicht aus dem Konzept bringen, haben ihre Standardsätze mit denen der Übeltäter lässig beschossen wird und bald beschämt in seinem Sessel kauert. Er wird sich für den Rest des Abends nicht mehr hervortun. Beim nächsten Mal jedoch wird er es erneut probieren. Dieser Zuschauertypus rekrutiert sich meist aus unscheinbaren Gestalten, die sich damals, in der Schule, bei der Rede des Direktors in der Aula, nicht getraut haben, den Mund aufzumachen. Inzwischen aber, aus der vermeintlichen Anonymität des Zuschauerraums heraus, da geht was, da möcht' man frech werden und sich von den Umsitzenden bewundern lassen.

Ab und an beobachtet man die heimlichen Streber, die ihre Lieblingswuchteln aufnotieren und ansonsten dem Künstler gebannt an den Lippen hängen. Nicht selten sind auch sie es, die sich hinterher um ein Autogramm bemühen und solange am Hinterausgang herumwarten, bis der müde Kabarettist aus der Garderobe kommt und eigentlich nur noch eine Kleinigkeit essen möchte und dann nach Hause. Stattdessen darf er sich mit einer Schar strebsamer Bewunderinnen herumplagen, die ihn um die genaue Bedeutung dieser oder jener Textstelle fragen ... also praktisch eine private Zugabe erwarten, ohne gefragt zu haben, ob das dem Menschen dort am Bühnenausgang überhaupt recht ist.

Sie alle öden mich unendlich an. Die Vornehmen in München, die Lauten in Frankfurt, die Lustigen in Wien und die Gelangweilten auf dem Land, die meist nicht einmal genau wissen, was eigentlich gespielt wird. Hauptsache man ist dabei wenn einmal was los ist ... und dann hocken sie da wie angeleimt und klatschen nicht einmal, wenn der Künstler die Bühne betritt. Peinliches Schweigen. Die ersten Worte, zögerlich fallen sie in die begierige Meute die nur auf einen Fehler, auf einen Hänger, auf einen Versprecher lauert ... es ist zum Fremdschämen.

Nein, dazu möchte ich nicht mehr gehören. Es freut mich nicht mehr. Daher habe ich mir die Eintrittskarte nun doch nicht gekauft. Ein anderer wird sie glücklich an sich reißen und sich hoffentlich während der Vorstellung anständig benehmen.




Hinter Glas



Ich bin Lehrer. Für Deutsch, Geschichte und Religion. Und ich bin Idealist. Meistens. Ok, manchmal. Immer seltener. Dabei sind meine Maßstäbe nicht wirklich zu hoch angelegt, würde ich meinen. Aber mittlerweile ist das Niveau so gesunken dass ich mich bereits über Aufsätze wie diesen zum Thema 'Griechenland der Antike' so richtig freuen kann: 'Die alten Griechen waren alles voll die Schwuchteln. Der eine ist zwanzig Jahre mit dem Schiff rumgefahren, nur damit er seine Verlobte daheim nicht zu heiraten braucht. Der nächste hat freiwillig einen Becher mit Gift getrunken, damit er sich die Motzereien seiner Alten nicht mehr länger anhören muss, weil er lieber mit seinen Kumpels abgehangen ist als ihr daheim zu helfen. Wieder ein anderer wurde von seiner Mutter in Frauenkleider gesteckt damit er nicht in den Krieg muss, aber wie sie ihm draufgekommen sind und er doch in den Krieg musste, hat er sich gleich in den Feind verknallt aber weil er das vor sich selber nicht zugeben konnte, hat er ihn gejagt bis in den Tod und darüber hinaus.'

Orthographisch fast einwandfrei, lediglich inhaltlich ... naja. Aber wenn Sie wüssten, was ich mir manchmal anhören darf. 'Ey Lehrer, leck misch am Arsch mit deine Scheiße Grammatik, brauch isch keine Grammatik wenn isch Zuhälter bin wie meine Bruder!' Und das meinte Mehmet durchaus ernst. Saß mit seinen 16 Jahren fett grinsend wie Buddha im Klassenzimmer unter lauter 13-jährigen und guckte frech.

Beim letzten Elternsprechtag saß der kleine Rudolf Kramer aus der ersten Klasse mit seinen Eltern vor mir (unüblich, ich weiß, aber sie wollten beide gerne kommen und der Babysitter war krank geworden). Herr Kramer erzählte von einem Nachbarn, mit dem es neulich gewaltig Ärger gegeben hatte. Seine Erzählung war etwas wirr und ich fragte nach: 'Wer ist jetzt dieser Herr Matthes?' Ruft der Rudi forsch dazwischen: 'Des is der Zipfiklatscha der wos in unsara Wiesn parkt hod!'

Zipflklatscher. Ich bitte Sie! Ich musste diesen Begriff erst einmal nachschlagen. Woher kennt das Kind solche Schimpfwörter?

Meine Frau fragte immer öfter: 'Warum gehst du nicht einfach in Pension?' und betonte dabei das Fragezeichen wie ein vor hilfloser Wut verkrümmtes Ausrufezeichen. Bisher hatte ich immer abgewunken. Ich liebe meinen Beruf, das muss sie doch verstehen dachte ich, weiters hatte ich durchaus den Anspruch an mich selbst, Schlimmeres verhüten zu wollen. Die jungen Lehrer haben doch selber schon 'keinen Bock mehr' und machen lediglich Dienst nach Vorschrift. Obwohl man mir immer öfter nahegelegt hatte, zu gehen, bin ich daher weiter aktiv im Dienst geblieben. 

Aber nun, nun habe ich endgültig genug. In Bayern wurde voriges Jahr ein neues Schulfach eingeführt. Gesundheitserziehung. Da denkt man zuerst: Na klasse! Endlich mal mehr Sport, weniger Handy, gesünderes Essen, mehr Gemüse statt immer nur Pommes und Cola, aber denkste. Es handelte sich vielmehr um die Fortsetzung der Gehirnwäsche, die bereits im Jahre 2020 begonnen hatte, als sich dieses neuartige Virus zu verbreiten begann. Den Kindern wird nun eingebläut, sich 'verantwortungsvoll' zu verhalten, in den Pausen nicht mit den Schulkameraden zu spielen sondern, wann immer möglich, Abstand von ihnen zu halten. Auf dem Schulgelände sind stets die Masken zu tragen. Diese dürfen nur zum Essen oder nach der Pause, wenn die Schüler wieder am Platz sitzen, abgenommen werden, falls der Landeshauptmann und die Inzidenzen dies erlauben. Ansonsten müssen sie auch im Unterricht getragen werden. Ich kann so nicht arbeiten! Wie soll ich meine Schülerinnen voneinander unterscheiden, wenn die Hälfte Kopftuch trägt und nun auch noch Gesichtsmaske?

Händedesinfektion und täglicher Selbsttest sind Selbstverständlichkeiten geworden. Auch außerhalb der Schule sind die Kontakte einzuschränken. Wer jemanden sieht, der sich nicht an die Regeln hält, soll dies unbedingt der Lehrkraft seines Vertrauens mitteilen, gerne auch anonym. Miteinander reden oder gar lachen? Fehlanzeige. Bei Aldous Huxley gab es wenigstens noch Soma, wenn die Menschen allzu traurig wurden. Bei uns? Nichts dergleichen. Alles was Freude macht, wurde verboten und wer aus dem Fenster springen wollte - bitteschön!

Nachdem genug Impfstoff verfügbar war für alle, und dieser auch für die Kinder zugelassen worden war, wurden die Tests kostenpflichtig, was sich viele Familien nicht mehr leisten konnten. Der gut vernetzte Untergrund stellte alternative Schulformen zur Verfügung, welche von der Verpflichtung zum Präsenzunterricht entbanden. Im Prinzip eine gute Sache, wenn dort wirkliche Pädagogen zu Werke gegangen wären und nicht irgendwelche Eso-Fuzzies, die bei Vollmond in der alten Ruine oben seltsame Rituale mit einer toten Katze vollzogen. Waldorfschule Hilfsausdruck. In diesen Etablissements wurde nicht der Name getanzt, da wurden satanische Verse gelehrt, und ich war dabei, Sie können mir also unbesehen glauben, dass ich weiß, wovon ich spreche. Immer wenn man meint, es könne nicht noch schlimmer kommen, setzt die Menschheit kalt lächelnd einen drauf.

Nachdem also auch in diesen Stätten meines Wirkens nicht mehr länger war, habe ich mich schweren Herzens entschlossen, meinen Beruf an den Nagel zu hängen. Wer braucht schon Bildung. Selber denken ist schon lange unerwünscht, und um einfach nur nachzuplappern, was Lehrer, Chef oder Minister vorsagen, bedarf es keiner besonderen Intelligenz.

Seit voriger Woche arbeite ich als Tierpfleger bei den Menschenaffen im Frankfurter Zoo. Dort wird noch gelacht und rumgealbert, und die Kunst der Konversation ist ebenfalls noch nicht völlig ausgestorben, sie findet lediglich auf einer anderen Ebene statt. Ich bin zufrieden. Guten Abend!