In den meisten Nächten war ich mehr oder weniger alleine auf dem Friedhof unterwegs. Ab und an eine verhuschte Gestalt, die wahrscheinlich noch nicht einmal gemerkt hatte, daß sie tot war und, sich verwirrt an den düsteren Gräberreihen entlangtastend, versuchte, wieder nach Hause zu finden. Sie alle kamen natürlich früher oder später zurück. Verschwanden in ihren Gräbern und blieben auch dort. Vorerst. Was will man auch machen, so ohne richtigen Körper. Also liegt man rum und hofft, daß Petrus einen bald reinläßt und man nicht den Rest der Ewigkeit in diesem Zwischenstadium verbringen muß. Mir war die Rumliegerei bald fad geworden und ich hatte mir angewöhnt, statt dessen meine Runden zu drehen, denn auch nachts sind immer wieder Tiere hier unterwegs, und ich freute mich jedes Mal, eins zu entdecken bevor es mich bemerkte und davonlief.
Allerdings lag der Friedhof pikanterweise direkt unter der Einflugschneise zum Flughafen und während mich der Lärm bereits zu Lebzeiten tierisch genervt hatte, war er mittlerweile schier unerträglich. Schon mal 'nen Geist mit Ohrstöpseln gesehen? Eben. Zwar fand der meiste Flugverkehr tagsüber statt wenn wir in unseren Särgen lagen, aber Tote schlafen bekanntlich nicht. Sie warten.
Warum es bei mir so lange dauerte, das Warten? Ich weiß es nicht. Weder bin ich eine Massenmörderin, noch habe ich sonst ein gruseliges Verbrechen begangen. An menschlichen Standards gemessen. Die Götter sahen das wohl anders? Immerhin hatte ich einen großen Teil meines Lebens damit verschwendet, mich anzupassen. An ein Bild, das sich andere von mir machen sollten damit ich selbst mit mir zufrieden sein konnte. ''What a waste!'', würde Großtante Sarah entsetzt ausrufen, aber sie schwebte natürlich schon lange in höheren Sphären umeinander - zumindest bin ich ihr nie mehr begegnet seit wir beide tot waren - und in ihrem Grab rührte sich auch nichts. Verlassen und leer gähnte die Gruft des jüdischen Zweigs unserer Familie vor sich hin ... wenn die Lebenden wüßten, daß in den meisten Gräbern sowieso niemand drinliegt! Aber in mir keimte schon lange der Verdacht, daß viele Menschen die Grabstätten ihrer Lieben sowieso nicht deswegen hübsch herrichteten um die Toten zu erfreuen oder aus einem Gefühl von Pietät oder Anstand heraus, sondern daß sie es aus demselben Grund taten, aus dem sie ihr Auto wuschen oder ihren Vorgarten pflegten: Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn unser Strauß an Allerheiligen zu mickrig oder die Bepflanzung aus dem Sonderangebot von Aldi kommt?
"It takes one to know one!", würde Großtante Sarah sagen. Und ja, sie hätte natürlich recht: Auch ich war viel zu sehr auf das fixiert gewesen, was andere von mir denken sollten. Aber war das wirklich so eine schwere Sünde, daß ich Nacht für Nacht am Friedhof verbringen mußte während alle anderen die mit oder teilweise gar lange nach mir das Zeitliche gesegnet hatten, bereits mit den Engeln frohlockten?
Einen einzigen Bekannten hatte ich noch: Den General. Auch er schien dazu verdammt, auf Ewig hier seine Runden zu drehen und niemals wirklich Ruhe zu finden. Allerdings lag bei ihm der Grund auf der Hand: Er hatte, obschon sich zu dem Zeitpunkt sogar die Verbohrtesten eingestehen mußten, daß die Sache verloren war und man sich ruhig verhalten und auf die Siegermächte hätte warten können, völlig unnötig unzählige junge Männer in den Tod geschickt. Selbst heute noch grüßte er mich mit stramm erhobenem rechtem Arm wenn immer wir uns begegneten. Viel gesprochen hatten wir allerdings nie. Nachdem wir unsere Lebensgeschichten ausgetauscht hatten war klar, daß wir absolut nichts gemeinsam hatten und gingen fortan unserer eigenen Wege.
So verging Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, bis ich eines Nachts mal wieder einer vermeintlich Neuen begegnete. Diese jedoch drückte sich nicht scheu an mir vorbei wie die Mitbewohner im Treppenhaus, damals während der großen Seuche, nein, sie blieb einfach stehen, sah mich an und fragte, alles andere als subtil: "Na, auch noch unterwegs?".
"Nun ja", erwiderte ich wenig geistreich, "wie man sieht ..."
"Ich hätt's mir ja ein wenig geselliger vorgestellt", vertraute sie mir an, vermutlich in Ermangelung eines anderen Gesprächspartners. Schließlich war ich noch nie der Partytyp gewesen und wäre unser Friedhof ein wenig lebhafter bevölkert, hätte sie sich nie im Leben - äh, im Tod - ausgerechnet mit mir abgegeben sondern sich flugs eine andere Leiche zum anregenden Gespräch gesucht.
"Stimmt nicht!", rief sie an dieser Stelle meines Gedankenflusses lauthals aus und grinste mich frech an.
"Ich hab dich gezielt angesprochen weil du ein Problem hast mit dem ich dir vermutlich helfen kann. Also, falls du das möchtest ...", setzte sie hastig nach, offenbar verunsichert von meinem wortlosen Starren.
Die Fragezeichen tanzten höchstwahrscheinlich über mein Gesicht wie Glühwürmchen an einem Sommerabend - zahlreich und deutlich beleuchtet - so fühlte sie sich bemüßigt, hinzuzufügen: "Ich weiß, warum du noch hier bist. Als Einzige deiner Generation. Mit dem Nazitypen. Alles klar?"
"Ah geh!", war alles was mir einfiel. Meine Hirnströme, hätte ich noch welche gehabt, wären sich gegenseitig auf die Füße getreten in dem Durcheinander das auf einmal in meinem Kopf herrschte. Woher - und wieso sie als Neue - und ÜBERHAUPT, drängelte sich ein bockiger kleiner Gedanke nach vorne, wieso JETZT auf einmal und woher sollen wir wissen ob das stimmt, was sie uns erzählen will?
Gutmütig und weit davon entfernt, beleidigt zu sein, zog sie mich am Arm in Richtung Notausgang und meinte: "Komm, setzen wir uns da aufs Bankerl und ich erklär's dir, ok?"
Immer noch völlig bedröppelt, aber nun doch neugierig geworden, folgte ich ihr und wir ließen uns nebeneinander auf genau jener Bank nieder, auf der ich früher so gerne, hihi, Lebkuchen genascht hatte wenn ich hier auf Besuch gewesen war.
Auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, schob jedoch sofort mit einem entschuldigenden Hüsteln nach: "Tut mir leid, daß ich ständig deine Gedanken lese, aber du schirmst sie halt auch so GARnicht ab!"
"Abschirmen?" Kurioserweise mußte ich jetzt an einen lange vergangenen Herbsttag denken, an dem Gusti und ich über einen eh nicht so weit entfernten anderen Friedhof bei St. Marx gestiefelt waren und, nachdem wir mehrmals mit dem Gesicht in ein Spinnennetz gelaufen waren, unsere Schirme aufgespannt und diese vor uns haltend weiter das romantische Dickicht dort durchquert hatten.
"Ja genau!!", rief meine neue Bekanntschaft jetzt aus. "Wegen ihm sitzt du hier unten fest. Also nicht direkt, es handelt sich vielmehr um ein Konglomerat ungünstiger Umstände denen du es zu verdanken hast, daß er dich noch nicht, wie versprochen, abholen konnte. Würde jetzt zu weit führen, alles im Detail zu schildern, aber kennst ihn ja, wenn irgendwo ein Fettnäpfchen steht, dann muß er reintreten. Und das hat natürlich Konsequenzen. Beispielsweise Arrest. Obendrein werden auch bei uns die Zugänge mittels Computer erfaßt und rat mal, wer sich nach wie vor weigert, sich an den PC zu setzen und nachzuschauen wer gestorben ist ... Er könne das auch am Schwarzen Brett sehen, sagt er immer. Daß der Aushang aber nur ungefähr alle zwanzig bis dreißig Jahre aktualisiert wird, hat er noch nicht kapiert."
"Bei uns?", fiel ich ihr, zugegebenermaßen unhöflich, ins Wort. "Hast du grad 'bei uns' gesagt??? Du kommst von drüben???"
"Richtig. Man hat mich geschickt. Du kannst ja nichts dafür wenn er seinen Sturschädel aufsetzt und einerseits drauf besteht, dich persönlich abzuholen wenn es soweit ist, andererseits aber alles tut, um genau dies zu verhindern. Weiß schon, de mortuis nil nisi bonum aber mal so ganz unter uns ..."
"Sag amal Reni was soll'n der Schmarrn?", hörte ich in diesem Augenblick eine mir wohlbekannte Stimme hinter unserer Bank erschallen. "Wieso hosch du mir nix g'sagt und bisch glei selber 'nunter? Des wollt I doch macha!"
"Von GLEICH kann ja wohl keine Rede sein", schimpfte ich grantig los indem ich aufsprang und mich zu ihm drehte. "Weißt du wie lange ich schon hier rumgeistere nur weil du immer noch zu stur bist, dich mal an den PC zu hocken???", brüllte ich aufgebracht?
"Na, tolle Begrüßung", schmollte Gusti, denn um diesen handelte es sich bei dem Neuankömmling. "Wenn i des g'wußt hätt ... sag amal, freusch di denn garnet?"
Betreten blickte ich ihn an. Was war ich schon wieder garstig zu ihm, dabei hatten wir uns jetzt doch so lange nicht gesehen!
"Tut mir leid", murmelte ich zerknirscht. "Doch, ich freu mich! Bist halt wie du bist, da kann man nix machen und jetzt bist eh da. Gut schaust aus! Ned so verhaut und hienig wie damals, und die Haare sind auch wieder lang! Fesch!" Scheu fielen wir uns in die Arme und drückten uns ... bis hinter uns ein mahnendes Räuspern erklang.
"Wißts scho, daß der Gustl eigentlich no Hausarrest hat? Aber wurscht jetzt, ihr habt beide die Prüfung bestanden. Jeder von euch hat trotz aller Widrigkeiten seine Zuneigung zum anderen bewiesen. Gusti hat eine deftige Strafe riskiert indem daß er trotz Arrest hinter mir hergespurtet ist sobald er mitbekam, wieso ich los bin, und du hast dich nicht von mir gegen ihn aufbringen lassen, jedenfalls nicht für lange. Nun können wir also in Frieden und Einigkeit rübergehen und diesen dunklen Ort hinter uns lassen. Wie sagt man???"
"DANKE!!", riefen wir im Chor und zogen lachend, mit Reni in unserer Mitte, ab nach Hause, ins Reich der Götter. Und dieses Mal hoffentlich für immer!
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