Sonntag, 20. Dezember 2020

Weihnachten, total verhext



Eigentlich konnte sie Weihnachtsfeiern nicht ausstehen. Zunächst einmal, weil jedes Jahr dieselben Leute auftauchten, selten einmal war jemand Neues dabei, seit Jahrhunderten immer dieselben Gestalten. Da gingen einem doch bald einmal die Gesprächsthemen aus. Worüber sollte man sich unterhalten? Über das Wetter? Kaum. Das konnte sich jeder und jede von ihnen völlig mühelos selber gestalten. Die Kleiderwahl? Zwecklos. Da man in ihren Kreisen wenig modebewußt war, gab es auch in diesem Bereich wenig zu sagen. Irgendeinen Flitter aus dem Kasten gezerrt und auf ging's. Allein die Partnerwahl ... allerdings war genau dieser Punkt bei ihr ein besonders wunder, ein weiterer Grund, ungern auf die anderen zu treffen, denn natürlich wurde genau beobachtet, wer mit wem angereist kam, oder eben gerade nicht (mehr). 

Am Ärgerlichsten jedoch waren die Spaßvögel, die einem Übles ins Getränk warfen während man grad mal die Nase pudern gegangen war. Eiserne Regel daher: Niemals sein Glas unbeaufsichtigt lassen oder gar ein fremdes Getränk annehmen. Erklär mal einem Versicherungsmenschen, wieso du mitten in der Nacht auf einem Besen in einen Schornstein gerasselt bist. Leugnen zwecklos, da Teile des Stiels noch deutlich sichtbar in den nach unten gefallenen Brocken steckten.

Gegen Mitternacht wurde man dann gern einmal lustig, beschloß, die Leute im Dorf zu necken, und auf ging's zur Christmette. Nachdem heutzutage auch auf dem Land viele Familien nur in dieser einen Nacht zur Kirche gingen, fiel man nicht weiter auf solange man sich vom harten Kern der Kirchenbesucher - leicht zu erkennen am mißbilligenden Blick sowie der altmodischen Kleidung, besonders feiner Sonntagsstaat eben - fernhielt.

Allerdings war auch hier der Spaß begrenzt, da die alten Bräuche fast alle ausgestorben waren. Selbst der Bauer kam mit in die Kirche statt irgendeinen Wurmsegen über seine Pferde zu sprechen, für sowas hatte man nun den Veterinär, dessen Segen aus der Tube kam und verläßlicher wirkte als irgendwelche Zaubersprüche. Abgesehen davon - wer hielt sich noch Pferde? Man besaß einen Traktor oder zwei, und die im Stall verbliebenen Tiere sprachen auch in dieser Nacht kein einziges Wort. Hätte auch niemand hören wollen, was sie zu sagen hatten. Das mußten halt dann wir übernehmen und zogen, laut krakeelend, durch die nächtlichen Straßen, Olaf der Platzhirsch wie üblich am lautesten singend vorneweg:

Double, double, toil and trouble, wer glaubt dem Bauern sein Gebabbel? Das Stroh ist hart, die Betten weich, in diese legt er sich nun gleich, steckt seine Lanze in die Frau, diese ruft laut: Au au au! Sadomaso will gekonnt sein, da muß die Frau noch nicht mal blond sein, doch wer die Tiere quält für Geld, hat niemals Freud' in dieser Welt!

Aber auch diese Juxereien wurden auf die Dauer fad. Die Leute gingen nicht mehr zu Fuß, wodurch sie in früheren Jahrhunderten voll leicht zu erschrecken gewesen waren, die stiegen in ihr Auto, drehten ihre Super-Woofer-Boxen auf und brausten los. Grad, daß man noch auf die Seite springen konnte und, wenn's blöd lief, direkt in einem Elektrozaun neben der Weide landete. So machte das keinen Spaß! 

Sie hatte daher beschlossen, dieses Jahr ihren jährlich wiederkehrenden Vorsatz wahrzumachen und einfach nicht mehr hinzugehen. Was wollten sie schon groß machen? Sie ignorieren? Na, das wär ja mal ganz was Neues.

Am Tag vor Heilig Abend kam sie erschöpft von der Arbeit, grabschte sich eine Tüte Schokokekse, die mit dem höchsten Suchtpotential, aus der Speis und wollte eigentlich nur noch rasch ein passendes Buch ... da blieb ihr fast das Herz stehen vor Schreck: Der Anrufbeantworter in der Bibliothek blinkte!

Nun ja, werden Sie, geschätzte Leser nun denken, das machen Anrufbeantworter nun einmal ab und an. Auch wenn man sehr zurückgezogen lebt, ruft doch mal der Zahnarzt an oder zumindest jemand von einem Callcenter.

Jetzt war es aber so, daß ihr Telefon nicht angeschlossen war. Keins von beiden. Das eine, weil es zu alt war, noch mit Wählscheibe, und nur zur Dekoration im Gang stand. Das andere, weil sie nach einem Anbieterwechsel beschlossen hatte, sich die zusätzlichen fünf Euro im Monat zu sparen. Wer sie unbedingt sprechen wollte, konnte sie genausogut auf dem Mobiltelefon nicht erreichen. Der Anrufbeantworter KONNTE also gar nicht blinken, da das Telefon tot war. Mausetot. Eigentlich hatte sie es schon lange zum Wertstoffhof bringen wollen ... war ein Telefon eigentlich Elektro- oder Plastikmüll? Ach, hätte sie es doch getan! Buch und Schokokekse wären ihr sicher gewesen, stattdessen: Wildes Herzrasen und zitternde Hände. Wie konnte ... sollte sie ... das Kabel, das Kabel war doch nicht einmal eingesteckt ... 

Schließlich siegte die Neugier. Vorsichtig umrundete sie den Wäscheständer und drückte auf den auffordernd blinkenden roten Knopf: 'ZABOR QUANTEFIX, DROSTENIX MECUM!', schallte es ihr aus dem Gerät entgegen. Schwach ließ sie sich auf's Lesesofa sinken. Das war nicht der Anrufbeantworter. Der erklärte sonst immer umständlich, man habe eine neue Nachricht, von der Nummer soundso, und wenn man sie anhören wolle dann solle man Knopf eins drücken ... aber nein, gleich volle Kanne dieser beknackte Spruch. Zabor quantefix, Drostenix mecum. Was sollte das bitte bedeuten? 

Um sich abzulenken griff sie zur Post, die sie sich vom Briefkasten mit heraufgebracht hatte. Hierbei fiel ihr ein Umschlag besonders ins Auge: Glitzerndes Hellblau, dick, offensichtlich gefüttert ... eine Weihnachtskarte? Begierig riß sie die Lasche auf und entnahm eine auf kartoniertem Papier gedruckte Einladung: 'Zum Feste laden wir heute, ohne die übliche Meute, Erscheinen unbedingt, mein liebes Hexenkind!' Darunter in Schrägschrift: Der Code wird dir im Laufe des heutigen Tages zugestellt werden, diesen bitte unbedingt beim Einlaß angeben. Unser Chauffeur wird dich am Heiligen Abend gegen 19 Uhr abholen, bitte stelle deine Klingel an!

Oha. Da kannte sie jemand aber ganz genau. Was nun? Die Ansage auf dem Telefon war offensichtlich der Code für das Fest, und ihr Erscheinen dort unabdingbar. Aber gut, immerhin erst morgen. Heute Buch und Kekse, und keine weiteren Störungen!!!

Am nächsten Abend saß sie bereits gegen halb sieben bereit, gestiefelt und gespornt, wie man so schön sagte, und wartete auf das Klingeln des Chauffeurs. Um Viertel nach sieben war sie sich nicht sicher, ob sie erleichtert darauf hoffen sollte, daß er nicht mehr kam und sie doch den Abend in aller Ruhe alleine verbringen konnte, oder ob nicht doch die Enttäuschung die Oberhand gewinnen mochte ... schließlich war sie den ganzen Tag voller angespannter Erwartung gewesen, und nun?

Um acht Uhr war sie sicher, daß niemand mehr kommen würde, zog die guten Sachen langsam aus und ihren Schlafanzug an. Warum machte jemand sowas? Die anderen konnten doch von ihrer Absicht, zum üblichen Fest nicht erscheinen zu wollen, nichts wissen. Also inzwischen natürlich schon, da sie offensichtlich nicht aufgetaucht war, aber gestern doch noch nicht. Wer also sollte ihr so einen dämlichen Streich spielen? Und wie hatten sie das mit dem AB gemacht, wenn es keine Kolleginnen von ihr gewesen waren? Hatte man sie etwa vom Fest fernhalten wollen? War man ihrer genauso überdrüssig geworden wie vice versa? Bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Es ist eine Sache, einer Feier einfach mal fernbleiben zu wollen. Doch dort grundsätzlich nicht mehr erwünscht zu sein?

Lautes Rumpeln im Treppenhaus ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken - wer machte denn um diese Uhrzeit so einen Krach? Das konnten doch nur wieder mal die Studenten aus dem zweiten Stock sein! 

Grantig lauschte sie dem Lärm, der sich zu einem festen Poltern verdichtete ... und in einem heftigen Wummern an ihrer Wohnungstüre kulminierte. Schreckensstarr stand sie im Schlafzimmer und lauschte nach draußen. Polizei? Ein Irrer? Ein Nachbar der Hilfe brauchte? Sollte sie durch's Guckloch linsen oder doch besser so tun, als sei sie nicht daheim? 

Wiederum siegte die Neugier und sie schob vorsichtig den Deckel des Türspions ein Stück beiseite um in den Gang hinaussehen zu können. Just in diesem Moment wurde dort das Ganglicht erneut angedreht und sie konnte einen Mann in Uniform erkennen. Doch Polizei? Nein, die trugen andere Kappen. Wiederum hämmerte der Mann ungeduldig an die Türe und blitzartig traf sie die Erleuchtung ... natürlich! Das war der Chauffeur der sie hätte abholen sollen! Über eine Stunde zu spät! Na, dem würde sie aber was erzählen!

Heftig riß sie die Türe auf und wollte gerade zu einer Schimpftirade ansetzen, als sie ein Blick aus den wunderschönsten grünbraunen Augen  traf, die sie jemals gesehen hatte. Klingt jetzt wie in einer der kitschigen Geschichten aus der Regalreihe 'Frauenromane', war aber so. Sie stand da, im Schlafanzug, starrte den Mann vor ihrer Nase an, und die Erde hörte auf, sich zu drehen. Das ist jetzt bei normalen Menschen nicht weiter schlimm wenn ihnen so etwas passiert, die erholen sich wieder und das Umfeld, soweit es etwas mitbekommt, denkt sich was und grinst. Aber wenn eine übersinnlich begabte Frau dermaßen die Kontrolle verliert, dann bewegt sich mehr als nur die Mundwinkel des Gegenübers. Da verschiebt sich die Atmosphäre, und grad an gewissen verwunschenen Abenden, an denen man den Lücken im Raum-Zeit-Kontinuum nicht zu nahe kommen sollte, kann das überraschende Folgen haben.

Wir werden nie erfahren, wieso der Chauffeur erst nach acht Uhr statt um sieben ankam, als die Klingel schon ausgestellt war und niemand ihn mehr erwartete. Aber soviel sei doch noch verraten: An diesem Abend fuhr keiner mehr auch nur irgendwohin. Schlafanzug und Chauffeursuniform lagen bald einträchtig nebeneinander am Teppich, und wenn sie nicht gestorben sind dann lachen sie noch heute jedes Jahr an Heiligabend darüber, wie sonderbar alles damals gewesen war, an dem Abend, an dem sie sich das erste Mal sahen und er sich auf einmal in eine hübsche, grünbraune Kröte verwandelt hatte - und sie seither vergöttern, in ihrem Bettchen schlafen, von ihrem Tellerchen essen und aus ihrem Becherlein trinken durfte.


 







Mittwoch, 28. Oktober 2020

Die unschuldige Seele


Als ich gestern Abend nach der Arbeit am Reumannplatz von der U-Bahn hochkam, sah ich dieses kleine blaue Männchen auf einer der Bänke beim Amalienbad sitzen. Jetzt sind wir es in Wien ja durchaus gewöhnt, daß am Reumannplatz alle möglichen Gestalten umeinanderhocken, aber ein kleines, komplett blau gefärbtes Männchen?


Er saß ganz ruhig mit geschlossenen Augen da, bewegte lediglich leicht den Oberkörper vor und zurück, so daß ich mir dachte, er braucht vielleicht Hilfe … und näherte mich der Bank auf der er saß.


Noch bevor ich ihn erreicht hatte, öffnete er die Augen und sah mich grantig an.

‘Wieso’, fragte er mit dumpfer, hallender Stimme, die so garnicht zu seinem Aussehen paßte, ‘kannst du mich sehen???’.

‘Öh’, antwortete ich verdutzt, ‘ich seh dich halt. Warum jetzt auch nicht???’
‘Weil ich mir SO eine Mühe gegeben hab, unsichtbar zu werden!’ schnaubte er empört.

‘Na, da bist ja am richtigen Platz mein ich mal’, grinste ich. ‘Hier schaut dich niemand zweimal an, vielzuviele abgefahrene Leute, da fallst so schnell ned auf. Aber hör mal, warum wolltest du ausgerechnet heute unsichtbar sein? Willst eine Bank machen?’

‘Schmarrn, Geld bedeutet mir nichts, Erdling! Ich bin hergekommen weil ich einen Menschen mit einer strahlenden, unschuldigen Seele suche.’
‘Ha, ausgerechnet hier??? Hast schon einmal auf der Neugeborenenstation vom AKH nachg’schaut?’
‘Ich sagte ich suche einen MENSCHEN, kein rotgesichtiges, brüllendes Monster’.

Na hey, a man after my own heart! Da mußte ich doch helfend beispringen! Oder?
Nur - wie würden wir unter den Tausenden von Leuten, die hier umeinanderwimmelten, herausfinden können, wer, wenn überhaupt, nun eine strahlende, unschuldige Seele hatte?
Der Inder mit dem riesigen Turban, der drüben bei der Straßenbahnhaltestelle seine Zeitungen verkaufte? Eine der alten Frauen die vorsichtig die Stufen des Amalienbades herunterkamen, die müde aussehende Schwarze mit dem roten Kopfputz, die aus der 67-Bim gestiegen kam?

In diesem Moment bog ein gebeugt gehender alter Mann um die Ecke, sein langes graues  Haar wehte im Winde und ebenso sein Bart, er zog ratternd ein kleines Wagerl hinter sich her und auf seiner Schulter saß ein Papagei. Als er näher kam entdeckte ich, daß im Wagerl ein winziges Lämmchen lag, ganz still und mit geschlossenen Augen.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem Mann lösen, irgendwie kam er mir bekannt vor …
Er wiederum starrte wortlos zurück, fast schon herausfordernd, als ob er sagen wollte: Na komm, mach was dagegen!!

‘Was ist denn das für ein niedliches Lämmchen?’, fragte ich betont harmlos, als das seltsame Gespann an unserer Bank vorbeizog.

‘Hab ich aus Pötzleinsdorf geholt’, murmelte der alte Mann. ‘Die Arschlöcher hättens glatt verrecken lassen. Das arme Viecherl ist von der eigenen Mutter verstoßen worden und die blöde Funzn die dort Aufsicht macht war nicht in der Lage, dem Tierarzt am Telefon die Situation verständlich zu erklären. Der hat nix kapiert und meinte nur: Das Lamm muß zur Mutter, trinken - und hat ihr wieder aufgehängt. Daß die Mutter ja grad die ist, die es nicht nur wegstößt wenn es trinken will sondern es auch noch extra auf den Boden haut und gegen die Futterkrippe stößt, hat er nicht kapiert. Also  bin ich über den Zaun und habs einfach mitgenommen. Hab ja noch Flascherln daheim von die Enkerln.’

Ich war sprachlos. Naja, fast …
‘Pötzleinsdorf? Der Park? Der Streichelzoo da beim Eingang? Du hast einfach das Lämmchen geklaut?’

‘I hob eam's Lebn g'rettet Oida! Konnte doch nicht mitansehen, wie die Mutter das arme Viecherl  mißhandelt und alle stehen nur rum, schaun blöd, und keiner tut was! Ein Neugeborenes so umeinanderzuhauen, und immer wieder steht's auf und stakt auf zitterndem Beinchen auf die Mutter zu, und immer wieder hat sie es weggestoßen, an die Wand gedrückt, sogar mit dem Maul aufgenommen und auf den Boden gehaut! Das war nicht mehr zum Mitanschaun, da mußte ich doch was tun!!!’

‘Ah, äh, ja eh, klar, doch, also du bist wirklich voll der Held, ehrlich, Wahnsinn. Und du willst es jetzt echt die ganze Nacht mit der Flasche füttern?’

‘Naa, zuerst muß ich noch bissl was zammschnorren für die Milch, hab ja nix mehr daheim und kein Geld mehr für den Monat … du hast ned zufällig ein bissl Kleingeld übrig???’
‘Klar, logisch!’, Ich griff tief ins Portemonnaie: ‘Hier, guter Mann, ich hoffe das langt bis zum Ende der Woche?’

Der Alte blickte gerührt auf den Schein, den ich ihm hinhielt, und zum ersten Mal sah ich ein Lächeln auf seinen müden Zügen erblühen.
‘Das ist wirklich sehr großzügig von dir Chef, vielen Dank, küß die Hand Herr Baron! Das macht's um einiges leichter, nun kann ich gleich einkaufen gehen und meinen kleinen Freund hier füttern, und all die anderen die daheim schon warten …’

‘Du hast noch mehr Schafe daheim?’, fragte ich in das Kreischen der vorbeifahrenden Straßenbahn hinein.
‘LORA,’ unterbrach der Papagei unsere Unterhaltung, ‘Give us a kiss, LORA’.
‘Keine Schafe’, erklärte der seltsame Alte. Ein paar Viecherln halt die mir so begegnet sind und die Hilfe brauchten.’

‘Na, wenn DAS kein Mensch mit einer strahlenden, unschuldigen Seele ist!’, dröhnte mein kleiner blauer Freund hinter mir.
‘Pfah, Oida!’, erschrak mein graubärtiger Freund, ‘was war das denn???’

‘Ich bin sehr erfreut, daß ich offenbar doch für JEMANDEN hier unsichtbar bin’, rief das blaue Männchen fröhlich.

Der alte Mann blickte verwirrt hinter mich, wo die Stimme herkam, aber konnte offenbar tatsächlich niemanden sehen.

‘Nun …’, setzte ich zu einer Erklärung an, als ich auch schon unterbrochen wurde …
‘Ich bin hierhergekommen’, sprach das blaue Männchen weiter, ‘um einen Menschen mit einer wirklich strahlenden Seele zu finden, weil wir gewisse Probleme auf unserem Planeten haben, und da hab ich mir gedacht ok, mußt was machen … und es schaut ganz so aus, als ob ich mein Ziel bereits erreicht hätte. Hör mal Graubart, magst mit mir im Raumschiff mitfahren? Deinen Zoo können wir gerne mitnehmen. Unser großzügiger Bekannter hier geht mal rasch zum Billa vor und holt uns eine Ziegenmilch und einen Babysauger damit das arme Lämmchen nicht noch verendet bevor wir fertiggeredet haben, und wir beide unterhalten uns mal eine Runde, ok?’

Graubart guckte verdattert aus der Wäsche.

‘Bist du deppert, hab ich grad einen flashback’, murmelte er, ‘wo des locker 30 Jahre her is, daß ich den letzten Trip g'schmissen hab. Stell dir vor, ich bin grad zu einer Fahrt im Raumschiff eingeladen worden, wie damals in meiner Jugend … ich  hatte da diesen Freund, der war ein bissl daneben und immer wenn er eing’raucht war hat er von Raumschiffen phantasiert …’

‘Du, das waren keine Hallus’, beruhigte ich ihn, ‘der Typ ist echt. Nur, ich glaub außer mir kann den niemand sehen. Und er hat recht, ich geh mal rasch was zum Trinken holen, für uns und für dein Lämmchen, und du hockst dich mal hier aufs Bankerl, keine Angst, er tut nix, also hoffe ich jedenfalls …’, und schon stob ich davon, Richtung Favoritenstraße, zum nächsten Supermarkt.

Wie ich wieder zurückkam, saß Graubart mit seligem Grinsen auf der Bank, neben ihm mein kleiner blauer Bekannter, und die beiden schienen sich prächtig zu unterhalten, völlig unberührt vom stetigen Passantenstrom der keine zwei Meter von ihnen kontinuierlich weiterfloß, vom Dröhnen der Busse, Klingeln der Straßenbahnen und Streitereien der nicht immer ganz nüchternen Menschen, die den Platz meistenteils belebten, mal ganz abgesehen.

‘Äh, hallo dann, ich hätt die Milch dabei, für das Tschapperl …’, brachte ich mich zaghaft in Erinnerung. Die beiden blickten auf, Graubart nahm dankbar meine Offerte an und begann in aller Ruhe, das Lämmchen zu füttern. Zuerst schien es, als ob es bereits zu schwach wäre, am Sauger zu nuckeln, vielleicht hat es ihm auch einfach nicht geschmeckt, pasteurisierte Milch und so, aber dann, zu unserer großen Freude, saugte es mit Behagen am Fläschchen und kriegte es in Nullkommanix leer. Wir grinsten uns erleichtert an, im Glück vereint, eine große, glückliche Familie.

‘Sag mal’, hub ich an, ‘wo wohnst du eigentlich? Ich mein, wenn du soviele Tiere hast, das geht sich in einer Gemeindebauwohnung doch nicht aus. Und reich scheinst nicht zu sein, wie … also ich mein …’

Graubart schmunzelte vor sich hin: ‘Wennst es wissen willst, dann komm mit, es ist eh nicht weit von hier. Bier und Wurstsemmerl hast ja dabei wie ich sehe, kannst da ins Wagerl stellen, gemma gemma!’

Eigentlich hatte ich ja gedacht, mich in Wien halbwegs auszukennen, aber sobald wir von der Quellenstraße abgebogen waren, hatte ich bald völlig die Orientierung verloren. Waren wir nun in Richtung Geiselberg unterwegs oder Arsenal, oder Ostbahn, ich habs nimmer blickt … wollte auch nicht fragen, das Rattern des Wagerls war eh so laut und naja, ich dachte es geht mich ja auch nix an und ich werd’s ja sehen … die Gegend war grau und trostlos, wie das in Wien halt oft einmal der Fall ist, im Hintergrund ratterten Güterzüge … wir querten eine völlig verlassene Seitengasse … und standen plötzlich vor einem Bauzaun.

‘Ja und jetzt?’, fragte ich entgeistert. ‘Wollen wir da etwa drüberklettern oder was?’
‘Na sicher ned’, entgegnete Graubart, ‘des hammer uns schon dementsprechend eing’richtet. Komm, pack mit an!’

Erst jetzt bemerkte ich, daß die Kette nur auf den ersten Blick so ausschaute, als würde sie die Zaunteile fix miteinander verbinden. Graubart dröselte sie in Nullkommanix auf und ich half ihm, das Zaunteil soweit auf die Seite zu schieben, daß wir mit dem Wagerl bequem durchpaßten.

‘Sag, und das machst du jeden Tag? Ist das nicht ein bissl anstrengend in deinem Alter?’, fragte ich besorgt.

‘Siehste', boomte unser kleiner unsichtbarer Freund von hinten, ‘noch ein Grund mehr, mit mir am Raumschiff mitzufahren. Bei uns hat er es bequem, muß sich um nix kümmern, Schlaraffenland sozusagen.’

Während die beiden sich noch ein bissl keppelten, der Papagei fröhlich dazuwischenkrähte und ich nur irgendwas von Kohlsuppe und Nano nano mitbekam, was auch immer das bedeuten mochte, bogen wir um die Ecke und standen auf einmal mitten in einem kleinen Paradies. Zumindest optisch. Ein uralter, verlassener Zug stand auf einem fast schon völlig versunkenen Nebengleis, an den Fenstern der ehemaligen Waggons hingen Gardinen, außen prangte nicht etwa die übliche wilde Graffiti-Schmiererei sondern wunderbar ausgeführte Gemälde wobei die beliebten Hippiefarben Türkis, violett und altrosa durchaus vorherrschten. Wäre im Hintergrund nicht das ständige Geratter vorbeifahrender Züge gewesen … ich hätte mich glatt an den Wagen des ‘Nichtrauchers’ aus Kästners fliegendem Klassenzimmer erinnert gefühlt. Nur eben, daß hier viele Wagen standen. Teils beschädigt, teils deutlich angerostet, aber alle mit Liebe zum Detail bemalt und hergerichtet. Ich war entzückt.

‘Und hier wohnst du? Mit deinen Tieren? Ganz alleine? Keine Punks oder so die nachts rumnerven? Echt jetzt?’ Ich konnte es kaum glauben. So ein Idyll mitten in der Stadt? Ok, bis auf den Lärm halt … aber die Tiere waren ja auch nicht grad leise, und es soll ja auch Menschen geben, die unter Autobahnbrücken wohnen, von daher …

‘Najo doch, ab und an hab ich schon ein bissl an unguten Besuch’, meinte Graubart mit schmerzlich verzogener Miene, ‘grad in letzter Zeit … die Obdachlosigkeit nimmt halt immer mehr zu und die Leut breiten sich aus und grad die Jungen ham oft kan Genierer. Gruft is ned für an jeden, waßt eh, Josi is immer öfter überfüllt, da willst natürlich dein eigenes Platzerl ham …’

‘Ja genau’, meldete sich unser blauer Freund wieder zu Wort. ‘Deswegen nehm ich dich mit und du kannst mitsamt deinen Tieren bei uns noch ein paar Superjahre haben.’

‘Eh leiwand von dir Noah’, warf Graubart ein, ‘und ich käm ja auch gerne, aber wie lange müssen wir denn da fliegen? Da sterben wir doch alle unterwegs bis wir mal ankommen. Bringt doch nix.’

‘Total falsch’, erwiderte … Noah … ob er nun wirklich so hieß oder ob es nur ein Schmäh war … ‘aber es wird nicht lange dauern. Die Menschen gehen das mit der Raumfahrt nur völlig falsch an. Sie steigen in die Rakete und fahren damit als ob sie mit dem Auto führen oder dem Flugzeug flögen. Einfach gradaus von A nach B, innerhalb der ihnen bekannten Dimensionen. Und solange sich die Wissenschaftler vehement weigern, sich mit den Mystikern mal zusammenzusetzen, wird das auch so bleiben. So kommt ihr NIE viel weiter als bis zum Mond und daß da nix los is hat sich ja mittlerweile rumgesprochen. Nein, wir Extraterrestials wissen wie das geht. Seitlich. Nicht gradaus. Einfach seitlich. Also sorge dich nicht ehrwürdiger Greis, vertraue dich und deine Schutzbefohlenen einfach mir an, wennst magst kannst auch einen Vertrag haben, daß dir niemals ein Leid geschehen wird und wir dich nicht kreuzigen wollen oder in einen großen Kochtopf setzen. Wir brauchen einfach einen gesunden Schuß menschlicher Wärme auf unserem Planeten, es wird vielzuviel gerechnet dort, immer mehr Leute haben eine Plutimikationsvergiftung, das kann ja so nicht weitergehen. Idealerweise würd ich gern noch mehr Menschen wie dich mitnehmen, aber ich bin schon total happy, dich getroffen zu haben. Und die Zeit drängt ein bissl, ganz ehrlich.’

‘Naja’, meinte Graubart, während er sich bedächtig den Bart strich. ‘I kennat da so an odrahtn Musiker beim Wienerberg … sog amoi, hobts Fisch aa bei eich am Planetn?’
‘Wie bitte?’, fragte Noah verwirrt?
‘Ob ihr auch Fische habt. Teiche, Seen, Gewässer mit Fischen drin. Mein Freund angelt nämlich sehr gerne, und wenn er das bei euch auch … naja, ich könnt ihn doch mal fragen. Ja und Strom bräucht ma, wegen der Gitarre.’

‘Du kein Problem’, meinte Noah, ‘bei uns ist es eh nicht viel anders als hier, nur daß wir halt ein bissl anders ausschaun und, naja, die Plutimikationsvergiftung. Habts ihr übrigens auch, es heißt nur anders. Depression oder Burnout nennt man es hier. Is aber gradaus dasselbe. Willst ihn mal anrufen, deinen Freund? Ob er mitfahren mag?’

‘Ich triff eahm eh, nachher, am Wienerbergteich, bissl angeln, er hat an Schein, der darf das, und hernach die Beute lustig verspeisen, am offenen Feuer, also wenn’s wollts seids eing’ladn … ‘

Besagter Abend war dann nicht nur unglaublich lustig sondern so stark von menschlicher Wärme geprägt, daß mir die Tränen kamen, und das lag sicher nicht am Bier, ich kann schon was vertragen wenn’s wär. Hatte ich doch bisher die Menschen eher gemieden, war mir nun bei dem Gedanken, diese wunderbaren, gerade erst gewonnenen Freunde bald im All verschwinden zu sehen, sehr, sehr schmerzlich ums Herz. Aber leider war ich halt kein Mensch mit einer strahlenden Seele und unschuldig schon zweimal nicht, und hatte daher keine Hoffnung, ebenfalls ins Raumschiff mit eingeladen zu werden. 

Seither friste ich, hier auf der Erde zurückgelassen, mein einsames Dasein, entwickle mich weiter und versuche, mich so edel wie möglich zu verhalten. Was mir, solange niemand Lärm macht, auch schon ganz gut gelingt. Denn vielleicht, eines Tages, kommt der Noah zurück um auch mich abzuholen. Zumindest sag ich mir das immer wieder vor, wenn mir die Melancholie, sorry, die Plutimikationsvergiftung, zu sehr das Herz abdrücken möchte. Aber solang ich die hab, kann man mich halt nirgends brauchen, ich würd’s ja nur noch schlimmer machen. Also tapfer weiter auf dem eingeschlagenen Weg, am Ende wird alles gut, man muß nur fest dran glauben!



Sonntag, 18. Oktober 2020

Mal endlich alle wieder zusammen ...


Freitagnachmittag im Klinikum, die Sprechstunde der Ambulanz ist vorbei, die Arbeitszeit leider noch nicht, und so treffen sich einige Mitarbeiterinnen rein zufällig im Sekretariat auf einen Ratsch, das Blubbern der Kaffeemaschine im Hintergrund sorgt zusammen mit dem Duft frisch gebrühten Kaffees für eine gemütliche Atmosphäre. 

Naja, so gemütlich wie sie in einem Büro voller völlig unterschiedlicher Frauen eben sein kann.

"Sie machen WAS???", ruft Miranda entsetzt aus, in der Hoffnung, sich verhört zu haben.

"Hotspot-Hopping", wiederholt Valentina geduldig. "Sie machen Hotspot-Hopping".

"Und das bedeutet was genau? Die fahren aber ned wirklich mit ABSICHT genau dahin, wo grad ein Hotspot ist?"

"Doch, genau das", erklärt Valentina, "etwa wie bei den Tornado Hunters in Amerika. Gucken wo grad das größte Inferno tobt und dann genau dort hinfahren."

"Wißt ihr eigentlich," wirft Käthe mit der ihr eigenen, verträumten Pedanterie ein, "daß man in Amerika zur Kneipentour 'bar-hopping' sagt und in England 'pub-crawling'? Ich frag mich ja, ob die in Amerika was ganz anderes dabei trinken, oder ob die Engländer sich einfach bereits im ersten Pub so vollaufen lassen, daß sie nur mehr auf allen Vieren ..."

"Mensch Käthe, das ist doch jetzt wirklich voll am Thema vorbei!" 

Klar, Chantal wieder, die alte Spielverderberin. Null Humor die Frau, außer wenn es um dreckige Witze oder zweideutige Anspielungen geht, da ist sie stets ganz vorn mit dabei. Tiefsinnige Betrachtungen dagegen bringen sie regelmäßig aus dem Konzept. So sie denn eins hat. Meist ist sie grundsätzlich einfach dagegen. In diesem Fall sogar zu Recht: Hotspot-Hopping, sowas Beknacktes!

"Ja und gehen die dann hinterher zum Testen um zu beweisen, daß da nicht wirklich was war, oder was soll der Unfug?" will Miranda wissen.

"Nee du, die machen das einfach aus Jux und Dollerei. Seit man ihnen die Partys und Konzerte verboten hat und Sportveranstaltungen nur noch sehr begrenzt stattfinden dürfen ... da fehlt ihnen halt was."

"Fehlt ihnen was? Aha? Der Spaßgeneration fehlt was? Dann sollen sie sich halt ehrenamtlich engagieren oder was für die Umwelt tun, statt überall ihre Flaschen hinzuschmeißen damit die armen Tiere reintreten! Das regt mich SO auf! Geh mal in der Früh rüber an den See und schau dir den Saustall an! Und das ist NICHT besser geworden seit den Kontaktbeschränkungen, jeden Sonntag in der Früh dieselbe Sauerei! Denen fehlt ein paar auf's Maul, sonst garnix!!!" schimpft Miranda leidenschaftlich und nimmt einen Schluck von ihrer Mandelmilch.

Hustend fährt sie fort: "Und wieso wird das nicht unterbunden? Sonst kann man doch auch jeden Scheiß verbieten. Wir dürfen uns in unserer Schreibgruppe nur noch zu fünft treffen, aber die jungen Leute fahren vergnügt alle miteinander Hotspot-Hopping oder was? Ich mein, geht's noch???"

"Ja was willst du machen?", fragt Valentina begütigend. "Wenn die getrennt anreisen? Ich mein, die ham ja kein Schild dabei wo draufsteht: 'Wir sind die bösen Hotspot-Hopper Huhuhuuuuu' und so blöd sindse auch nicht, daß sie sich in größeren Gruppen dort treffen. Geht doch alles über Telegram. Der Code wechselt natürlich ständig, neulich war's 'glutrot geht die Sonne auf' haha, da mußt erstmal draufkommen!", grinst sie fröhlich.

"Du findsch des jetzt au no lustig oder was?" echauffiert sich Chantal. "Wir tragen Verantwortung und Masken und was noch alles, und du findsch des lustig wenn ein paar Irre alles kaputtmachen nur weil ihnen langweilig ist? Ich glaub's jetzt ned!"

"Wieso machen die was kaputt?", fragt Käthe verständnislos. "Was machen sie denn kaputt? Die fahren doch einfach nur hin, und laufen ein bissl rum, mal was trinken gehen, viel mehr geht doch eh nimmer. Ich seh keinen Unterschied zum Touristen der weiterhin unerschrocken sein Sightseeing macht. Städtereisen. Heute Nürnberg, morgen Bamberg - huch, is seit heute ein Hotspot? Ja hm, blöd gelaufen. Passiert doch jedem mal. Und jetzt? Wer macht da was kaputt? Die einzigen die was kaputtmachen sind die Hysteriker die einem dauernd irgendwelche aus dem Zusammenhang gerissenen Zahlen um die Ohren hauen und die unreflektierten Konsumenten, die das alles unverdaut schlucken."

"Aber die fahren mit ABSICHT hin, das ist VERANTWORTUNGSLOS! Weil die dann den Virus WEITERVERBREITEN! Bist du so blöd oder tust du nur so?"

"Hör mal Chantal, das Virus WEISS das doch nicht, ob jemand mit grob fahrlässiger Absicht angereist ist oder weil's der Chef gesagt hat. Oder einfach so. Ich find des jetzt voll unlogisch."

Während die Damen im Büro nicht nur die Zeit sondern sich auch gegenseitig die Köpfe einschlagen, wird zeitgleich im schönen Tübingen in Baden-Württemberg, eine Gruppe Jugendlicher von der Polizei angehalten:

"Guten Tag, Ausweiskontrolle, Ihre Papiere bitte!"

Die Jugendlichen zücken verunsichert ihre Ausweise und händigen diese den streng blickenden Beamten aus. Nachdem bei der Routineüberprüfung nichts festgestellt werden konnte, möchten die Beamten nun wissen, wer von den Anwesenden die neue Corona-Warn-App auf seinem Handy installiert hat. Die Jugendlichen zeigen ihre Handys vor, acht von ihnen haben die App installiert und bekommen ihre Ausweise zurück, die Personalien der anderen drei werden notiert.

"Warum schreiben Sie uns jetzt auf? Was haben wir denn falsch gemacht?", wagt es einer der Jugendlichen zu fragen.

"Ihr hend nix falsch g'macht", erklärt einer der Beamten nicht unfreundlich, "des isch eufach a neu's Gsetz. Wär dia Äpp net am Handy hod und mit mähr als neun Leut unterwägs isch, also zehn Leut und drübr insgesamt, der wird aufg'schrieba. Wo wellet ihr eigentlich na? Send ihr a Schulklass odr so ebbes?"

"Nein, wir sind die Helfer für die Herbstaktion. Sowas wie 'ES putzt' in Esslingen, des machen wir jetzt auch hier in Tübingen, also den Müll wegräumen der überall rumliegt, Flaschen, Masken und so, bevor der erste Schnee kommt."

"Des laß mer g'falla", lobt der Polizist, aber fügt gleich hinzu: " Abr ned den Abschtand vergessa, gell? Schonscht koschts was. An schena Tag no!"

Später, als die Polizisten nach Dienstschluß nach und nach das Gebäude verlassen, stehen POM Häberle und sein Kollege im obersten Stockwerk und blicken sehnsüchtig in den Fahrstuhlschacht, aus dem die Kabine emporsteigen soll, die sie in den verdienten Feierabend nach unten tragen wird. 

"Sag amol," fragt Häberle vorsichtig seinen Kollegen, "findsch du des eigentlich richtig, daß mir die Leut einfach aufschreibet obwohl die garnix doa hend? An Haufa Arbeit wäga nix ond mer weuß etta, was dia vom Ordungsamt mit die Data vorhend ..."

"Mir werdet et für's Denka zahlt ... ond wenn's dr Minischtr sagt, was willsch macha? Hano, do kommt'r ja, dr Aufzug. Was machet ihr am Wochenend? Dei Familie ond du?"

"Grilla wolla mir, bei dem Weddr. Weusch ja nia, wie lang des no hebt, dr Sohn isch au do, vo Stuagart, mit dr Familie, Tochter kommt au mit ihre Leit, des wird schee ... amol älle wiedr zamm ..."




Sonntag, 11. Oktober 2020

Und dieses Mal hoffentlich für immer!


In den meisten Nächten war ich mehr oder weniger alleine auf dem Friedhof unterwegs. Ab und an eine verhuschte Gestalt, die wahrscheinlich noch nicht einmal gemerkt hatte, daß sie tot war und, sich verwirrt an den düsteren Gräberreihen entlangtastend, versuchte, wieder nach Hause zu finden. Sie alle kamen natürlich früher oder später zurück. Verschwanden in ihren Gräbern und blieben auch dort. Vorerst. Was will man auch machen, so ohne richtigen Körper. Also liegt man rum und hofft, daß Petrus einen bald reinläßt und man nicht den Rest der Ewigkeit in diesem Zwischenstadium verbringen muß. Mir war die Rumliegerei bald fad geworden und ich hatte mir angewöhnt, statt dessen meine Runden zu drehen, denn auch nachts sind immer wieder Tiere hier unterwegs, und ich freute mich jedes Mal, eins zu entdecken bevor es mich bemerkte und davonlief.

Allerdings lag der Friedhof pikanterweise direkt unter der Einflugschneise zum Flughafen und während mich der Lärm bereits zu Lebzeiten tierisch genervt hatte, war er mittlerweile schier unerträglich. Schon mal 'nen Geist mit Ohrstöpseln gesehen? Eben. Zwar fand der meiste Flugverkehr tagsüber statt wenn wir in unseren Särgen lagen, aber Tote schlafen bekanntlich nicht. Sie warten.

Warum es bei mir so lange dauerte, das Warten? Ich weiß es nicht. Weder bin ich eine Massenmörderin, noch habe ich sonst ein gruseliges Verbrechen begangen. An menschlichen Standards gemessen. Die Götter sahen das wohl anders? Immerhin hatte ich einen großen Teil meines Lebens damit verschwendet, mich anzupassen. An ein Bild, das sich andere von mir machen sollten damit ich selbst mit mir zufrieden sein konnte. ''What a waste!'', würde Großtante Sarah entsetzt ausrufen, aber sie schwebte natürlich schon lange in höheren Sphären umeinander - zumindest bin ich ihr nie mehr begegnet seit wir beide tot waren - und in ihrem Grab rührte sich auch nichts. Verlassen und leer gähnte die Gruft des jüdischen Zweigs unserer Familie vor sich hin ... wenn die Lebenden wüßten, daß in den meisten Gräbern sowieso niemand drinliegt! Aber in mir keimte schon lange der Verdacht, daß viele Menschen die Grabstätten ihrer Lieben sowieso nicht deswegen hübsch herrichteten um die Toten zu erfreuen oder aus einem Gefühl von Pietät oder Anstand heraus, sondern daß sie es aus demselben Grund taten, aus dem sie ihr Auto wuschen oder ihren Vorgarten pflegten: Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn unser Strauß an Allerheiligen zu mickrig oder die Bepflanzung aus dem Sonderangebot von Aldi kommt?

"It takes one to know one!", würde Großtante Sarah sagen. Und ja, sie hätte natürlich recht: Auch ich war viel zu sehr auf das fixiert gewesen, was andere von mir denken sollten. Aber war das wirklich so eine schwere Sünde, daß ich Nacht für Nacht am Friedhof verbringen mußte während alle anderen die mit oder teilweise gar lange nach mir das Zeitliche gesegnet hatten, bereits mit den Engeln frohlockten?

Einen einzigen Bekannten hatte ich noch: Den General. Auch er schien dazu verdammt, auf Ewig hier seine Runden zu drehen und niemals wirklich Ruhe zu finden. Allerdings lag bei ihm der Grund auf der Hand: Er hatte, obschon sich zu dem Zeitpunkt sogar die Verbohrtesten eingestehen mußten, daß die Sache verloren war und man sich ruhig verhalten und auf die Siegermächte hätte warten können, völlig unnötig unzählige junge Männer in den Tod geschickt. Selbst heute noch grüßte er mich mit stramm erhobenem rechtem Arm wenn immer wir uns begegneten. Viel gesprochen hatten wir allerdings nie. Nachdem wir unsere Lebensgeschichten ausgetauscht hatten war klar, daß wir absolut nichts gemeinsam hatten und gingen fortan unserer eigenen Wege.

So verging Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, bis ich eines Nachts mal wieder einer vermeintlich Neuen begegnete. Diese jedoch drückte sich nicht scheu an mir vorbei wie die Mitbewohner im Treppenhaus, damals während der großen Seuche, nein, sie blieb einfach stehen, sah mich an und fragte, alles andere als subtil: "Na, auch noch unterwegs?".

"Nun ja", erwiderte ich wenig geistreich, "wie man sieht ..."
"Ich hätt's mir ja ein wenig geselliger vorgestellt", vertraute sie mir an, vermutlich in Ermangelung eines anderen Gesprächspartners. Schließlich war ich noch nie der Partytyp gewesen und wäre unser Friedhof ein wenig lebhafter bevölkert, hätte sie sich nie im Leben - äh, im Tod - ausgerechnet mit mir abgegeben sondern sich flugs eine andere Leiche zum anregenden Gespräch gesucht.

"Stimmt nicht!", rief sie an dieser Stelle meines Gedankenflusses lauthals aus und grinste mich frech an.
"Ich hab dich gezielt angesprochen weil du ein Problem hast mit dem ich dir vermutlich helfen kann. Also, falls du das möchtest ...", setzte sie hastig nach, offenbar verunsichert von meinem wortlosen Starren.

Die Fragezeichen tanzten höchstwahrscheinlich über mein Gesicht wie Glühwürmchen an einem Sommerabend - zahlreich und deutlich beleuchtet - so fühlte sie sich bemüßigt, hinzuzufügen: "Ich weiß, warum du noch hier bist. Als Einzige deiner Generation. Mit dem Nazitypen. Alles klar?"

"Ah geh!", war alles was mir einfiel. Meine Hirnströme, hätte ich noch welche gehabt, wären sich gegenseitig auf die Füße getreten in dem Durcheinander das auf einmal in meinem Kopf herrschte. Woher - und wieso sie als Neue - und ÜBERHAUPT, drängelte sich ein bockiger kleiner Gedanke nach vorne, wieso JETZT auf einmal und woher sollen wir wissen ob das stimmt, was sie uns erzählen will?

Gutmütig und weit davon entfernt, beleidigt zu sein, zog sie mich am Arm in Richtung Notausgang und meinte: "Komm, setzen wir uns da aufs Bankerl und ich erklär's dir, ok?"

Immer noch völlig bedröppelt, aber nun doch neugierig geworden, folgte ich ihr und wir ließen uns nebeneinander auf genau jener Bank nieder, auf der ich früher so gerne, hihi, Lebkuchen genascht hatte wenn ich hier auf Besuch gewesen war.
Auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, schob jedoch sofort mit einem entschuldigenden Hüsteln nach: "Tut mir leid, daß ich ständig deine Gedanken lese, aber du schirmst sie halt auch so GARnicht ab!"

"Abschirmen?" Kurioserweise mußte ich jetzt an einen lange vergangenen Herbsttag denken, an dem Gusti und ich über einen eh nicht so weit entfernten anderen Friedhof bei St. Marx gestiefelt waren und, nachdem wir mehrmals mit dem Gesicht in ein Spinnennetz gelaufen waren, unsere Schirme aufgespannt und diese vor uns haltend weiter das romantische Dickicht dort durchquert hatten.

"Ja genau!!", rief meine neue Bekanntschaft jetzt aus. "Wegen ihm sitzt du hier unten fest. Also nicht direkt, es handelt sich vielmehr um ein Konglomerat ungünstiger Umstände denen du es zu verdanken hast, daß er dich noch nicht, wie versprochen, abholen konnte. Würde jetzt zu weit führen, alles im Detail zu schildern, aber kennst ihn ja, wenn irgendwo ein Fettnäpfchen steht, dann muß er reintreten. Und das hat natürlich Konsequenzen. Beispielsweise Arrest. Obendrein werden auch bei uns die Zugänge mittels Computer erfaßt und rat mal, wer sich nach wie vor weigert, sich an den PC zu setzen und nachzuschauen wer gestorben ist ... Er könne das auch am Schwarzen Brett sehen, sagt er immer. Daß der Aushang aber nur ungefähr alle zwanzig bis dreißig Jahre aktualisiert wird, hat er noch nicht kapiert."

"Bei uns?", fiel ich ihr, zugegebenermaßen unhöflich, ins Wort. "Hast du grad 'bei uns' gesagt??? Du kommst von drüben???"

"Richtig. Man hat mich geschickt. Du kannst ja nichts dafür wenn er seinen Sturschädel aufsetzt und einerseits drauf besteht, dich persönlich abzuholen wenn es soweit ist, andererseits aber alles tut, um genau dies zu verhindern. Weiß schon, de mortuis nil nisi bonum aber mal so ganz unter uns ..."

"Sag amal Reni was soll'n der Schmarrn?", hörte ich in diesem Augenblick eine mir wohlbekannte Stimme hinter unserer Bank erschallen. "Wieso hosch du mir nix g'sagt und bisch glei selber 'nunter? Des wollt I doch macha!"

"Von GLEICH kann ja wohl keine Rede sein", schimpfte ich grantig los indem ich aufsprang und mich zu ihm drehte. "Weißt du wie lange ich schon hier rumgeistere nur weil du immer noch zu stur bist, dich mal an den PC zu hocken???", brüllte ich aufgebracht?

"Na, tolle Begrüßung", schmollte Gusti, denn um diesen handelte es sich bei dem Neuankömmling. "Wenn i des g'wußt hätt ... sag amal, freusch di denn garnet?"

Betreten blickte ich ihn an. Was war ich schon wieder garstig zu ihm, dabei hatten wir uns jetzt doch so lange nicht gesehen!

"Tut mir leid", murmelte ich zerknirscht. "Doch, ich freu mich! Bist halt wie du bist, da kann man nix machen und jetzt bist eh da. Gut schaust aus! Ned so verhaut und hienig wie damals, und die Haare sind auch wieder lang! Fesch!" Scheu fielen wir uns in die Arme und drückten uns ... bis hinter uns ein mahnendes Räuspern erklang.

"Wißts scho, daß der Gustl eigentlich no Hausarrest hat? Aber wurscht jetzt, ihr habt beide die Prüfung bestanden. Jeder von euch hat trotz aller Widrigkeiten seine Zuneigung zum anderen bewiesen. Gusti hat eine deftige Strafe riskiert indem daß er trotz Arrest hinter mir hergespurtet ist sobald er mitbekam, wieso ich los bin, und du hast dich nicht von mir gegen ihn aufbringen lassen, jedenfalls nicht für lange. Nun können wir also in Frieden und Einigkeit rübergehen und diesen dunklen Ort hinter uns lassen. Wie sagt man???"

"DANKE!!", riefen wir im Chor und zogen lachend, mit Reni in unserer Mitte, ab nach Hause, ins Reich der Götter. Und dieses Mal hoffentlich für immer!






Sonntag, 27. September 2020

Achtundvierzig Stunden


'Darin sind sie perfekt', grantelte der Mann vor sich hin. Jemanden auf die Wache schleppen und dann hockenlassen. 'Einen Moment noch' hatte es geheißen. Er besaß keine Uhr, das Handy war ihm abgenommen worden. Aber gefühlt waren bereits zwei Stunden vergangen, seit die Polizisten in Zivil ihn hier hereingeführt und dann den Raum wieder verlassen hatten. Ein kahler Raum, grob verputzt, natürlich keine Bilder, da hätte man ja wenigstens was zum Anschauen gehabt. Er hatte keine Idee was er verbrochen haben sollte. Die Tage, als er noch fleißig seiner Sucht gefrönt hatte waren vorbei, alles was damals geschehen war, war lange verjährt, niemand würde ihm daraus mehr einen Strick drehen können. 

Bei der Verhaftung war nicht viel geredet worden, jedenfalls nicht von Seiten der Polizisten. Um vier Uhr in der Früh bist eh nicht so gesprächig. Seine Fragen nach dem Warum und Wieso waren unbeantwortet verhallt, die Handschellen schnitten ins Fleisch, die Wut ließ sich kaum unterdrücken - aber er wußte, daß er sich nur selber schaden würde wenn er jetzt anfangen würde zu toben. Also blieb er scheinbar ruhig sitzen und starrte auf den abgenutzten Tisch vor seiner Nase. Irgendwann mußten sie ja wiederkommen. Oder? Erneut begann er, seinen guten Vorsätzen zum Trotz, ungeduldig auf dem harten Sessel umeinanderzuzappeln. Wozu diente diese Warterei? Das war doch Folter, oder? Was zum Teufel wollte man von ihm?

'Schau ihn dir an, wie er dahockt, das personifizierte schlechte Gewissen', kommentierte Dieter Wendler im Nebenraum den Anblick, der sich ihm und seinem Kollegen Wasilj Petrow im Einwegspiegel bot.
 
'Nun,' mahnte Petrow zur Vernunft, wohl wissend, daß er nichts ausrichten würde, 'wir haben nichts gegen ihn in der Hand. Lediglich die Aufzeichnung des Mordomaten, und wie zuverlässig DER ist, wissen wir beide doch nur zu gut, oder? Also warum brät er noch da drin? Warum machen wir nicht einfach ein Protokoll und lassen ihn laufen? Mein Instinkt sagt mir, daß er absolut keine Ahnung hat, was wir von ihm wollen. Der Typ ist völlig harmlos.'

'Du, die Eisprinzessin damals hat auch voll harmlos ausg'schaut, deswegen san's jo olle auf sie eineg'foin.' Wendler verfiel beim Gedanken an den aufsehenerregenden Fall vom Anfang des Jahrhunderts in den heimischen Dialekt. 'So ein fesches Madl, so unschuldig hat's g'schaut, und dann knallts ihren Mann von hinten ab wie er nichtsahnend am Computer hockt. Des mocht ma ned! Und zwa Joa späta da nächste Haberer. Bumm, tot. Zersägt und ob in Kölla. Oag, oda?'

'Naja, du weißt ja nicht, was man ihr vorher alles angetan hatte, aber hast recht, man sieht es einem Menschen nicht an. Aber dennoch kannst ihn ned aufgrund von Aufzeichnungen aus einem noch nicht wirklich ausgereiften System verknacken. Ned amal du!'

Unruhig wanderte Petrov im Wachzimmer auf und ab, warf ab und an einen Blick zu Wendler, der scheinbar ungerührt weiter den Gefangenen beobachtete.

'Es reicht!' rief Petrov böse und schlug mit der Faust an den Türrahmen, daß eine Staubwolke aus dem morschen Holz drang und ihn zum Husten reizte. 'Es reicht endgültig!' keuchte er. 'Nur wegen deiner Beförderung, oder warum machst du das? Entweder wir gehen jetzt da rein und reden mit dem Mann oder ich gehe alleine!'
'Vernehmungen alleine sind nicht gestattet, das weiß du so gut wie ich.'
'Verhaftungen ohne Grund ebenfalls nicht!'
'Wir können ihn 48 Stunden festhalten. Aber gut, gehen wir rein. Nur daß eins klar ist: ICH führe das Gespräch. Du hältst dich im Hintergrund, wie immer. Du weißt schon, Olga ...'

Zähneknirschend folgte Petrov Wendler ins Vernehmungszimmer. Eines Tages würde er ihn ... Lautes Fiepen unterbrach seine Gedankengänge, grinsend drehte Wendler sich um, griff eine Fernbedienung vom Schrank und schaltete das piepsende Gerät an der Decke aus.
'Hammer wieder Mordphantasien g'habt?', spottete er, angesichts des grimmig schauenden Kollegen. 'Waßt eh, der Mordomat is ned IMMER daneben, manchmal zeichnet er durchaus akkurat auf. Also überleg dir was'd denkst. Auch als Kriminaler bist ned unverwundbar.'

Als ob Petrov das nicht wüßte. Spätestens seit der Sache damals mit Olga ... Wehmütig dachte er an die junge Frau zurück, die er damals eines Gewaltverbrechens hatte überführen müssen und in letzter Minute hatte retten wollen. Naja, schiefgegangen. Wie so einiges in seinem Leben.

Behutsam schloß er die Türe hinter sich und setzte sich mit Wendler zu dem Angeklagten an den Tisch, dieser hatte hoffnungsvoll aufgeblickt als die beiden Polizisten den Raum betreten hatten, und mußte sich nun mit Mühe zurückhalten, um die Beamten nicht mit Fragen zu bestürmen. Würde sich das Mißverständnis nun endlich aufklären?

Wendler räusperte sich, er liebte diese Momente in denen er einen zerknautschten Häftling vor sich sitzen hatte. Nun, streng genommen war der Mann noch kein Häftling, aber wenn es nach ihm, Wendler, ginge, würde er bald einer sein.

'Sie wissen, warum Sie hier sind?' Wendler legte einen strengen Unterton in seine Frage.

'Nein!!!', kam es heiser und verzweifelt aus dem Mund des Angeklagten. 'Nun sagen Sie mir doch endlich, was ich getan haben soll! Mich in der Früh aus dem Bett zu reißen und abzuführen wie einen Verbrecher! Ich war noch nie im Leben auf einer Demo, ich trage immer meinen Mundschutz und habe auch keine Schulden, mein Impfpaß ist auf dem neuesten Stand, was liegt gegen mich vor!!!???!!!', brach es aus ihm heraus.

Wendler lächelte maliziös. Er genoß es sichtlich, wenn sich die Leute bedürftig vor ihm entblößten, ihre Angst und Unsicherheit verlieh ihm die Größe, an der es ihm im wirklichen Leben ganz offensichtlich fehlte, da halfen auch die teuren Einlagen nichts.

'Wo waren Sie heute Nacht um halb zwei?' fragte Wendler scheinbar ruhig.
'Na im Bett, geschlafen hab ich!'
'Wie kann es dann sein, daß der Mordomat exakt um halb zwei eine Meldung herausgegeben hat, daß in ihrem Haus ein Mord verübt worden ist? Wenn sie angeblich geschlafen haben?'
'Na, geträumt werd ich haben. Dafür kann ich doch nichts! Ist es das? Haben Sie mich deswegen verhaften lassen, nur weil ich irgendetwas geträumt habe, das den Mordomaten hat anspringen lassen? Das kann ja wohl nicht wahr sein, oder???'

'Ned tun'S Ihnen aufregen,' mahnte Wendler, 'die Fragen hier stelle immer noch ich und wenn der Mordomat anschlägt UND der Algorithmus gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit als hoch bewertet, daß hier tatsächlich ein Mord geschehen ist, dann ist es unsere Pflicht, der Sache nachzugehen, das wissen Sie genausogut wie ich. Oder sollen wir uns Nachlässigkeit vorwerfen lassen, nur weil wir alle Morde, die nachts geschehen, auf irgendwelche Träume zurückführen und lieber in der warmen Wachstube sitzen bleiben?'

'Nein, natürlich nicht, aber haben Sie in meiner Wohnung eine Leiche gesehen? Nein, haben Sie nicht. Ohne Leiche keine Anklage. Sie können mich hier nicht grundlos festhalten! Ich muß nach Hause, der Hund will raus!'

'No, hätten's Ihnen eine Katze gekauft, die macht weniger Arbeit,' entgegnete Wendler ungerührt.

Petrov verdrehte im Hintergrund die Augen. Sein Kollege war und blieb ein sadistisches Arschloch. Natürlich mußten sie den Anzeigen des Mordomaten nachgehen, genauso wie ein Feuerwehrmann jedem Alarm nachzugehen hat, auch wenn es dann statt des erhofften Großbrandes doch wieder nur ein Hotelgast war, der heimlich auf der Toilette geraucht hatte. Dennoch war es absolut unnötig, jedes Mal so einen Zirkus zu veranstalten, die Leute auf die Wache zu zerren und stundenlang zu demütigen. Aber er konnte ihn nicht davon abhalten. Wendler war sein Vorgesetzter, trotz dessen Jugend. Seit der Sache mit Olga war er nicht mehr befördert worden und würde es wohl auch nie mehr werden. 

'Hören Sie, Sie müssen mir glauben!', beschwor der Gefangene sein Gegenüber. 'Ich habe keinen Mord begangen! Sie können mich hier nicht länger festhalten. Die Zeiten sind hoffentlich vorbei, in denen man Leute wegen nix eingesperrt hat!'

'No, Vorsicht! Wenn Sie so weitermachen dann wird das hier ganz schnell eine Sache für den Verfassungsschutz. Wegen nix san die Leut auch damals ned eing'sperrt worden. Wer ansteckend ist gehört isoliert, und wer Morde begeht gehört eingesperrt. Und nur weil Sie heute Nacht lediglich von der Ausführung eines Mordes geträumt haben bedeutet das nicht, daß Sie nicht das Potential haben, einen Mord zu begehen. Sie haben schon recht, der Mordomat kann das noch nicht so recht unterscheiden warum die Aktivität in diesem bestimmten Hirnareal zunimmt. Ob der Betreffende nun tatsächlich gerade einen Mord begeht oder ob er nur daran denkt. Aber allein die Bereitschaft zählt ... und wenn der Algorithmus dann berechnet, daß bei Ihnen die Mordwahrscheinlichkeit stark erhöht ist, dann können wir Sie nicht so einfach laufen lassen. Das werden Sie doch einsehen müssen. Die Bevölkerung muß geschützt werden. Vor Viren genau wie vor Mördern.'

'Was soll das heißen, Mordwahrscheinlichkeit stark erhöht', heulte der in die Enge Getriebene auf. 'Was für eine Mordwahrscheinlichkeit! Wen sollt ich denn umbringen? Ich hab doch garkein Motiv?'

'Na, sollen wir Ihnen das vielleicht auch noch liefern?, höhnte Wendler. 'Außerdem, noch nie was von Mord im Affekt gehört?' Wieder verdrehte Petrov die Augen. Mord im Affekt. Das wär dann höchstens Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge, aber Wendler war jetzt voll in Fahrt, da mußten sie jetzt alle durch, ob sie wollten oder nicht. Eigentlich sah er diese Stückerln seines Chefs manchmal nicht einmal ungern. 

Natürlich war es grundfalsch was da ablief, andererseits verging so die Zeit bis zum Feierabend schneller, als wenn man lediglich tatenlos herumsaß. Seit der weltweiten Pandemie damals in den Zwanziger Jahren waren die Leute so verängstigt und handzahm, daß kaum noch Verbrechen verübt wurden. Und wenn, dann kam man ihnen dank der stark verbesserten Überwachungstechnologie recht rasch dahinter. 

Allerdings war dieser Fortschritt eine ambivalente Sache. Die zu rasche Entwicklung der künstlichen Intelligenz hatte oft groteske Auswirkungen. Immer öfter wurden Neuerungen eingeführt, noch bevor sie völlig ausgereift waren. Was bei Autos lediglich leichte Kollateralschäden verursachte, führte in der Justiz jedoch bald einmal zum völligen Chaos. 

Der Verhaftete war inzwischen zum wimmernden Wurm geworden - wie die meisten Leute war er ohne Kaffee in der Früh einfach zu nichts zu gebrauchen, nicht einmal dazu, sich vernünftig selber zu verteidigen. Anwalt hatte er, wie alle rechtschaffenen Leute, natürlich keinen. Wozu auch. Wer glaubte schon daran, daß man ihn eines Tages wegen eines Mordes verhaften würde, den er noch nicht einmal begangen hatte? Genausogut könnte man an Magie glauben oder an winzige Zwerge, die nachts Socken, Armbanduhren und Autoschlüssel umhertrugen, so daß man sich am nächsten Morgen fluchend alles wieder zusammensuchen mußte.

Am Ende würde Wendler den Mann gehen lassen müssen, wie jedes Mal. Aber wann dies der Fall war, das bestimmte Wendler alleine. Achtundvierzig Stunden können sehr, sehr lange sein, und man konnte in dieser Zeit eine Menge Spaß haben. Auch wenn das Vergnügen wie immer sehr einseitig sein würde. Immerhin, tröstete sich Wendler. Man konnte nicht alles haben, und ein bisserl was geht immer ...






Dienstag, 15. September 2020

But the Greatest of These is Love

Boy, I can fly! I didn't know I can fly! What a funny tickling in my stomach - just don't look downwards ... hey folks, I'm flying!!!

It's quite easy, in fact. Just follow your nose. And mine is big enough not to lose my bearings. 

Did I introduce myself? I'm a bit featherbrained sometimes but then I've always been like that, one is getting used to it over time. My name is Macrophelia. No, that's not the one who drowned herself in a bog after winding her way drunkenly across a rain of flowers smelling of magnolias and death. My name just sounds fairly similar which often leads to confusion.

I would never go and kill myself because of a man. Men are asses. Obstinate, greedy and always ready for mating. No woman worth her salt would kill herself over one of those. In my case it was an unfortunate accident. 

Actually, I would have loved to live on for a little longer, even though it had become increasingly uncomfortable on earth - or even because of it. After all you can lend a hand to the needy in times like these and don't just rot away in your flat as usual. When almost everything you used to entertain yourself with is suddenly forbidden, people learn to be happy about small things. But we never got that far, people and I.

The other day I went for a romantic walk in the moonlight, at the outskirts of town, near the autobahn, certain that at this time of night I would be the only one roaming around in this lost area ... and whaaaaam ... all of a sudden a burning motorcycle comes popping out of the bushes right in front of me and even before I can jump aside we collide, the motorcycle explodes with a loud BANG and both the driver and I go up in flames. Tough luck.

Stupid gang warfare. That's the North of Munich for you. Only three weeks ago somebody shot his dealer in his car. The dealer's car, that is. Just like that. Got out his gun and boom. This dealer must have been some kind of eijit anyway if he thought he'd get his money without any hassle? Just like that? A well, that's what you get for being an arrogant cunt.

Talking about arrogant, I have to be more careful, it's rather foggy today, a real peasouper. But hey, I can read peoples' thoughts! Way cool! This sour-faced woman in there wants to call the police because it buggers her that over by the lake there are two youths sitting on a bench, drinking beer. After all, she doesn't have any joy in her life, so others must also joylessly obey all and any of the new rules.
But, old woman, who says you mustn't have joy anymore? Why don't you go over to your neighbour and ask her if she wants to join you for coffee and cake? Be a Bavarian rebel! Just visiting each other, wicked!!! Can you do that? Ah, she hesitates. Apparently she can hear me when I interfere with her thoughts. Cool!

Write note to neighbour! Cake! No snitching on young people!

So there, her hand puts back the receiver! Slowly she makes her way into the kitchen and ... now I can't see her anymore. Perhaps she's leaving through her recipe book? Do recipe books also contain recipes for cakes? I wouldn't know anything about that. I don't think I have ever been a housewife. In none of my lives.

Ha, that was a narrow escape. Perhaps I ought to let the boys down there know that nowadays it's a crime to possess a bottle of beer - at least if you are drinking it on a park bench, and especially if there is someone else sitting on this bench with you.

Oh no, the police are already there! Has grandma called them after all? No, they can't be that fast. Apparently somebody else ... the Germans are really too bad. Not a bit out of practice since back then ...

A bulky policeman gets out of his car and comes lumbering over, his colleague stays seated, the police radio is heard bleating into the stillness of the night, the policeman thinks: 'For fuck's sake, will they never learn? Carelessly jeopardising other peoples' lives because they can think of nothing else but fun and partying! On the other hand ... what's wrong with having a bit of fun now and then?'

Frozen with fear, the two youngsters sit and stare at the policeman who suddenly laughs and asks: 'Well, blokes, any chance of bumming a beer from you?'

The boys look at him, then at each other, then at him once more. They think he's taking the piss, fear an outburst of fury - which doesn't happen. The colleague still sits in the car, growling into his phone: 'Listen Mam, I'm working! No, I have no idea what the recipe for Aunt Annies Guglhupf cake went like. Why don't you go and dive into this old chest where you keep all your mouldy treasures? Yeah, exactly, the one on the attic.'

Meanwhile, the older policeman has joined the two youngsters on the bench and he too, has a bottle of beer in his hands now. Bavarian beer. Because it's the best. And because it's custom in Bavaria to drink beer. They agree on that, all three of them. I fly on happily.

Hey, that's fun! All these stupid new laws our dear Governor thinks up every day, just as he thinks fit. Seven at a time, sometimes even more. Hah, I'll put a spoke in this one's wheel!!!

Mercurially I turn a few funny flips and then I bomb along, in a quest for snitches and police brains who needs urgent proselytizing. Quite possibly I will be called to account for this one sooner or later. Probably very soon I'll have to face the heavenly music. But it's worth the trouble. At least this way I didn't die for nothing. Mankind can be good if they want to, I'm certain of that. Only - most of them forgot what's really important. And I will remind them. So as things will turn out all right in the end. Faith, Hope, Love. But the greatest of these is Love!

1050 words