'Mama, Mama, schau mal! Der Mann da hat drei Arme!'
Schmunzelnd blickte ich in die Richtung der kleinen Familie, deren jüngster Nachwuchs soeben meine neueste Errungenschaft entdeckt hatte. Sie saßen auf einem der Vierersitze im hinteren Teil des U-Bahn Wagens und starrten ungläubig in meine Richtung.
Ja, ich genoß die Bewunderung der Leute. Einer der ersten zu sein, die neue Trends erspürten und ganz vorne mit dabei waren, war einfach geil. Zur Norm zu gehören war langweilig. Fad wie altes Brot. Hier in der Großstadt war man besser am Puls der Zeit. Man mußte wer sein. Sonst könnte man geradesogut am Land leben und Schafe züchten. Und jeden Tag mit seinem Hund die Runde durchs Dorf machen. 'Grüß Gott Herr Mayer' 'Grüß Gott Herr Huber.' Nein wirklich, wie scheußlich.
Meterlange Fingernägel und Schlauchbootlippen waren, auch wenn viele das noch nicht mitbekommen hatten, mittlerweile sowas von passée. Wer in München etwas auf sich hielt, ließ sich einen dritten Arm annähen. Wie sonst sollte man in den Öffis Kaffeebecher und was zum Lesen jonglieren und sich gleichzeitig festhalten? Sicherheit ging schließlich vor.
Die Operation war kein großer Akt, bei der Gelegenheit konnten auf besonderen Wunsch die Plastiker hinzugezogen und somit unauffällig eine Straffung der lasch gewordenen Oberarmhaut durchgeführt werden. Besonders für die etwas älteren Damen der Schöpfung interessant, die hatten auch das dafür nötige Sondervermögen auf der Seite.
Am liebsten hätte ich die kleine Episode mit der Familie sofort all meinen Freunden weitererzählt, doch seit diese alte Wetterhexe Kanzlerin geworden war, hatte man den Betrieb von Handys in allen Öffentlichen Verkehrsmitteln verboten. Wegen der Ruhestörung die angeblich damit einherging. Nun, wir Trendsetter ließen uns von solchen Verboten nicht die Laune verderben, wir dachten uns flugs etwas Neues aus: Das Comeback der Brieftauben.
Immer öfter sah man nun Menschen in den Bussen und Bahnen, die einen Käfig mit einer oder mehreren Brieftauben mit sich führten. Wollte man jemandem etwas mitteilen, so wurde die Message auf einen Zettel geschrieben und die Taube an der nächsten Haltestelle durch die offene Türe hinausgeschickt. Voll der Retro-Chic.
Natürlich handelte es sich hierbei nicht um echte Tauben. Die Verunreinigung der Sitze und Fußböden wäre unerträglicher gewesen als die Lärmbelästigung durch ständiges Telefonieren und Musikhören. Nein, es handelte sich hierbei selbstverständlich um das neueste elektronische Gadget bei dessen Entwicklung ich, wenn ich das so sagen darf, nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Die Handynummern der Zielpersonen konnten vorab einprogrammiert und gespeichert werden und die Tauben flogen so, völlig selbstständig, direkt zur Zielperson. Es sei denn, diese hatte ihr Mobiltelefon zu Hause gelassen. Aber wer macht das schon. Heutzutage. Keiner! Außer vielleicht VOLL ALTE Leute.
Bei Regen war das Ganze nicht wirklich ideal, hier war die Idee noch etwas unausgereift. Kindische Gemüter wollten die Tauben mit kleinen bunten Schirmchen ausstatten, aber das hätte sicherlich ein erneutes Taubenflugverbot nach sich gezogen, in Brüssel hatte man keinen Sinn für Humor.
Unlängst hatte man damit gedroht, uns die Leberkässemmeln verbieten zu wollen. Geh bitte! Bayern ohne Leberkässemmeln? Undenkbar! Obwohl ich persönlich ja nichts von Backwaren halte. Mein neuester Lieblingstrend im Food-Sektor sind die Snackzitronen. Die werden in Italien extra zum Verzehr samt Schale gezüchtet und sind sooooooooo lecker. Wenn ich damit so locker-leicht im Eck einer Vierergruppe sitze und mit beiden Armen die Zeitung halte während der dritte Arm meinen Mund mit den Snackzitronen versorgt, trifft mich so manch neidischer Blick.
Der neueste Gag der Wetterhexe lautete, man dürfe ab dem kommenden Jahr Prothesen nicht mehr mitbeerdigen. Angeblich wegen des Grundwassers. Ich habe daher verfügt, daß mein dritter Arm zu einer Skulptur verarbeitet und oberhalb des Grabes befestigt werden soll. Nicht, daß ich von Todessehnsucht geplagt wäre, aber ist ist ratsam, sich beizeiten Gedanken zu machen. Damit es einem keinesfalls ergeht wie dereinst dem guten Herrn Mozart, dessen Gebeine man derartig achtlos entsorgt hatte, daß heute niemand mehr weiß, wo er eigentlich wirklich begraben ist und die Fans zu einem 'Ehrengrab' auf dem St. Marxer Friedhof pilgern müssen wenn sie ihm Blümchen bringen wollen.
So etwas wird mir nicht passieren, meine Grabstelle ist bereits bestellt und bezahlt. Nur mit der Kunst hapert es bei mir ein wenig. Meine Bilder interessieren außer meiner Psychologin niemanden. Man muß heutzutage immer gröbere Schoten bringen um Aufmerksamkeit zu erregen.
Plötzlich ein Ruck, die Fahrt stoppte abrupt. Neben mir schwappten einige Kaffeebecher über, gedämpftes Fluchen entfleuchte den Mündern der nun braun gefleckten Yuppies. Von weiter vorne hörte ich lautes Gröhlen. War da einer in aller Herrgottsfrüh schon blau? Da verbieten sie einem, die Handys anzuschalten weil sie zu laut sind, aber Rumgröhlen geht oder was?
Mit Entsetzen erkannte ich eine groteske Gestalt mit einer Kettensäge, die sich durch die Wagenreihen hindurch bis zu uns nach hinten durcharbeitete. Mir warf er nur einen verächtlichen Seitenblick zu und steuerte dann zielgerichtet auf das Kleinkind zu, das mich soeben noch bewundernd angestarrt hatte. Nun war der Kerl dabei, mir die Show zu stehlen. Mit grimmigem Gesicht hielt er die Kettensäge hoch und brüllte: 'Kinder! Ich hasse Kinder! Ständig brüllen sie überall umeinander und gehen einem am Nerv! Ich bring euch alle um! Alle! Und mit DIR fange ich an!!!'
Ich sah mich hastig um. Die Mitfahrenden starrten, wie der Münchner das nun mal so macht, weiterhin in ihre Zeitungen oder auf den Boden und taten so, als nähmen sie nicht wahr, was um sie herum geschieht. Nun, ich bin wahrlich selbst kein Kinderfreund, aber was zu weit geht, geht zu weit. Ich warf meinen Kaffeebecher Richtung Yuppies (war auch schon egal) und stürzte mich von hinten auf das Monster. Trainiert war ich ja, das gehört dazu wenn man in sein möchte. Zudem hatte ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Ich entriß ihm die Kettensäge und haute sie ihm mit aller Gewalt derer ich fähig war gegen den Schädel. Langsam kippte er zur Seite und sah mich direkt an: 'Du kannst mich nicht umbringen. Ich bin unsterblich. Aber du hast heute dazu beigetragen, daß ich eine Aufgabe erledigen konnte, die mich wieder etwas weiter in Richtung Himmel bringt. Weißt du, eigentlich bin ich ein Engel und es macht ECHT keine Freude, immer den Teufel geben zu müssen. Echt nicht. Ständig diese Hitze und nur langweilige Leute um einen herum. Du bist heute über deinen Schatten gesprungen und hast versucht, jemand anderem zu helfen. Ich feier dich dafür Bro. Gehe hin in Frieden.'
In diesem Moment bekam sein Gesicht tatsächlich etwas Engelsgleiches. Er lächelte freundlich und löste sich vor meinen ungläubigen Augen in Luft auf. Weg war er! Die Leute um mich herum schienen absolut nichts mitbekommen zu haben. Nach wie vor glotzten sie in die Zeitungen und einer murmelte grantig: 'Wann fahrt'n der endlich weida! I hob an Termin, zefix!'
Morgen früh werde ich den jungen Mann am Kiosk einmal fragen, was genau er eigentlich alles in den Kaffee mischt ...