Donnerstag, 20. März 2025

Das Comeback der Brieftauben

'Mama, Mama, schau mal! Der Mann da hat drei Arme!'

Schmunzelnd blickte ich in die Richtung der kleinen Familie, deren jüngster Nachwuchs soeben meine neueste Errungenschaft entdeckt hatte. Sie saßen auf einem der Vierersitze im hinteren Teil des U-Bahn Wagens und starrten ungläubig in meine Richtung.

Ja, ich genoß die Bewunderung der Leute. Einer der ersten zu sein, die neue Trends erspürten und ganz vorne mit dabei waren, war einfach geil. Zur Norm zu gehören war langweilig. Fad wie altes Brot. Hier in der Großstadt war man besser am Puls der Zeit. Man mußte wer sein. Sonst könnte man geradesogut am Land leben und Schafe züchten. Und jeden Tag mit seinem Hund die Runde durchs Dorf machen. 'Grüß Gott Herr Mayer' 'Grüß Gott Herr Huber.' Nein wirklich, wie scheußlich.

Meterlange Fingernägel und Schlauchbootlippen waren, auch wenn viele das noch nicht mitbekommen hatten, mittlerweile sowas von passée. Wer in München etwas auf sich hielt, ließ sich einen dritten Arm annähen. Wie sonst sollte man in den Öffis Kaffeebecher und was zum Lesen jonglieren und sich gleichzeitig festhalten? Sicherheit ging schließlich vor.

Die Operation war kein großer Akt, bei der Gelegenheit konnten auf besonderen Wunsch die Plastiker hinzugezogen und  somit unauffällig eine Straffung der lasch gewordenen Oberarmhaut durchgeführt werden. Besonders für die etwas älteren Damen der Schöpfung interessant, die hatten auch das dafür nötige Sondervermögen auf der Seite.

Am liebsten hätte ich die kleine Episode mit der Familie sofort all meinen Freunden weitererzählt, doch seit diese alte Wetterhexe Kanzlerin geworden war, hatte man den Betrieb von Handys in allen Öffentlichen Verkehrsmitteln verboten. Wegen der Ruhestörung die angeblich damit einherging. Nun, wir Trendsetter ließen uns von solchen Verboten nicht die Laune verderben, wir dachten uns flugs etwas Neues aus: Das Comeback der Brieftauben.
Immer öfter sah man nun Menschen in den Bussen und Bahnen, die einen Käfig mit einer oder mehreren Brieftauben mit sich führten. Wollte man jemandem etwas mitteilen, so wurde die Message auf einen Zettel geschrieben und die Taube an der nächsten Haltestelle durch die offene Türe hinausgeschickt. Voll der Retro-Chic.

Natürlich handelte es sich hierbei nicht um echte Tauben. Die Verunreinigung der Sitze und Fußböden wäre unerträglicher gewesen als die Lärmbelästigung durch ständiges Telefonieren und Musikhören. Nein, es handelte sich hierbei selbstverständlich um das neueste elektronische Gadget bei dessen Entwicklung ich, wenn ich das so sagen darf, nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Die Handynummern der Zielpersonen konnten vorab einprogrammiert und gespeichert werden und die Tauben flogen so, völlig selbstständig, direkt zur Zielperson. Es sei denn, diese hatte ihr Mobiltelefon zu Hause gelassen. Aber wer macht das schon. Heutzutage. Keiner! Außer vielleicht VOLL ALTE Leute.

Bei Regen war das Ganze nicht wirklich ideal, hier war die Idee noch etwas unausgereift. Kindische Gemüter wollten die Tauben mit kleinen bunten Schirmchen ausstatten, aber das hätte sicherlich ein erneutes Taubenflugverbot nach sich gezogen, in Brüssel hatte man keinen Sinn für Humor.

Unlängst hatte man damit gedroht, uns die Leberkässemmeln verbieten zu wollen. Geh bitte! Bayern ohne Leberkässemmeln? Undenkbar! Obwohl ich persönlich ja nichts von Backwaren halte. Mein neuester Lieblingstrend im Food-Sektor sind die Snackzitronen. Die werden in Italien extra zum Verzehr samt Schale gezüchtet und sind sooooooooo lecker. Wenn ich damit so locker-leicht im Eck einer Vierergruppe sitze und mit beiden Armen die Zeitung halte während der dritte Arm meinen Mund mit den Snackzitronen versorgt, trifft mich so manch neidischer Blick.

Der neueste Gag der Wetterhexe lautete, man dürfe ab dem kommenden Jahr Prothesen nicht mehr mitbeerdigen. Angeblich wegen des Grundwassers. Ich habe daher verfügt, daß mein dritter Arm zu einer Skulptur verarbeitet und oberhalb des Grabes befestigt werden soll. Nicht, daß ich von Todessehnsucht geplagt wäre, aber ist ist ratsam, sich beizeiten Gedanken zu machen. Damit es einem keinesfalls ergeht wie dereinst dem guten Herrn Mozart, dessen Gebeine man derartig achtlos entsorgt hatte, daß heute niemand mehr weiß, wo er eigentlich wirklich begraben ist und die Fans zu einem 'Ehrengrab' auf dem St. Marxer Friedhof pilgern müssen wenn sie ihm Blümchen bringen wollen. 

So etwas wird mir nicht passieren, meine Grabstelle ist bereits bestellt und bezahlt. Nur mit der Kunst hapert es bei mir ein wenig. Meine Bilder interessieren außer meiner Psychologin niemanden. Man muß heutzutage immer gröbere Schoten bringen um Aufmerksamkeit zu erregen. 

Plötzlich ein Ruck, die Fahrt stoppte abrupt. Neben mir schwappten einige Kaffeebecher über, gedämpftes Fluchen entfleuchte den Mündern der nun braun gefleckten Yuppies. Von weiter vorne hörte ich lautes Gröhlen. War da einer in aller Herrgottsfrüh schon blau? Da verbieten sie einem, die Handys anzuschalten weil sie zu laut sind, aber Rumgröhlen geht oder was?

Mit Entsetzen erkannte ich eine groteske Gestalt mit einer Kettensäge, die sich durch die Wagenreihen hindurch bis zu uns nach hinten durcharbeitete. Mir warf er nur einen verächtlichen Seitenblick zu und steuerte dann zielgerichtet auf das Kleinkind zu, das mich soeben noch bewundernd angestarrt hatte. Nun war der Kerl dabei, mir die Show zu stehlen. Mit grimmigem Gesicht hielt er die Kettensäge hoch und brüllte: 'Kinder! Ich hasse Kinder! Ständig brüllen sie überall umeinander und gehen einem am Nerv! Ich bring euch alle um! Alle! Und mit DIR fange ich an!!!'

Ich sah mich hastig um. Die Mitfahrenden starrten, wie der Münchner das nun mal so macht, weiterhin in ihre Zeitungen oder auf den Boden und taten so, als nähmen sie nicht wahr, was um sie herum geschieht. Nun, ich bin wahrlich selbst kein Kinderfreund, aber was zu weit geht, geht zu weit. Ich warf meinen Kaffeebecher Richtung Yuppies (war auch schon egal) und stürzte mich von hinten auf das Monster. Trainiert war ich ja, das gehört dazu wenn man in sein möchte. Zudem hatte ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Ich entriß ihm die Kettensäge und haute sie ihm mit aller Gewalt derer ich fähig war gegen den Schädel. Langsam kippte er zur Seite und sah mich direkt an: 'Du kannst mich nicht umbringen. Ich bin unsterblich. Aber du hast heute dazu beigetragen, daß ich eine Aufgabe erledigen konnte, die mich wieder etwas weiter in Richtung Himmel bringt. Weißt du, eigentlich bin ich ein Engel und es macht ECHT keine Freude, immer den Teufel geben zu müssen. Echt nicht. Ständig diese Hitze und nur langweilige Leute um einen herum. Du bist heute über deinen Schatten gesprungen und hast versucht, jemand anderem zu helfen. Ich feier dich dafür Bro. Gehe hin in Frieden.'

In diesem Moment bekam sein Gesicht tatsächlich etwas Engelsgleiches. Er lächelte freundlich und löste sich vor meinen ungläubigen Augen in Luft auf. Weg war er! Die Leute um mich herum schienen absolut nichts mitbekommen zu haben. Nach wie vor glotzten sie in die Zeitungen und einer murmelte grantig: 'Wann fahrt'n der endlich weida! I hob an Termin, zefix!'

Morgen früh werde ich den jungen Mann am Kiosk einmal fragen, was genau er eigentlich alles in den Kaffee mischt ...



















Mittwoch, 12. März 2025

Die Moorleiche


Urlaub am Land. Petra war begeistert. Nicht. Statt sich wie geplant mit ihrem Schwarm jede Nacht in der Disco zu vergnügen, während die Eltern auf Urlaub waren, hatte sie dieses Mal wieder mitgemußt. Wegen der Brandflecken im Wohnzimmerteppich und der Zigarettenasche in den Blumenkübeln, und nicht zuletzt auch wegen der pickerten Bierflecken welche die gesamte Vortreppe bis hinunter verunziert hatten und nur schwer wegzuschrubben gewesen waren.

'Nur weil deine Eltern Geld und demzufolge ein großes Haus haben, bedeutet das nicht, daß du in unserer Abwesenheit jeden Krethi und Plethi zur Party bitten kannst!', hatte es grämlich geheißen. Man hatte ihr mangelnde sittliche Reife attestiert und nun hockte sie mit ihren Eltern in diesem Kaff im Schwäbischen und langweilte sich praktisch rund um die Uhr halb zu Tode. Hier war absolut NICHTS los! Klar, man konnte ins Schwimmbad gehen, aber dort waren tagsüber meist auch nur alte Omis, die Wassergymnastik machten. Der nächste Höhepunkt im Dorfleben wäre das Schnakenfest gewesen, welches aber erst nach ihrer Abreise stattfinden würde. Dabei waren ihre Arme und Beine bereits jetzt großflächig mit Quaddeln bedeckt, überall dort, wo die hungrigen Mistviecher sich bedient hatten. Sehr gerne hätte sie denen mal die Meinung gesagt!

Für heute Mittag war eine Führung durch das Torfmuseum angesagt. Gäääääähn. Danach durfte man eine Runde mit der Torfbahn fahren, auf die der von Ehrenamtlichen geführte Verein mächtig stolz war. Wenigstens gab es vorher noch was zu Essen. Der Vater hatte bereits total auf wichtig einen Vortrag gehalten, demzufolge es in Gebieten, in denen der aktive Abbau des Torfs beendet worden war, oft solche Attraktionen gab um den Tourismus anzukurbeln. Ja das war hier aber auch dringend nötig. Die Wanderwege waren großteils verwaist, ab und an begegnete man einer pensionierten Handarbeitslehrerin oder einem ältlichen Vogelkundler mit Fernglas und Kamera. Die totale Ödnis, wohin man auch blickte.

Die Gegend war hübsch, keine Frage, aber doch nichts für ein junges Mädel! Wenn die Mutter beglückt auf die Kuhherden hier und da zeigte und der Vater gleich wieder Vorträge darüber hielt, daß es sich bei den jungen Kühen sicherlich um Färsen handelte, die hier vorbildlicherweise nicht von der Herde getrennt aufwuchsen sondern bei ihren Müttern bleiben durften, fiel es Petra wirklich sehr, sehr schwer, nicht in lautes Geschrei auszubrechen und sich kopfüber auf die nächste Fahrbahn zu stürzen. Hätte sowieso nichts genutzt, es kam nur extrem selten einmal ein Fahrzeug vorbei. Die Ampel beim Rathaus hätte man sich direkt sparen können. Offenbar war der Bürgermeister ein vorsichtiger Mensch und wollte keine Risiken eingehen.

Die Führung im Museum war dann doch nicht ganz so uninteressant wie Petra befürchtet hatte. In der Gruppe wißbegieriger Wandersleute befand sich unter anderem ein recht sympathisch aussehender Junge in ihrem Alter, der bestimmt genauso gegen seinen Willen von den Eltern hierhergeschleppt worden war wie sie. Eifrig versuchte Petra, seine Aufmerksamkeit zu erregen, doch leider, leider hatte sie sich in der Früh nicht geschminkt. Für wen auch. Abgesehen davon hatte sie befürchtet, die Wimperntusche würde in der Hitze nur schmelzen und wie sah das dann aus? Besser bleiben lassen. Und nun stand sie da in ihrem langweiligen alten Kleid, ungeschminkt und fad, nicht einmal die Haare waren ordentlich gekämmt. Kein Wunder, daß er nicht herschauen wollte. Der würde sich doch nicht allen Ernstes für diesen dreckigen alten Dolch da vorne interessieren, den man vor tausend Jahren oder so mal ausgegraben hatte und der irgendeinem bescheuerten Krieger gehört hatte? Menno! Sollte sie den Jungen mit Papierkügelchen bewerfen? Nee, zu aufdringlich. Was war das auch für ein Stiesel! Warum guckte der nicht!!! Hier war ja nun wirklich keinerlei Konkurrenz, gegen die sie sich zu behaupten hätte. Außer diesem blöden Dolch!

Der Vortragende vorne näselte unbeirrt weiter, irgendeine voll beknackte Story wie sie früher Mithilfe beim Torfstechen verlost hatten, stets interessant für alleinstehende Damen aufgrund der hübschen kräftigen Arbeiter, und eine der Damen auf einmal aufgeschrien hatte und in Ohnmacht gefallen war, weil im Lostopf eine Unke auf den fein säuberlich zusammengerollten Losen gesessen hatte. 'Des isch hald so bei ons in dr Naduuur', grinste er nachträglich noch schadenfroh und kündigte an, man dürfe sich nun nach draußen begeben, 'des Bähnle' würde gleich vorgefahren und man dürfe einsteigen.

Die Gleise waren Petra bei der letzten Wanderung schon aufgefallen und sie freute sich auf eine lange Fahrt durch die unheimliche Moorlandschaft, auf Aussichten, die man vom Weg aus nicht hatte, und vor allem darauf, neben dem Jungen zu sitzen zu kommen. Das müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie es nicht schaffen würde, hinter ihm in den Zug zu klettern!

Eifrig drängelte sie sich in seine Nähe und es gelang ihr tatsächlich, auf derselben Sitzbank zu landen auf der ihr neuer Schwarm soeben Platz genommen hatte. Leider saß ihr Vater ihnen beiden genau gegenüber ... das durfte doch nicht wahr sein! Nach wie vor beachtete der Junge sie kein bißchen, blickte interessiert aus dem Fenster, und als der Zug ruckelnd anfuhr, winkte er eifrig seiner Mutter, die vor dem Museum zurückgeblieben war. So ein blödes Mamakind, ärgerte sich Petra. Nun, dann wollte sie wenigstens die Fahrt genießen. Vorwitzig streckte sie ihre Nase in den Wind und während die Bahn langsam über die alten Schienen ratterte, war sie fast schon wieder mit dem Urlaub versöhnt. Doch was war das? Bereits nach der ersten Kurve kam der Zug zum Stehen, aus der Fahrerkabine kletterte ein Mann heraus und begann, einen Vortrag über die Torfbahn zu halten und die Anwesenden darüber aufzuklären, wie der Verein in mühevoller Kleinarbeit die Schienen erneuert hatte und sich seither aufopferungsvoll um die Erhaltung selbiger kümmerte, damit man wenigstens ein paar Meter bis hierher fahren und den Leuten ...

'This is a bloody hoax!', schrie da auf einmal der Junge neben Petra so laut auf, daß ihr fast die Ohren weggeflogen wären. 'Ye scamming arseholes take our money and promise a ride across the moors and THAT'S all we get? I can't believe it!' *

Mit offenem Mund starrte Petra den Schreihals an. Nun ja, er hatte recht, aber sich dermaßen aufzuführen? Bei dem Wetter? Auch Petras Vater versuchte, beruhigend auf den Jungen einzuwirken, doch vergebens.

'I'll sue your bloody arses off, yer minging twats!',** polterte der junge Mann, den Petra mittlerweile keineswegs mehr anziehend oder auch nur sympathisch fand, weiter.

Grinsend kam der Vortragende auf den Wagen zugeschlendert, aus dem der Unsympath mittlerweile mit grimmigem Gesicht weit herauslehnte.

'You want to see more of our lovely moors? Come on then, follow me, I know of an especially beautiful spot.' *** Zögerlich kletterte der Knabe aus dem Waggon und folgte dem Mann. Sämtliche im Zug sitzenden Touristen sahen den beiden gespannt nach wie sie hinter dem Haufen verrosteter, zur Dekoration aufgebauten ehemaligen Torfabbaumaschinen verschwanden, die in der Mitte des Gleisrundes aufgebaut waren.

Plötzlich kam der Junge, käseweis im Gesicht, wieder um die Ecke geschossen, rannte zu seinem Vater, der weiter hinten im Zug saß und stotterte: 'There's a stiff down yonder, all you can see is an airm ...' ****

Petra sah wie der Angestellte dem Vater leise zublinzelte, dieser blinzelte zurück, nahm seinen Sohn tröstend in den Arm und meinte: 'Ja dann sind wir doch mal froh, lieber Sohn, daß wir nicht weiter ins Moor hinausfahren müssen, wer weiß, ob es uns dann nicht vielleicht auch so ergehen würde?'

Später, nach der Rückkehr des Zuges zum Bahnhof vor dem Museum, hörte Petra wie der Angestellte zum Vater des Jungen leise sagte: 'Nur ein Scherzartikel, ein skelettierter Arm der im Boden steckt. In unseren Mooren kann schon lange niemand mehr versinken. Aber offenbar hat es ihren aufgebrachten Sprößling zur Raison gebracht. Mit den Yorkshire Moors können wir hier beileibe nicht mithalten.'

*Das ist totale Verarschung! Ihr betrügerischen Arschlöcher nehmt unser Geld und versprecht uns eine Fahrt durch's Moor und das ist alles? Ich glaub das jetzt nicht!

**Ich klag euch bettelarm, ihr ... (üble Beleidigung, die wäre FSK18 ;-)

*** Du willst mehr von unserem Moor sehen? Dann komm mit. Ich kenne da eine ganz besonders bezaubernde Ecke.

**** Da drüben liegt eine Leiche, man sieht nur noch einen Arm ...