Donnerstag, 27. Februar 2025

Am Küchentisch mit Erna


'Ja Mann und wieso? Wieso ist das keine gute Idee? Die Idee ist astrein!'
Zornig fegte Manne mit dem Arm heftig über den Tisch, so daß die festgepappten Bierflaschen rumpelnd und klirrend am anderen Ende zu Boden fielen.

'Haste toll gemacht Manne, echt toll!', regte sich Erwin auf. 'Jetzt überleg doch mal. Du willst Leute abchecken die auf deiner neuen App ihre Wanderungen live aufzeichnen und während sie weg sind, räumst du ihre Bude aus. Soweit so gut. Aber wie willst du die erkennen? Die tragen ihren Namen und ihre Adresse doch nicht auf den Klamotten wie die Fußballer ihre Zahlen. Willst den Leuten nachschleichen und sie fragen wer sie sind? Und am besten noch, ob sie eh guten Schmuck daheim rumliegen haben?'

'Schmarrn Alter! Ich geh denen unauffällig nach und dann seh ich ja wo sie wohnen und mit wem. Und beim nächsten Ausflug ... rein in die gute Stube! Ich versteh dein Problem nicht.'

'Weil das viel zuviel Aufwand ist. Überleg doch mal. Bis du endlich mal ein passendes Opfer gecheckt hast können Wochen vergehen und dann ist es ein fauler Sack der nur alle paar Monate mal rausgeht ... ich seh das einfach als wenig rentabel an.'

'Ja Mann Erwin echt, du klingst wie mein Vater! Weißte was? Dann zieh ich das alleine durch. Du bist und bleibst ein Schisser. Kannst ja weiter auf Stütze vor dich hinmodern, wenn dich das aufbockt. Wirst schon sehen wer am Ende recht hat. Und dann kannst schaun, wenn ich mit nem coolen Auto und zwei heißen Bräuten drin vorfahre und du immer noch einsam und alleine auf deinem rostigen Radl durch die Gegend eierst.'

'Ja so blöd wärst du auch noch, dir eine Angeberkarre zu kaufen. Alter! Da fragen sie dich doch dann sofort wo die Asche herkommt! Du darfst deinen Lebensstil doch nicht ändern, bist du völlig bescheuert? So fliegst doch sofort auf! Sehnsucht nach Kaisheim?'

Bamm. Mit einem lauten Knall war die Wohnungstüre ins Schloß gefallen. Ok, Manne war mal wieder sauer. Aber so war er halt. Ständig neue Ideen im Schädel die ihn fast immer auf direktem Wege zurück in den Knast führten. Und wenn man was sagte flippte er aus. Manche Leute lernen es einfach nie. Wenigstens war jetzt wieder Ruhe. Behaglich angelte sich Erwin eins seiner Comics vom Boden, legte die Füße auf den nun freien Tisch und begann zu lesen.

So richtig konzentrieren konnte er sich jedoch nicht. Die Idee von Manne ließ ihn nicht los. So ganz dumm war die tatsächlich nicht. Wenn die Adrenalinjunkies sich in Wald und Heide austobten, waren sie nicht nur eine Zeitlang beschäftigt sondern man konnte in der App ja auch genau sehen, wo sie waren und wann sie demzufolge frühestens nach Hause kämen Vorausgesetzt natürlich ... Erwin sprang auf und begann, in seinem Kleiderschrank zu wühlen.

Am nächsten Morgen joggte Erwin keuchend um den Stempflesee herum. Bissl was für die Fitneß tun, redete er sich ein. Schadet nie. Da vorne, der Große mit den teuer aussehenden, schreiend bunten Outdoor Klamotten. Ob er sich den mal näher ansehen sollte? Langsam auf der Stelle trippelnd verfolgte Erwin die Runden des federnden Sportsmannes, warum sich unnötig quälen, bis dieser endlich Richtung Parkplatz abbog. Enttäuscht und außer Atem mußte Erwin mit ansehen, wie sein Zielobjekt in einen feschen Sportwagen einstieg und röhrend davonbrauste. Shit! Klar! Hierher fuhr niemand mit der Straßenbahn wenn er sich ein Auto leisten konnte. Böser Denkfehler. Also Ortswechsel. 

Die App leitete ihn als nächstes auf die Feldwege zwischen Inningen und Bobingen. Prima Gelände, hier mußten die Leute nicht mit dem Auto hinfahren, da sie nicht weit entfernt wohnten. Die App zeigte ihm einen älteren Herrn, der zwar nicht besonders teuer gekleidet war, aber eine fette Breitling am Arm trug. Ihm zumindest konnte er ohne weiteres folgen. Gemächlich drehte der Opa seine Runde und ließ sich schlußendlich auf dem Bankerl beim Friedhof nieder um sich auszuruhen. Ja toll! Unauffällig schlich Erwin durch die Gräberreihen, immer die App im Auge, um ja das Aufbrechen seines Zielobjeks nicht zu versäumen.

'Ja sag amal, die jungen Kerle, sogar am Friiiiiiiedhof immer des Handy vor die Augen! Hosch du keun Reschpekt mehr vor die Toten, ha!' Verdutzt blickte Erwin in die zornblitzenden Augen einer älteren Dame, die es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht hatte, auf dem Inninger Friedhof für Zucht und Ordnung zu sorgen. 
'Wem g'hörsch denn du? In die Kirch gehsch jedenfalls ned, do han I di no NIA g'säha!', fuhr sie in breitestem Schwabendialekt fort. 

Verdammt! In diesem Moment sah er, wie der Opa in einen alten verbeulten Toyota stieg und puffend und knarzend die Straße hinabknatterte. Wieder nix! 

'Was guggsch so? Hosch den Herrn Wieninger kennt, oder? Dem sei Frau isch neulich g'storba und seither kommt er jeden Tag ans Grab und dernoch duat er joggen. Wie sie no g'läbt hod, hod er sich nix saga lassa. Aber jetzat ... leider zu spät ...'

Erwin hatte eine Idee: 'Schauen Sie mal, so ein Handy ist wirklich auch sehr praktisch. Wenn man beispielsweise jetzt nicht mehr weiß, wo jemand wohnt, dann kann man das hier nachschauen. Was hat denn der Herr Wieninger für eine Adresse?' 'Ja Lindauer Schtroß 80b, deswäga fahrt er ja mit'm Audo. Des laufsch nemme in dem Alter.'
'Ja no gucket Se,' verfiel Erwin in den heimischen Dialekt während der die Adresse rasch im Google eingab. 'Do sähat Se? Lindauer Schtroß 80b. Jetzt wenn Sie nemme wisset wo Sie nah müsset, na gangat Se eufach dem Pfeil nooch.'

Die Frau war fasziniert. 'Ond mit meiner Adress gott des au?', fragte sie neugierig. Ihre kleinen verschmitzten Äuglein blickten interessiert zu Erwins Gesicht auf. 'Ha freilich. Des gott mit jedr Adress. Au mit Ihrer.'
'No guggsch amol Steingadener Schtroß 4.'
'Steingadener Schtroß 4? Do war doch amol ... do han I als Kind immr Gutsle kofft ...'
'Ha des isch abr scho lang här... Des waret mei Muttr und mei Schweschtr, dia hend den Lada g'hett. Und I han des Haus g'erbt. Ha, no bisch du doch von do. Abr jetzt zeug mr des amol mit dera Adress!'

Flugs gab Erwin die Steingadener Straße in Google ein und während die alte Dame mit kindlicher Freude die blaue Linie betrachtete, die direkt zu ihrem Häuschen führte, äugte Erwin wohlgefällig nach den Perlenketten, die sie um ihren dürren, faltigen Hals geschlungen hatte.

'Also gell, I glaub so a Handy koff I mr au. Komm, mir fahret in'd Stadt, I muaß bloß grad no des Eumerle bei mir in'd Garaaasch schtella, wenn mr si schicket no kriag ma no den Zug um 10.40 noch Augschburg nei.'

Bevor Erwin auch nur einen Pieps machen konnte, wurde er von der energischen Dame am Arm gepackt und die Straße hinabgezogen. An der nächsten Kreuzung bog sie mit Schwung nach rechts ab: 'Do warat frihers Küh g'schtanda. Ond jetzt? Elles vollr Heisr. A Schand isch des was dia aus onsrm Dorf g'macht hend!!!'

Kurze Zeit später, am Heimweg von Augsburg, nannte die alte Dame nicht nur ein funkelnagelneues Smartphone ihr eigen, auf dem sie bereits mit wachsender Begeisterung herumtippte, sie hatte ihrem treuen Einkaufsbegleiter sogar ein Paar neue Kopfhörer spendiert 'drmit oinr wenigr in dr Schrossaboh mit seine Filmle rumnervt.' Das könne sie nämlich auf den Tod nicht ausstehen. Die angebotene Tasse Tee nach dem erfolgreichen Einkaufsbummel schlug Erwin nicht aus, hoffte er doch, sich in der Wohnung der alten Dame einen umfassenden Überblick über eventuell vorhandene Preziosen machen zu können.

Mit offenem Mund saß Erwin kurze Zeit später am Küchentisch mit Erna, wie sich seine neue Bekanntschaft vorgestellt hatte. Die Wände der gesamten Wohnung waren, soweit er bisher hatte feststellen können, mit Zeitungsausschnitten, Fotos und selbstgemalten Bildern zugepappt. Kein Mut zur Lücke, alles bunt durcheinander, keine Struktur erkennbar. Ihm wurde schwindelig.

'Des isch scho cool, gell?', grinste Erna erfreut, in der irrigen Annahme, ihr Gast sei in purer Bewunderung erstarrt. Erwin räusperte sich und fragte nach der Toilette. Doch nicht einmal hier war seinen Sinnen eine Erholungspause vergönnt. Fotos, Zeitungsausschnitte und Poster klebten nebeneinander, übereinander, durcheinander. Es war der absolute Wahnsinn.

Der Tee war warm und belebend, und Erna trotz ihres starken Dialekts eine wirklich bezaubernde Gesprächspartnerin. Auch sie schien sich sehr über seinen Besuch gefreut zu haben, sprach sie doch, als er sich schlußendlich schweren Herzens von ihr verabschiedete, sofort eine Einladung für ein nächstes Mal aus, gerne auch ohne Anmeldung.
'Wo wird so alts Weib wia I schon higanga, außr in dr Friah amol zomm Friedhof.'

Herr Wieningers Haus stand in einer kleinen Siedlung, die streng genommen bereits zur nächsten Ortschaft gehörte, aber doch näher an Inningen lag als an Göggingen. Sogar eine eigene Bushaltestelle hatte sie, an der etwa alle halbe Stunde ein Bus hielt. Vier Euro wollten sie mittlerweile für eine Fahrt von Augsburg hierher, kein Wunder, daß sich Herr Wieninger für ein Auto entschieden hatte.

Wie jeden Morgen war Herr Wieninger, wie auf der App unschwer zu erkennen war, eifrig zwischen Bobingen und Inningen am Joggen. In das Haus einzusteigen war weiter kein Problem, die Nachbarhäuser waren von dichten Büschen umgeben, nirgends bellte ein Hund. Erwin war begeistert. Wenig später trollte er sich, seine Fundsachen im Rucksack mit sich tragend, nach hinten hinaus über die Äcker in Richtung Wertach. Weniger Zeugen. Zwar stellte die Singold ein kleines Problem dar, doch wer sich auskannte wußte, wo man unauffällig über den Fluß kommen konnte wenn ihn nicht vorher ein Golfball vom benachbarten Platz am Kopf traf. Ein Hopser und es war geschafft.

Seine Teestunde mit Erna fand mittlerweile fast täglich statt. Manne war schon wieder eingefahren weil er ausgerechnet bei einem ehemaligen Polizisten in der Benediktbeurer Straße eingestiegen war, und ohne ihn fühlte er sich einsam. Erna und er unterhielten sich über das Tagesgeschehen, er lud ihr neue faszinierende Apps auf ihr Handy, manchmal spielten sie sogar ein Spiel miteinander. Bis Erna eines Tages fragte: 'Sagamal, kannsch du di no an den Herrn Wieninger erinnern? Der immr in dr Früh am Friedhof kommt vorm Joggn?'
'Ähm ... Herr Wieninger? Der mit der alten Rostkiste?'
'Bei dem hends eibrocha. Dr Schmuck vo seinr Frau. Elles weg. G'woint hodr. Es wär ihm ja ned wegn an Geld hodr gsagt, abr halt die Erinnerung an sei Frau ...' verstohlen wischte sich Erna ein Tränchen aus dem Augenwinkel.
Verdammt. Das hatte er nicht gewollt. So ein reicher Kerl hat doch eine Versicherung hatte er gedacht und somit ist der Schaden gedeckt. Und nun? Nun weinte der arme alte Mann um den Verlust und er, Erwin, war schuld. 
Den Göttern sei Dank hatte er die Schore noch nicht zum Hehler gebracht sondern diese lag sicher im Versteck zwischen Wertach und Seitelbach. Da kam so schnell niemand hin.

Als er am nächsten Morgen mit seinem Rucksack gerade rittlings auf der Fensterbank von Herrn Wieningers Schlafzimmerfenster saß, hörte er von unten eine sonore Stimme:
'Heda, Sie! Was machen Sie da! Hände hoch und keinen Mucks!'
Erschrocken blickte Erwin hinab in den Garten, wo ein typisches Wichtigtuer-Männchen breitbeinig dastand und mit beiden Armen ein längliches, uraltes Gewehr, wohl noch aus Armee-Beständen, auf ihn gerichtet hielt.
'Die Polizei ist schon verständigt. So eine unglaubliche Frechheit, gleich zweimal bei dem armen Herrn Wieninger einbrechen zu wollen! So geweint hat er um den Verlust des Schmucks seiner geliebten Frau und jetzt täten Sie ihm auch noch den Rest mitnehmen wollen? Was für eine Saubande!!!'

'Moment mal!,' verteidigte sich Erwin beherzt. 'Ich möchte nichts stehlen, sondern etwas zurückbringen. Ich habe erfahren, wie nahe dem Bestohlenen der Verlust gegangen war und da ich wußte, wer den Schmuck entwendet hatte, wollte ich ihn einfach und unkompliziert wieder zurückbringen. Das ist alles.'

'Luagabeidl verreckter!', warum hosch no et eufach klinglt, ha???'
'Weil ich niemanden hineinziehen wollte. Es hätte sicher Fragen gegeben und ich möchte den Dieb nicht hineinreiten. Sehen Sie selbst, der Schmuck befindet sich hier unversehrt im Rucksack und ich wollte ihn einfach nur ...' Erwin wußte nicht mehr was er sagen sollte. Seine ritterliche Aktion war offenbar gewaltig fehlgeschlagen. Warum hatte er nicht besser aufgepaßt, statt sich eitel in seinem Edelmut zu sonnen? Unvorsichtigkeit ist der erste Schritt ins Gefängnis, hatte sein Vater immer gesagt.

Einer plötzlichen Eingebung folgend rief er aus: 'Hören Sie, rufen Sie die Erna an, die kann für mich bürgen! Wir kennen uns vom Friedhof und sie hat mir das mit dem Einbruch erzählt!'
'Red kein Schmarrn und laß die arme alte Frau aus'm Spiel du Verbrecher!'
Mittlerweile hatten sich weitere Nachbarn zu dem Wichtigtuer gesellt und blickten neugierig nach oben.

Während Erwin verzweifelt versuchte, sich auf der eckigen Fensterbank so zu setzen, daß er sich nicht sämtliche Weichteile abklemmte, was ohne Hände, die er ja weiter erhoben hatte, fast unmöglich war, tockerte auf einmal die allen wohlbekannte alte Rostkiste von der Hauptstraße herab und Herr Wieninger entstieg verwundert seinem, naja, Auto.
'Was isch denn do los?' fragte er verwundert. 'Was stehts ihr da im Weg rum? I muaß jetzt do a Kehrtwende machen, soll I euch zammfahrn oder was wird des?'

'Ja sehen Sie das nicht! Der Einbrecher da! Der sitzt am Fensterbrett und will noch mehr Schmuck klauen!'
'Is doch ned wahr!', schrie Erwin verzweifelt. 'Zurückbringen wollt ich ihn, zurückbringen! Und der Depp do der laßt mi ned. Schauns doch nei in den Rucksack, da isser doch drin der Schmuck! Rufts die Erna an am Handy und fragts es, wenn ihr mir nix glaubn wollts!'

'Ja sonscht no was, die alde Hex. Für was moinsch hab I überall den Liebstöckl anpflanzt durch den du mir dankenswerterweise direkt durchg'latscht bisch. Also a Einbrecher bisch du ned, der tät schaun wo er hintrabbt. Zeig amal den Rucksack!'

Erleichtert ließ Erwin die Hände sinken, rückte sich noch einmal zurecht, zog den Rucksack von den Schultern und warf ihn Herrn Wieninger zu. Dieser blickte gerührt auf den Inhalt und danach mit Tränen in den Augen wieder hinauf zu Erwin: 'Mei Bua, so a Freid! Jetzt komm amal da runter, des isch doch unkommod.'

Bald darauf saßen alle Beteiligten, samt der mittlerweile angerückten Polizeistreife, im Vorgarten des Anwesens Lindauer Straße 80B und tranken gemütlich ein Weißbier, das ihnen Herr Wieninger großzügig spendiert hatte. Die Polizisten notierten, daß es sich bei dem Einsatz um einen falschen Alarm gehandelt hatte und jeder war glücklich und zufrieden.
Jeder außer Erwin, dem sein gutes Herz einmal wieder einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Allzulange mußte er sich jedoch nicht grämen, denn bereits drei Monate später stellte sich heraus, daß die gute Erna, die 'alde Hex', ihn in ihrem Testament als Alleinerben eingesetzt hatte. Herr Wieninger hatte ihr wohl von dem jungen Mann erzählt, der ihm den vermißten Schmuck durch's Schlafzimmerfenster wieder zurückbringen wollte und sie hatte sich ihren Teil dabei gedacht. 

Leise schniefend stand Erwin vor der erstaunlich zahlreichen Trauergemeinde am Inninger Friedhof. Er hatte sich bereit erklärt, ein paar Worte am Grab vortragen zu wollen. Zu Ehren der sonderlichen alten Dame, mit der ihn während der letzten Monate eine so tiefe Freundschaft verbunden hatte.
Mit zitternden Händen hielt er sich einen schmutzigen, zerknitterten Zettel vor die Augen und las vor:

Und die Moral von der Geschicht: Klau besser keine Sachen nicht, denn sonst kann es wirklich sein, du landest bald in Stadelheim. Die Freundschaft lieber alter Leute ist besser noch als jede Beute.

















Sonntag, 9. Februar 2025

Der Mann der sich auskannte


Die Leute fanden immer, ich sei komisch. Daher war ich meist alleine. Da wird man dann halt seltsam. Sowas bedingt sich oft gegenseitig.

Wenn es mir gutging und das Wetter danach war, fuhr ich manchmal in eine andere Stadt, seit ich in München wohnte beispielsweise nach Kufstein rüber, und stieg dort ein bissl auf einen Berg. Aber nur ein klein wenig. Keine steilen Wege, nur hoch zu den Seen und dann auf der anderen Seite wieder runter nach Deutschland. Ist eine nette Runde und man hat was von der guten Luft.

Am liebsten fuhr ich unter der Woche, da hat es weniger ungezogene Kinder bzw. Erwachsene ohne Anstand im Zug. Aufgrund meiner Lärmempfindlichkeit ist das Fahren in den Öffis ein großes Problem für mich, über das ich aber mit niemandem sprechen kann, da mich die anderen sofort zurechtweisen. Ich solle mich nicht so anstellen. Man könne das doch ausblenden. Ja, man schon. Ich nicht.
Da helfen oft auch keine Kopfhörer mehr, die ich selbstverständlich immer dabei hatte. Aber ich wollte halt mein Leben nicht nur in der Wohnung und auf Friedhöfen verbringen. Daher freute ich mich immer sehr, wenn sich die Gelegenheit zu einem kleinen Ausflug ergab.

Am See saß ich gerne auf einer Bank, genoß die Ruhe und las - oder schaute einfach gradaus in die Natur. Dabei hatte ich normalerweise die Bank für mich. Bis zu diesem schicksalhaften Tag im Mai vorigen Jahres.

Da nämlich kam auf einmal ein Mann mit Hut und fragte höflich, ob er sich neben mich setzen dürfe. 
Najo na eh, es ist ja keine Privatbank.
'Hoffentlich geht er bald wieder', dachte ich und steckte meine Nase ins mitgebrachte Buch.
''Was lesen Sie denn da Schönes?'', fragte der Mann neugierig.
Ich hielt ihm schweigend den Buchdeckel unter die Nase und dachte 'Aha, der is ned von do.' Die Tiroler sagen niemals 'Sie' wenn sie dich anreden. Auch wenn du ihnen fremd bist. Da wird immer geduzt und ich find das toll.

Umständlich zog der Mann eine Brille aus der Hemdtasche und setzte sie auf.
''Aha, das ist ja englisch. Können Sie auf Englisch lesen?''
''Naa eh ned, ich tu nur so im Fall daß jemand vorbeikommt, des schaut dann so g'scheit aus.''
Der Mann schmunzelte amüsiert.
''1:0 für Sie. Das war wirklich eine dumme Frage. Aber wissen Sie, ich spreche normalerweise keine Frauen an und bin daher etwas aus der Übung. Wie man sicherlich hört bin ich auf Urlaub hier.''
''Aha, und jetzt suchen Sie eine Urlaubsbekanntschaft?''

Wieder schmunzelte der Mann, wobei seine Augen blitzten und seine Mundwinkel auf eine absolut unnachahmliche Weise zuckten.
''Sind Sie immer so direkt?''
''Ja schon. Das Leben ist viel einfacher wenn man gleich auf den Punkt kommt. Hätten Sie noch eine Frage oder kann ich jetzt weiterlesen?''

Nun war es offenbar vollends um den armen Mann geschehen. Er brach in lautes Gelächter aus, klopfte sich auf die Schenkel wie es die Einheimischen beim Schuhplattler nicht besser gekonnt hätten, und wischte sich anschließend die Tränen aus den Augen.
''Sie sind 'ne Marke,'' berlinerte er grinsend. ''Wissen Sie, daß ich seit dem Tod meiner Frau nicht mehr so gelacht habe? Ich find Sie Klasse.''
''Oh, mein Beileid.'' Das war ja wieder mal typisch ich. Gleich wieder ins Fettnäpfchen latschen wenn ich einmal versuchte, mir etwas Freiraum zu schaffen.
Erneut lachte er schallend.
''Ich erkläre Ihnen, daß ich Sie Klasse finde und Sie beteuern mir Ihr Beileid, das ist köstlich, absolut köstlich!''
''Nein lassen Sie, ich verstehe schon,'' fuhr er fort, als ich zu einer hastigen Entgegnung ansetzte, ''Sie meinten natürlich weil ich den Tod meiner Frau erwähnt hatte. Nun, sie war lange krank gewesen, es kam nicht allzu überraschend. Und es ist nun auch schon drei Jahre her. Man gewöhnt sich. Wie Sie sehen, kann ich mittlerweile meine Schuhe alleine binden und sogar in den Urlaub fahren ohne in der falschen Stadt zu landen.
Aber sagen Sie: Kennen Sie sich in der Gegend aus? Ich bin das erste Mal hier und finde mich auf den Wanderwegen nicht wirklich gut zurecht. Außerdem macht es zu zweit viel mehr Spaß. Das Wandern! Schauen Sie nicht so streng, ich meinte das Wandern!''

Nun war es an mir zu grinsen. Der Mann hatte Humor, hatte eine wunderschöne Nase und er wollte nur Wandern. Aber leider war ich ja ebenfalls nicht aus Kufstein. Was ich ihm auch erklärte. Alle paar Monate einmal einen Tagesausflug an die Seen zu unternehmen, machte noch lange keinen Ortskundigen. Auch wenn ich wußte wo der Billa war, daß es den Friseur Klipp nicht mehr gab und daß man im Brillengeschäft chronisch unfreundlich war zu den Kunden. Dafür im Bipa gegenüber umso netter. Kein Wunder bei den Preisen.

''Wie sind Sie ausgerechnet auf Kufstein gekommen?'', fragt ich neugierig. ''In Innsbruck und Umgebung ist es doch viel hübscher als hier. Kufstein ist eine ausgesprochen scheußliche Stadt und ich fahr auch nur deswegen manchmal her, weil es halt von München aus praktisch um die Ecke ist.''

Er erzählte, daß ein Bekannter von ihm sich als Reisevermittler selbständig gemacht und ihm einen 'Superdeal' herausgesucht hatte. Leider sei das Hotel um den Preis den er bezahlen mußte jetzt nicht so wirklich toll und außerdem an einer sehr lauten Straße gelegen. Er holte einen zerknitterten Prospekt aus seinem Rucksack und beim Anblick des Portraits auf der ersten Seite holte ich tief Luft. Ich kannte den Mann. Ich hatte ihn vor einigen Jahren im Internet kennengelernt. Immer wieder hatte er mich angeschrieben, sich mit mir getroffen und war hinterher wieder abgetaucht. So ein Wappler. Und jetzt verarschte er die Leute. Grandios.

''Müssen Sie da jetzt die ganze Woche bleiben oder können Sie auch kündigen?'' fragte ich besorgt. ''Eigentlich ist es ein Paket, das bedeutet ja, ich habe bezahlt und muß da auch bleiben.'' ''Warten Sie mal eben, ich geh kurz telefonieren, bin gleich zurück!''

Zwei Bänke weiter holte ich mein Mobiltelefon heraus und rief eine mir wohlbekannte Nummer an. Er ging auch gleich ran. ''Hör mal Giordano, das find ich echt nicht ok!'' legte ich los. Der Gute war so verdutzt, daß er ins Stottern kam. ''Wie ... was ... wen hab ich verarscht? Wovon sprichst du?''
Nun fiel mir siedendheiß ein, daß ich weder den Namen des Mannes mit Hut kannte noch den des Hotels. Was war ich für ein Trottel. Mein Chef hatte wohl doch recht, mich konnte man zu nix gebrauchen.

Hastig lief ich wieder zurück zu 'unserer Bank' und rief: ''Wie hoascht denn du?''
Begleitet vom mittlerweile wohlbekannten Schmunzeln kam die Antwort und ich bellte erneut in den Hörer: ''Ja der Kurti halt. Der Kurt, aus Berlin oder so. Was hast dem denn für ein g'schissns Hotel angedreht, hm?''
Giordano wand sich eine Weile, stimmte dann aber zu, den Vertrag zu stornieren, der Kurti könne also noch heute ausziehen. Wenn er wolle. Na und ob der wollen würde!
Freundlich bedankte ich mich und marschierte zurück.

''So und jetzt kannst dir was Schönes in Innsbruck suchen, da ist es viel netter als hier. Soll ich dir was empfehlen?''
Kurt war begeistert. Wie ich das gemacht hätte, wollte er wissen.
''Ja mei'', antwortete ich. Das geht immer, wenn man sich nicht weiter über etwas auslassen möchte. Einfach 'Ja mei' sagen, das paßt dann schon.

Eigentlich, so überlegte Kurti vor sich hin, wolle er nicht unbedingt in Tirol bleiben, eigentlich würde ihn München viel mehr interessieren. Ob ich ihm da auch etwas empfehlen könnte? Konnte ich natürlich. Ein wunderschönes kleines Hotel in Dachau, total ruhig gelegen und doch bestens an den öffentlichen Nahverkehr angebunden.

Es versteht sich von selbst, daß wir den Spaziergang gemeinsam fortsetzten. Anschließend gingen wir zu seinem Hotel, wo er seine Sachen zusammenpackte und gleich mit mir nach München fuhr, wo ich ihn in den Bus nach Dachau setzte nachdem ich ihm den Weg zum Hotel genau beschrieben hatte.

An eine Partnerschaft hatte ich niemals mehr zu denken gewagt. Natürlich lernte ich immer wieder einmal Männer kennen, aber noch bevor ein gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden konnte, hatte sich die Sache schon wieder erledigt. Meist waren sie verheiratet und suchten ein kleines Abenteuer auf der Seite. Aber ned mit mir. Ich war kein Kleenex in das man quasi im Vorbeigehen hineinrotzt und es dann achtlos wegwirft.

Daher war ich nicht darauf gefaßt gewesen, daß Kurti mich bereits am nächsten Tag anrufen würde (ja, wir hatten die Nummern ausgetauscht, für alle Fälle, man wußte ja nie ...) um zu fragen, ob ich ihm vielleicht meine Lieblingsorte in Dachau zeigen wolle?
War der so unselbständig oder wollte er sich noch ein paarmal über mich totlachen?
Aber gut, dachte ich, ich bin ja nicht so. Ich hatte eh noch ein paar Tage frei und so spielte ich gerne den unermüdlichen Fremdenführer für den Mann aus dem hohen Norden. Schließlich hat Dachau noch viel mehr zu bieten als die KZ-Gedenkstätte, wegen der die Touristen von nah und fern angereist kommen.

Ja, was soll ich sagen. Nächste Woche sind wir bereits seit einem Dreivierteljahr ein Paar. Er kennt mittlerweile sämtliche Friedhöfe in der näheren Umgebung, kann geschmeidig auf bayerisch fluchen und es macht mir nicht einmal mehr etwas aus, jedes Mal mein Bett frisch zu beziehen wenn er nach München kommt. Was er beruflich nun ziemlich oft tut.
Neulich hab ich ihn sogar dabei überrascht, wie er den Immobilienteil der Zeitung studiert hat. Immer gleich so stürmisch, die Piefke. 

Ab und an fahren wir nach Kufstein, steigen hinauf zu unserer Bank, auf der alles angefangen hat, und schauen gemeinsam über den See. Gerne stoßen wir dabei mit einem Schlumberger Piccolo an. Auf den Giordano und sein komisches Reiseunternehmen. Auf Frauen, die gerne ohne Unterwäsche durch die Botanik spazieren. Und auf Männer, die das mit einem unwiderstehlichen Grinsen zur Kenntnis nehmen. Liebe ist einfach etwas Wunderschönes!