Donnerstag, 5. Dezember 2024

Gedankenübertragung - eine Adventsgeschichte

''Mir ist kalt, mach hinne!'' Unfroh sah Barker sich auf dem düsteren Friedhof um. So spärlich beleuchtet wie es hier war, glaubte er hinter jedem Baum, hinter jedem Busch, hinter jedem Grabstein Ungeheuer lauern zu sehen die nur darauf warteten, sich auf ihn zu stürzen. Hier und da brannte ein Lichtlein unter einem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum, doch derartige Zuwendungen waren rar gesät. Die Menschen vergaßen die Toten lieber, als sich ihrer zu erinnern.

Trotz der hellen Vollmondnacht waren die Lichtverhältnisse somit mehr als anstrengend und er bewunderte seinen Chef, wie der unter diesen Umständen einfach so eine Leiche sezieren konnte ohne vorn und hinten zu verwechseln.

''Mein lieber Barker, das darfst du mir schon zutrauen, dass ich das colon sigmoideum von den Hirnwindungen unterscheiden kann. Und ja, ich kann deine Gedanken lesen. Du weißt das. Jetzt glotz nicht so verschreckt in der Gegend herum, hilf mir lieber. Da, halt das Gefäß und hör auf mit den blöden Geräuschen. Unsere Mannen sind sicher an den Friedhofstoren postiert, da kommt niemand rein und niemand raus. Also beruhige dich und zittere nicht so.''

Im Labor war auch Barker die Idee noch verdammt genial erschienen. Schließlich war es seine Cousine gewesen, die vorige Woche heulend bei ihm auf der Couch zusammengesunken war und ihn angefleht hatte, ihr zu helfen. Tränenüberströmte Frauen waren ihm ein Gräuel. Wußte nie, was er mit ihnen anfangen sollte. Versuchte man sie zu trösten, wurde es nur noch schlimmer. Einfach rausschmeißen ging auch nicht. Also hatte er sich breitschlagen lassen, ihren Fall mit seinem Chef zu besprechen zu wollen. Sie hatte beglückt ihre Tränen getrocknet und war unsicheren Schrittes davongezogen.

Dieser Friedhofsbesuch war das Resultat dieser Besprechung. Konnte schließlich niemand was dafür, dass die Zulassung für Stammzellentherapie bei Morbus Parkinson sich derartig in die Länge zog. Er persönlich verstand auch das Hickhack wegen der embryonalen Stammzellen nicht. Wenn diese Ethikleute wüssten, wieviele kostbare Embryonen in manchen Kliniken fast schon im Minutentakt in den Abfalleimern landeten ... da lief einem doch das Wasser im Munde zusammen! Aber nein, es musste gelabert und diskutiert werden, während um sie herum die Patienten reihenweise an neurodegenerativen Krankheiten eingingen. Wenn jemand einen künstlichen Menschen schaffen wollte dann würde er das tun, mit oder ohne Embryo. Barker sah diese Befürchtung keinesfalls als Grund, den Forschern ständig hemmend in die Arme zu fallen.

Die Idee mit dem Friedhof war nahe liegend und was Leonardo da Vinci mit seinen nächtlichen Ausgrabungen für die Kunst gewesen war, das war sein Chef für die Medizin: Ein Vorreiter, ein unerschrockener Pionier. Jawohl!

Anstatt sich wie ein Rekrut im Gebüsch verkriechen zu wollen sollte er stolz sein, in dessen Team nicht nur mitzuarbeiten sondern von ihm persönlich zu diesem Sonderauftrag abkommandiert worden zu sein. Wobei es Leonardo damals sicherlich etwas einfacher gehabt hatte. Der hatte sich bestimmt nicht durch eisenbeschlagene Eichensärge hindurchbohren müssen. 

Doch horch, was war das? Das unverkennbare Geräusch von schleppenden Schritten näherte sich, näherte sich und näherte sich. Auch der Professor merkte auf: ''Wer kommt denn da?'', rief er streng. ''Sind Sie das Berlinowski? Erstatten Sie gefälligst ordnungsgemäß Meldung, Mann! Wir sind hier nicht im Casino!''

Das schleifende Geräusch wurde lauter, schien von dem riesigen Baum links zu kommen und mit einem Mal stand vor den beiden entsetzten Forschern: ein Zombie. Ein echter, lebensgroßer Zombie mit Zylinder, wie aus einem Horrorfilm entsprungen. Barker schaffte es gerade noch, das Reagenzglas mit den mühsam gewonnenen Stammzellen auf der Grabumrandung abzulegen bevor er in eine gnädige Ohnmacht fiel.

Der Professor war nicht so rasch aus der Ruhe zu bringen: ''Und wer sind Sie nun?'', wollte er unwirsch wissen. ''Wollen Sie uns anbetteln für die nächste Flasche Gin oder laufen sie nachts immer eine Runde auf dem Friedhof spazieren?'' 

''Grüß Goood, I bin da Doood'', hallte es schauerlich aus dem Mund des halb zerfallen aussehenden Mannes. ''Nein ernsthaft'', fuhr er mit normaler Stimme fort, ''ich bin das Ergebnis eines Experiments, das einer Ihrer Kollegen vor ca. 200 Jahren auf eben diesem Friedhof durchgeführt hat und ich möchte verhindern, dass Sie jetzt fröhlich damit weitermachen. Zu Arbeitssklaven wollte man uns abrichten. Wie da unten in Haiti. Hirnlose Arbeiter und Soldaten, die Befehlen gehorchen ohne nachzufragen. Die meisten von uns sind jämmerlich verreckt, ich bin der Einzige der noch lebt. Wenn man das hier leben kennen kann.'' Traurig blickte er an sich herunter. 

''In diesem Zustand kann ich schlecht zum Herrenausstatter und mir neue Kleidung anmessen lassen. Könnte ihn natürlich auch nie bezahlen. Was bleibt mir also übrig, als Nacht für Nacht am Friedhof umherzuspazieren? Aber sagen Sie, was treiben Sie hier für geheime Studien?''

'Keine Sorge. Mein junger Kollege mit den schlechten Nerven und ich, wir machen keine Zombies, im Gegenteil. Wir entnehmen frischen Leichen Stammzellen, das wird Ihnen jetzt nichts sagen, zu Ihrer Zeit war die Forschung noch nicht so weit. Jedenfalls können wir damit Menschen, deren eigene Zellen degenerieren, ob in Muskeln, Knorpelmasse oder gar im Hirn, neue Zellen zuführen, und diese Menschen können danach wieder gehen, werden gesund. Sogar bislang unheilbaren Krankheiten wie Morbus Parkinson können wir damit Einhalt gebieten. Da dies auf offiziellem Wege noch nicht uneingeschränkt möglich ist, haben wir uns zu diesem Schritt entschlossen. Mögen Sie uns vielleicht assistieren? Sie kennen sich doch hier bestens aus und könnten uns Bescheid geben, wenn wieder etwas Interessantes reinkommt? Im Gegenzug sorge ich für neue Garderobe und eine menschenwürdige Unterkunft, wenn's recht ist.''

Der Zombie strahlte, verbeugte sich, daß die Lappen nur so davonstoben und stellte sich als Baron Samedi vor. Ein kleiner Scherz, wie er augenzwinkernd den mittlerweile wieder erwachten Barker besänftigte, der bei der Nennung dieses Namens sogleich in die nächste Ohnmacht abgleiten wollte.

So vereinbarte man, sich in zwei Nächten wieder zu treffen. Bis dahin sollte standesgemäße Kleidung für den Herrn Baron gekauft und ein Hotelzimmer für den vorübergehenden Verbleib des guten Mannes gemietet worden sein.

''Geht alles vom Budget ab!'', meckerte Barker, als er in der übernächsten Nacht die Ehre hatte, die gekaufte Herrenkleidung zum Friedhofstor zu tragen, wurde aber von seinem Chef sofort zum Schweigen verdonnert: ''Wessen Cousine ist denn unsere Patientin Nummer Eins? Also. Klemme er sich morgen lieber hinter die Drittmittel statt sich wegen der paar Öcken ins Hemd zu machen. Wenn die Zulassung erst durch ist, dann haben wir die Nase sowas von vorne, wir melden ein Patent an und dann sind wir REICH, verstehst du? Reich und berühmt werden wir sein. Da können wir das gesamte Hotel mieten, ach was, KAUFEN könnten wir den Laden. Schade, dass der Herr Baron als Einziger überlebt hat. Auf jedem Friedhof ein V-Mann, das wär's doch.''

Nachdenklich setzte sich Barker am nächsten Vormittag an seinen Schreibtisch. War der Chef jetzt völlig durchgeknallt? Sogar er wußte, dass das EPÜ Patente, die 'gegen die guten Sitten verstoßen', niemals durchgehen lassen würde. Leichenfledderei gehörte in deren Augen sicherlich nicht zu den 'guten Sitten'. Und von den paar offiziellen Körperspenden im Jahr konnte man nicht leben. Erstens waren sie viel zu kontaminiert bis man sie mal in die Finger bekam, abgesehen davon gingen fast alle in die Patho, damit die Studierenden was zum Üben hatten.

Was hatte der Mann vor? Die Uni war ein Haifischbecken, niemand wusste das so gut wie er. Egal. Seine Cousine hatte für ihn Vorrang und nur ihretwegen hatte er diesem Irrsinn überhaupt zugestimmt. Konzentriert arbeitete er die Forschungsergebnisse durch bis sein Blick auf die Wanduhr fiel. Wo steckte Dr. Mabuse, wie er seinen Chef manchmal heimlich nannte, eigentlich schon wieder? Es war kurz vor zwei und zur vollen Stunde würde seine Cousine für ihre erste Behandlung vor der Türe stehen.

Tatsächlich klopfte es um Punkt 14 Uhr an der Tür von Barkers Arbeitszimmer. Auf sein mürrisches 'Herein' hin steckte jedoch nicht die Cousine sondern der Baron seine abgewetzte Nase um die Ecke und blinzelte schelmisch: ''Mein erster Weg in die Freiheit führt mich selbstverständlich zu Ihnen. Die Beinkleider sind etwas ungewohnt, aber offensichtlich von erster Güte. Seid herzlich bedankt guter Mann, Ihr habt mir meine Freiheit wiedergegeben. Auch wenn die Welt dort draußen ziemlich ungemütlich geworden ist. Hätte ich nicht unterwegs dieses hilfsbereite Fräulein getroffen, ich hätte den Weg niemals gefunden.'' Mit diesen Worten trat er zur Seite und an ihm vorbei tappte die Cousine ins Zimmer.

''Ein faszinierender Mann,'' hauchte sie ihrem Vetter verschwörerisch zu. ''Er hat sowas Altmodisches an sich. Irgendwie rührend. Er hat mich zum Abendessen eingeladen. Vorsichtshalber werde ich eine Freundin mitnehmen, die Inge. Man weiß ja nie.''

Barker bekam den Mund nicht mehr zu. Erst nachdem die Cousine vom Chef abgeholt und in den Behandlungstrakt verbracht worden war fiel ihm ein, dass er niemals nachgefragt hatte, wer denn eigentlich der Tote gewesen war, dem sie die Stammzellen entnommen hatten. 

Am nächsten Morgen schlug Barker die Zeitung auf und erstarrte. Er las die Schlagzeile. Las sie nochmals und wischte sich ungläubig über die Augen. Was hatte Mabuse getan! 

Groß und breit titelte die Zeitung mit den großen Buchstaben: ''SERIENMÖRDER WIEDERAUFERSTANDEN? Nach dem Tod des verurteilten Frauenmörders Hendrik F., der sich wie berichtet vorigen Dienstag in seiner Gefängniszelle erhängt hatte, war ein kollektives Aufatmen durch die Welt gegangen. Einer der schlimmsten Verbrecher dieses Jahrhunderts war endlich unschädlich gemacht. Umso erstaunter waren die Beamten der Polizeiinsprektion 5 in Bad W., als sie am heutigen Morgen vor der Leiche von Inge L. standen, die auf genau dieselbe bestialische Weise niedergemetzelt worden war wie die vorherigen Opfer von Hendrik F. Da es sich bei der genauen Vorgehensweise eindeutig um nie nach draußen kommuniziertes Täterwissen handelte, wie Polizeioberrat Hanken verwirrt bestätigte, kann es sich keineswegs um einen Trittbrettfahrer handeln. War Hendrik F. etwa niemals wirklich tot und begraben gewesen? Nachforschungen ergaben, dass der Sarg manipuliert worden war. Liegt im Grab von Hendrik F. jemand ganz anderer? Falls ja, wo steckt der Frauenmörder jetzt? Wer wird die nächste Dame sein, die ihm zum Opfer fällt? Lesen Sie weitere Details morgen, exklusiv hier in unserer Zeitung!''








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