Sonntag, 25. August 2024

Neulich im Englischen Garten


Yoga ist gesund, heißt es immer. Und man könne in jedem Alter mitmachen. Ja sicher. Das hab ich gemerkt. Nachdem ich immer wieder, aus egal welchem Kurs, völlig geschafft heimgehinkt war und danach meist drei Tage übelst Muskelkater gehabt hatte, war Yoga für mich gestorben.

Bis ich diese Anzeige in unserem Käsblättle las.

Der Typ auf dem Foto war wirklich sympathisch. Sehr sogar.
Man trifft sich jeden Sonntagvormittag auf einer Waldlichtung im Nordteil des Englischen Gartens, stand da geschrieben, und übt zu schamanisch angehauchten Trommelklängen gemeinsam Asanas aus.
Wer die sind, die da trommeln, stand nicht dabei, aber ich würde es herausfinden.
Hoffentlich keine Urwaldkrieger aus dem Amazonas, wo man dann wirr im Kopf wird und seine Totemtiere sieht ... also ein bissl unheimlich fand ich das Ganze schon.
Aber das macht es ja auch erst interessant.
Deppert in der Turnhalle umeinanderschwitzen kann jeder. Ok, jeder außer mir.

Nicht weil ich zu dick wäre. Ich bin nicht dick. Jedenfalls nicht sehr. Schließlich ernähre ich mich nicht von Burger Royal, Pommes oder Döner mit alles, vor allem mit vielen Schalotten bis man quer durch die ganze Stadt mieft. Nein, ich esse ganz brav viel Obst und Gemüse, nur fehlt mir halt die Bewegung. Die passende Bewegung. Und oft auch die Motivation. Stell dir vor, du turnst in einer Gruppe, alle anderen sind jung und biegsam und du selber bist alt und obendrein steif wie ein Brett. Das ist nicht schön und man geht wieder. Teufelskreis sozusagen.

Aber das würde sich ja nun vielleicht endlich ändern. 'Alle Altersgruppen' war dabeigestanden. Wenn ich Glück hatte, wäre ich hier ausnahmsweise einmal nicht mit Abstand die Älteste. Vielleicht hatte ich immer die falschen Apps benutzt. Seit ich nach München gezogen war, egal wofür ich mich anmeldete, ob Sport, Fotografie oder Spirituelles Zusammensein, immer war ich die Oma und alle anderen so um die 20. Mir macht das ja nichts weil ich innen eh auch noch nicht älter bin aber beim Yoga merkt man's halt.

Kaum konnte ich den folgenden Sonntag erwarten. Gespannt wie ein Flitzebogen machte ich mich auf den Weg. Viel zu früh natürlich, weil ich keine Ahnung hatte, wo genau diese besagte Lichtung sich wohl befände, und ich auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Eigentlich kannte ich die Gegend gut, aber man achtet halt auch nicht auf jedes Eck. Und in der Natur ist der Google bekannterweise eher für den Hugo.

Anfangs war ich keineswegs alleine auf den Wegen, es tummelten sich wie immer Hunde jeglicher Rasse und Couleur, und die Besitzer hatten augenscheinlich ihre liebe Not, die Tierchen zu trennen wenn eins davon läufig war. Ich versteh ja nix davon, aber dann sollte man sich in der Zeit vielleicht nicht ausgerechnet einen Ort suchen, an dem alle anderen Hundebesitzer auch umeinanderlaufen. Englischer Garten Nord sollte eigentlich umbenannt werden in Hundekackparadies. Brauchst nicht zu glauben, daß du hier irgendwo in Ruhe auf einem Bankerl sitzen kannst und Brotzeit machen. Sofort steht ein riesiger Hund da und schaut dich hungrig an.

Mittlerweile habe ich einige Wege bereits nach den dort stattgefundenen Hundebegegnungen benannt. Beispielsweise den Kommissar-Rex-Weg, anläßlich eines Zusammentreffens mit einem äußerst aktiven Schäferhund.

Aber es gibt natürlich auch ruhigere Ecken und zu einer solchen war ich nun unterwegs. Idyllisch gelegen, unweit eines kleinen Bächleins, das sich malerisch dahinschlängelte und in einem kleinen Teich endete, befand sich die beschriebene Lichtung, auf der bereits einige sehr sommerlich bekleidete Menschen saßen und angeregt miteinander plauderten. Von dem Mann auf dem Bild war noch nichts zu sehen, auch waren keine Trommler anwesend. Ob ich hier richtig war? Unsicher ließ ich mich am Rande nieder und beschloß, abzuwarten.

Kaum hatte ich mich mühsam (das Alter, das Alter ...) auf den Boden gefaltet, rief mir einer aus der Gruppe zu, ob ich nicht herüberkommen wolle, was würd ich denn so einsam am Rande hocken wollen? Erfreut hievte ich mich wieder hoch und ließ mich bei den anderen nieder. Was waren das für nette Menschen! Hier würde ich mich wohlfühlen, da war ich mir sicher.

Einer kramte in seinem Rucksack und holte eine Thermoskanne und einige Pappbecher hervor, was von den anderen mit Begeisterungslauten und Applaus begrüßt wurde. Offenbar ein Ritus zum Beginn der Yogastunde? Zur spirituellen Einstimmung sozusagen? Die Becher wurden verteilt und jedem wurden ein paar Schlucke aus der heiligen Kanne eingeschenkt. Wir standen auf (was hab ich achtgegeben, dabei nichts zu verschütten!) und dem Beispiel des edlen Spenders folgend, hoben wir den Becher in die Höhe. Der junge Mann hub mit lauter Stimme an: ''Caritas omnia potest'', worauf die anderen im Chor nachmurmelten: ''Caritas omnia tolerat''.

Für einen Moment war ich wieder verunsichert. War ich hier irrtümlich in einer Spendenveranstaltung der Caritas gelandet? Immerhin hatten die meisten Anwesenden bereits einen Großteil ihrer Kleidung neben sich abgelegt. Sollte ich ihrem Beispiel folgen? Aber ich hatte doch eh nicht viel an und ich hatte nicht vor, nackt zu turnen.

Bevor ich lange grübeln konnte, führten alle ihren Becher zum Mund und nahmen einen tiefen Schluck. Ich probierte vorsichtig. Seltsames Gebräu. Tee? Ich traute mich nicht, zu fragen. Wir setzten uns wieder und jetzt hörte ich auch die Trommeln. Allerdings kam die Musik aus einem dieser modernen Lautsprecher die sich von selber mit einem Handy verbinden. Bluetooth heißt das. Offenbar billiger als eine Trommlergruppe. Sparmaßnahmen wohin man schaut. 

Die Musik gewann an Intensität und die Leute um mich wiegten sich im Takt, wedelten mit Händen und Füßen, sprangen teilweise gar auf und hüpften ekstatisch umher. Ob das von dem Tee kam? Vorsichtig nahm ich noch ein Schlückchen. Mittlerweile kam ich mir vor wie in einer Freiluftdisco. Gerade als ich mir überlegte, ob ich das Ganze vielleicht heimlich filmisch festhalten könnte, weil das glaubt einem ja dann wieder kein Mensch, kam auf einmal ein Mann auf die Lichtung gehetzt, brüllte ein ''Sorry Leit, koan Parkblotz g'fundn!'' in die Menge und packte eine riesige Kamera aus. Hatte ich jetzt auch schon Halluzinationen oder was ging hier ab? Wollte er uns beim Yoga filmen? Das wäre mir aber so garnicht recht!

Ich nahm noch einen Schluck Tee und beschloß, mich dann vielleicht doch lieber wieder zu verabschieden, so ganz schien mir das nicht das Richtige zu sein. Andererseits, die Leute waren alle sowas von lieb! Sie winkten mich in ihre Mitte, umarmten mich, alle lächelten freundlich und so tanzte und wedelte ich bald fröhlich mit ihnen quer über die Lichtung bis wir alle lachend in einem Haufen übereinanderfielen und anfingen, uns gegenseitig zu streicheln und zu liebkosen. Wirklich ausgesprochen nette Leute, dachte ich noch ... dann wurde es dunkel um mich.

Als ich wieder zu mir kam saß ich an einen Baumstamm gelehnt neben meinem Rucksack, die anderen saßen oder lagen unweit über den Platz verteilt, alle machten einen ziemlich erschöpften Eindruck. Was war denn das jetzt gewesen? Hatte es nicht nur mich umgehauen? Mußten wir alle schon pausieren bevor die Turnstunde überhaupt losging? Hatten die mir was in den Tee getan? Was wurde hier gespielt?

Der Mann mit der riesigen Kamera erhob sich und kam lachend auf mich zugeschlendert, ein paar Abzüge bereits in der Hand. ''Du bist ja ein Naturtalent!'' rief er begeistert aus. ''Da schaug einmal her, des is ein Wahnsinn.''

Ja, das fand ich allerdings auch. Ich blickte ungläubig auf eine Anzahl Fotos auf denen ich deutlich erkennbar mit Leuten aus der Gruppe zugange war. Ich muß wohl nicht deutlicher werden? Knallrot im Gesicht stammelte ich: ''Also das ist ... das kann nur ein Versehen ... ich würde niemals ...''

Als ich jedoch hörte, wieviel man bei dieser Art von Filmarbeit verdienen konnte, verstummten meine Proteste. Er erklärte mir, daß die Yogagruppe sich viel weiter vorne träfe, ich wohl eine falsche Abzweigung genommen und mitten ins Set einer privaten Pornoproduktion gewandert gekommen sei. Der Tee sei ein Pilzesud gewesen und es hätte deswegen niemand etwas gesagt, weil alle gedacht hätten, ich sei die im Vorfeld angekündigte Neue. Die wäre aber offenbar nicht gekommen. Vielleicht war sie ja irrtümlich bei der Yogagruppe gelandet?

Dies war der Beginn meiner Karriere bei Granny Productions. Mittlerweile gehört mir die Firma, der Kameramann ist mein geliebter Ehemann und unser Motto lautet: Wir drehen bis wir vergehen!







































(Foto KI-generiert)

Sonntag, 11. August 2024

Dies ist kein Märchen


''Heute Abend? In den Rabenhof? Du sorry aber ich hab schon was vor. Was soll das heißen, was ich schon vorhaben werd? Was Wichtiges, oder? Wer tritt denn überhaupt auf? Ach die Sargnagel, die kann ich eh ned ausstehn. Hält sich für sonstwie schlau. Neidisch, ich? Na sicher ned. Du ich muß jetzt auflegen, hab noch was vorzubereiten.

Willst es wirklich wissen oder fragst nur blöd? Ja ok, eine Ausstellung hab ich. Kein Schmäh. In der Ankerbrot Fabrik bei uns im Zehnten. Ja natürlich hängen die schon, aber man muß halt trotzdem noch bissl was machen. Klar kommen Leute. Echt jetzt das wird mir zu blöd. Baba!''

Hermine ist wirklich eine garstige Ziege. Nur weil ich heute nicht wie gewohnt gleich gesprungen bin wie sie mich als Lückenbüßer gebraucht hat. Weil ich jetzt auch amal wer bin. Nicht mehr nur anderen Künstlern von unten deppert zuschau sondern selber einer bin. Da wird sie gleich neidig. Soll sie. Muß mich jetzt kümmern damit nachher auch alles glatt läuft.

Du meine Güte, also ein bissl mehr Interesse könnten Herr und Frau Österreicher schon zeigen. Es ist jetzt 21 Uhr, also seit zwei Stunden offen, und bisher hat kaum jemand reingeschaut. Die meisten hauen sich einen Becher von dem billigen Prosecco in den Hals, gucken pro forma ein bissl umadum und gehen dann wieder. Das ist also eine Vernissage. Hätte ich mir auch anders vorgestellt. Im Film gruppieren sich immer alle möglichen interessanten Leute um den Künstler und lassen ihn fast nicht mehr aus vor lauter Wichtigtuerei. Wär mir jetzt auch nicht so recht aber daß sich gleich GARNIEMAND interessiert, also das schmerzt schon ziemlich. Hatte schon ein Handgemenge am Eingang befürchtet wenn zuviele Besucher gleichzeitig hineinwollen, der Raum ist ja doch relativ klein, aber da hätt ich mir keine Sorgen machen müssen. Hoffentlich kommt nicht auch noch Hermine und grinst sich eins. Aber die Vorstellung von der Sargnagel geht bis mindestens halb 11 und dann machen wir hier auch bald zu.

Jö, wer ist denn der Bursche da hinten? Schaut aus wie Rübezahl. Tolle Ausstrahlung. Wenn jetzt jemand reinkommt, der glaubt sicherlich daß ER der Künstler ist, nicht ich, die dicke alte Oma mit dem fleckigen Leiberl und den doofen Haaren. Seine Haare sind lang, ungekämmt und vorn hat er einen meterlangen Tirolerbart. Ein richtiger Rebell. Wenn ich 20 Jahre jünger wäre ... nun geht er in die Hocke und betrachtet eins meiner Bilder so richtig mit Kennerblick. Ob er es kaufen will? Mir geht's nicht um das Geld. Es ist nicht so, daß ich noch auf meine Aussteuer sparen müßte höhö, aber ein bissl eine Anerkennung möcht man schon haben als Maler, oder?

Wie durch einen Nebel seh ich ihn auf mich zukommen ...
''Na servus die Frau Künstlerin, habe die Ehre!''
Boah hab ich weiche Knie und mein Puls rast, das wär jetzt ein schöner Tod ... aber so leicht stirbt es sich nicht, ich muß jetzt was sagen. Idealerweise was ganz Tolles. Was könnte ich denn jetzt sagen? Himmelhergottnah, immer wenn's wichtig wär fallt mir nix ein.

''Guten Abend,'' krächze ich. ''Kann ich irgendwie helfen?''
Oh meine Götter und Engel, ich klinge wie ein dementer Greißler aus einer Vorabend-Soap.

Rübezahl grinst und wedelt unbestimmt mit der Hand: ''Coole Bilder. Und noch nix verkauft? Ihr habts ja auch kaum Werbung geschalten, bist ned auf facebook oder so? Ach, eh auch, und nur keine follower? Ja blöd. Du, ich zeig dir jetzt mal wie das geht, ok?''

Ohne meine Reaktion abzuwarten, die sowieso nur aus fasziniertem Anstarren bestanden hätte, dreht er sich auf den Hacken um und marschiert schnurstracks auf ein älteres Ehepaar zu, das mit eher mild ausgeprägtem Interesse vor einem meiner großformatigen Werke steht. Die Frau nippt am Prosecco, der Mann schüttelt den Kopf. Rübezahl tritt wuchtig hinzu und fragt laut: ''Darf ich Ihnen dieses Werk etwas näher erklären?'' Die beiden schauen ihn verdutzt an, und er beginnt, sie ohne Punkt und Komma zuzuschwallen. Er schreitet, jawohl SCHREITET wichtig um sie herum, deutet abwechselnd auf das Bild und dann wieder auf sie, stellt Bezüge her, interpretiert und redet, redet, redet ... bis die beiden nicht mehr anders können und tatsächlich zustimmen, zwar nicht dieses großformatige Bild aber dann doch gerne eins der kleineren zu kaufen, das ihnen vorhin schon aufgefallen sei ... und schon prangt ein roter Punkt neben 'Long John Silver schaut aufs Meer und ist traurig'. Auf dem Bild ist eigentlich nur ein noch blutender Beinstumpf mit Z. n. Unterschenkelamputation zu sehen und viel aufgewühltes Meer. Damit werden sie nicht glücklich, es sei denn der Mann ist Primar einer Chirurgischen Klinik.

Stolz gesellt sich Rübezahl wieder an meine Seite und schaut verschmitzt. ''Na,'', lächelt er auf mich herunter, ''wie hab ich das gemacht? Sag, hast daheim noch mehr Bilder? Könnt ich mir die vielleicht mal anschauen?''

Aha, daher weht der Wind. Nicht einmal im Alter ist man mehr vor den Übergriffen der offenbar unzügelbaren männlichen Lust sicher. Was will der Mann von mir, ich bin SECHZIG! Und er locker 20 Jahre jünger. Vielleicht verstehe ich hier auch etwas falsch, aber dieses anzügliche Grinsen hab ich in meinem Leben schon einige Male zu oft gesehen.

Natürlich erwartet er Dankbarkeit von mir. Nachdem das erste Bild verkauft war, war der Damm gebrochen. Nichts fürchtet der potentielle Käufer mehr, als zu spät zu kommen.

Ich hatte versucht, es Rübezahl gleichzutun und mich unter die Besucher zu mischen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Extrovertiert ist man oder man ist es nicht. Für einen furchtlosen Auftritt mit Publikum hätte ich einen anständigen Champagner gebraucht, nicht diesen Fusel, aber aus dem Alter war ich endgültig raus. Somit hat er tatsächlich einen großen Anteil an meinem Erfolg. Ich bin verunsichert. Vielleicht will er wirklich nur meine Bilder sehen? Aber jetzt, mitten in der Nacht? Ich überlege, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. In dubio pro reo.

''Ja wennst magst, also gerne morgen Nachmittag, oder irgendwann nächste Woche?''
''Also ich hätt gedacht schon jetzt gleich? Noch auf einen Kaffee oder was dir lieber ist?''
Wieder dieses Grinsen. Du meine Güte, der hält sich echt für unwiderstehlich.
Aber nicht mit mir junger Mann. Da müssen Sie schon früher aufstehen.
Denke ich so für mich. Statt es zu sagen, was ehrlich gewesen wäre. Aber auch viel Mut erfordert hätte. Den ich nicht aufbringen kann. Schließlich HAT er mir ja geholfen.
Aber verlangt man dafür als Bezahlung gleich das Kostbarste, was eine Frau zu geben hat?
Ich beschließe, dem übermütigen Burschen eine Lektion zu erteilen.
Nur weil jemand mit Menschen nicht so gut kann, bedeutet das nicht, daß man ihn übervorteilen darf. Oder sie. Oder es. Oder überhaupts.

In meiner Wohnung angekommen stelle ich gleich einmal meine Thermoskanne auf den Tisch. 
''Kaffee gibts ned, aber einen Kräutertee kannst haben.''
Sein Gesicht ist unbezahlbar. Leider habe ich meine Kamera nicht zur Hand.

Meine Bilder waren offenbar nicht mehr interessant. Stattdessen wandert seine Hand unmißverständlich in Richtung meiner Brust. Na warte. Jetzt hast du den Bogen überspannt, Rübezahl! Ich rutsche beiseite, stehe auf, murmle was von 'Frischmachen' und verschwinde im Nebenzimmer. Das Zauberbuch brauche ich schon lange nicht mehr, aber was zum Festhalten ist jetzt gut. Mit geschlossenen Augen rezitiere ich den Spruch auf Seite 42, bleibe noch ein Weilchen sitzen und gehe dann langsam wieder ins Wohnzimmer zurück. Bingo! Winzig klein hockt Rübezahl in einem meiner leeren Schneckenhäuser auf dem Fensterbrett. Ich nehme es auf, mitsamt seinem neuen Bewohner, und trage es zur Vitrine. Ganz leise glaube ich etwas von 'unterschätzt' und 'tut mir leid' zu vernehmen, aber die Reue kommt zu spät. Freundlich lächelnd setze ich das Schneckenhaus neben all die anderen Häuschen mit verzauberten männlichen Wesen darin. Sie alle hatten ihre Lektion bekommen. Und nur im Märchen werden die Jünglinge wieder befreit. Dies ist kein Märchen.










Samstag, 10. August 2024

Die Lösung


Ein Spaßbad sollte eigentlich Spaß machen. Leider tut es das nur einer einzige Bevölkerungsgruppe: Den Familien. Alleinstehende und ältere Leute haben zunehmend weniger Freude am kühlen Naß, weil die Familien sich immer weiter ausbreiten und durch ihr rücksichtsloses Verhalten allen anderen das Vergnügen vergällen. Dies ist ein deutlich zu beobachtendes Phänomen, über das allerdings nicht gesprochen werden darf, weil die Menschen, wie bei allen Ereignissen die sie nicht beeinflussen können, große Angst haben, daß der Mißstand durch bloße Erwähnung noch schlimmer wird. Daher gilt es als unsozial, etwas gegen Kinder zu sagen. Wer es dennoch tut, wird mit Haß und Häme überschüttet.

Ich weiß nicht, wann diese gesellschaftliche Entwicklung begonnen hat. In meiner Kindheit war es gang und gäbe, lautstark tobenden Kindern durch Zurufe Einhalt zu gebieten, notfalls mit Gewalt. Stop hieß Stop, da gab es keine Diskussion. Getobt wurde auf dem Spielplatz oder auf dem Sportplatz. Nicht im Klassenzimmer und schon garnicht in Bus, Zug, Supermarkt oder Kirche.

Heute ist das anders. Es wird nicht nur getobt, es wird gekreischt und sich auf den Boden geworfen, wo man gerade geht oder steht. Wir Autisten können ohne Kopfhörer nicht mehr aus dem Hause gehen, da einen die Schallwellen sonst beinahe sofort umwerfen.

Wir hatten keine Chance, uns Gehör zu verschaffen, wir mußten in den Untergrund gehen. Uns radikalisieren, wie es so schön heißt.

Nachdem man die Leute ja nicht auf offener Straße abknallen kann, haben wir uns für unsere Einsätze das eingangs erwähnte Spaßbad ausgesucht. Einfach mal schauen was geht. Mit dem Mut der Verzweiflung konnten wir auch das Geschrei ertragen, zumindest für kurze Zeit. Ohropax nützt leider wenig. Sonst hätte wir ja auch kein Problem. 

Die Rutschen im Bad hatten olympische Ausmaße. Die Kinder und teils sogar ihre Eltern rasten gefühlte drei Kilometer durch eine Röhre bis sie endlich unten ankamen und  unter lautem Gekreische im schaumigen Wasser untertauchten.

Nun, was wollten wir tun? Wir hatten die Röhren mit einem Zauber belegt. Jeder Röhrenbenutzer ab einem Dezibelausstoß von 50 verschwand, sobald ein gewisser Gitarrenriff aus dem mitgebrachten Superwoofer ertönte, ab einer zuvor bestimmten Kurve einfach im Nichts. Ganz so einfach wie es klingt war das natürlich keinesfalls. Energie geht ja nicht verloren und wir hatten ganz schön tüfteln müssen, um uns hier eine Lösung einfallen zu lassen, die allen gerecht wird. Die verschwundenen Schreihälse wurden in Licht, Luft und Liebe verwandelt, was letztendlich auch der Verhinderung von Kriegen dient.

Natürlich waren einige Eltern nicht begeistert, nachdem ihre Kinder von jetzt auf nachher verschwunden waren, aber erstaunlich viele Mütter zeigten Erleichterung. Sie hätten sich die Mutterrolle anders vorgestellt, gestanden sie verschämt. Es sei leider noch immer tabu, darüber zu sprechen, daß einem die eigenen Kinder auf die Nerven gingen. Die Väter hatten meist wenig zu sagen. Viele hatten sich in Beruf und Kegelclub geflüchtet um sich das Chaos zuhause nicht antun zu müssen. Nun konnten sie nach Arbeitsschluß wieder getrost nach Hause kommen und sich mit ihren Frauen einen gemütlichen Abend machen. Auf eine gefüllte Kondomschublade war dabei selbstverständlich stets zu achten.