''Jaaaa! Danke! Toll! Seid ihr auch noch stolz drauf oder was!!!!'' Aus vollem Halse brüllte ich gegen die gefühlt hundertachzigste Durchsage an, mit der ein gesichtsloser Bahnmitarbeiter uns immer wieder darüber in Kenntnis setzte, daß sich unser Ersatzzug leider auf unbestimmte Zeit verspäten würde.
Da stand ich nun, in the fucking middle of nowhere, und kam nicht weiter. Wenn in so einem Nest kein Zug fuhr, dann fuhr keiner. Auch kein anderer. Garkeiner. Höchstens in die andere Richtung, aber aus der kam ich ja gerade.
Es war ja auch nicht so, als ob ich keine Pläne hätte. Eigentlich hatte ich vor der Lesung noch gemütlich eine Weile im Hotel abhängen wollen aber das konnte ich jetzt vergessen. Wenn das noch lange so weiterging würde ich es mit viel Glück gerade noch pünktlich zur Location schaffen. Völlig abgehetzt natürlich und total unvorbereitet. Nicht mein Stil.
Das Schlimmste war, daß ich auch noch selber schuld an meiner Misere war. Herr Meyer, einer meiner treuesten Fans, der auf meinen Lesereisen immer wieder unverhofft auftauchte, hatte sich erboten, mich vormittags mit dem Auto bis Paderborn mitzunehmen. Von dort nach Düsseldorf zur nächsten Lesung zu kommen wäre kein Problem gewesen. Hätte ich mal mitfahren sollen! Stattdessen hatte ich mich lediglich lieb bedankt und ihm versichert, das sei nicht notwendig. Aus Angst, ich müsse mich im Gegenzug dann wieder wochenlang um seinen blöden Dackel kümmern, hatte ich sein nett gemeintes Angebot abgelehnt.
Ich konnte das Vieh nicht leiden. Ständig blieb es stehen um an irgendwas zu schnuppern. Man kam einfach nicht vorwärts und Geduld war noch nie eine meiner Stärken gewesen, jetzt im Alter schon zweimal nicht.
Man hatte ja nicht mehr viel Zeit.
War doch nicht damit zu rechnen gewesen, daß die uns schon nach wenigen Kilometern rüde aus dem Zug komplimentieren würden weil er angeblich defekt sei. So defekt konnte der nicht gewesen sein, da er nach kurzem Aufenthalt fröhlich weitertöffte. Warum konnte man die Leute dann nicht noch die eine Station bis Paderborn mitnehmen? Das war doch lachhaft!
Mißmutig schlug ich meinen Stiefel gegen die Bahnsteigkante. Mein Blick fiel auf das Schild rechts von mir: 'Betreten der Gleisanlage strengstens verboten.'
Sofort mußte ich an Willi denken. Wohnte der nicht hier irgendwo in der Gegend? Der war so irre der Typ, ich hatte ihn geliebt. Damals. Von Verbotsschildern ließ sich Willi niemals abhalten. Im Gegenteil. Die spornten ihn erst recht an, das Areal zu erkunden, das es um jeden Preis zu vermeiden galt. Egal ob Truppenübungsplätze, Moorgebiete oder auch mal Gleisanlagen.
Wir waren uns aufgrund der Distanz unserer Wohnorte zueinander nur selten persönlich begegnet, hatten uns jedoch jahrelang täglich geschrieben und oft telefoniert, bis von heute auf morgen von ihm keine Nachricht mehr kam. Da ich seine Adresse nicht hatte (da tat er immer sehr geheimnisvoll), seine Handynummer aber offenbar außer Betrieb war, mußte ich das so hinnehmen obwohl ich ihn so sehr vermißte, daß es körperlich wehtat.
War er mir doch ein unermüdlicher Begleiter gewesen, stets mit Rat und Tat zur Seite, mich motivierend und immer wieder zum Lachen bringend. Zunächst stürzte ich in ein tiefes Loch. Dann aber begann ich wieder zu schreiben. Texte, die vor Wehmut und süßlicher Schwere förmlich troffen. Welche aber erstaunlicherweise bald darauf einen Verlag aufmerksam werden ließen. Somit habe ich es letztendlich Willi zu verdanken, daß aus mir - spät aber doch - eine 'richtige' Autorin geworden war. Eine Autorin, die stolz echte Bücher umeinandertragen konnte auf der ihr eigener Name gedruckt war, die aber leider auch Lesungen abhalten mußte. Immerhin bezahlte Lesungen. Was natürlich jetzt blöd war, wenn kein Zug kam. Taxi war in dem Kaff ja auch keins zu bekommen. Jedenfalls jetzt nicht mehr, nachdem die anderen Mitreisenden sämtliche verfügbaren Autos in Beschlag genommen hatten. Außer einem Gilbert gab's ja weit und breit kein Taxiunternehmen, wie mir mein Handy verriet. Das hier war Land. Für Stadtmenschen wie mich unvorstellbar abgelegen.
Außerdem war Winter. Eiskalter Winter. Ewig würde ich hier nicht rumstehen können. Was also war zu tun? Vielleicht erstmal einen Tee trinken? Zu meinem großen Erstaunen hatte ich nämlich bereits entdeckt, daß es drüben auf Gleis 1, welches seltsamerweise als Gleis 21 betitelt war, neben dem hübschen alten Bahnhofsgebäude tatsächlich sowas wie ein Bahnhofsrestaurant gab. Nicht nur Snacks und Getränke waren erhältlich, sogar einen Schalter gab es an dem man Fahrkarten kaufen konnte. Eine Rarität in diesen Tagen der anonymen Automaten und ständigem Verweisen auf Handy-Apps.
Heftig keuchend drückte ich die Türe auf und schleppte meinen Koffer über die Schwelle des einladenden Gebäudes. Wohlige Wärme umhüllte mich. Dankbar ließ ich mich auf eine der Holzbänke fallen und sah mich um. An einer Wand hingen gerahmte Sinnsprüche. Wohl um den Reisenden, die kein Buch dabei hatten, die Zeit nicht lang werden zu lassen? In einer Ecke saßen ein paar unrasierte Gestalten die den Eindruck erweckten, zum Inventar zu gehören. Dumpf murmelnd klatschten sie in unregelmäßigen Abständen ihre Karten auf den Resopaltisch, ab und an ein ungläubiger Ausruf, dann wieder Murmeln. Es fehlte eigentlich nur noch die verrauchte Luft, aber natürlich war selbst hier, gefühlt am Ende der Welt, das Rauchen innerhalb öffentlicher Gebäude verboten.
An einem der Stehtische schrieb ein Mann mit wallend langem Haar, wie ein finsterer Engel sah er aus, mit einer altertümlich anmutenden Gänsefeder etwas in eine aufgeschlagene Kladde. Führte der hier ein Sündenregister oder was? Wundern würde es mich nicht. Auch nicht, wenn plötzlich eine Himmelsleiter abgerollt käme, die er gemessenen Schrittes hinaufwandeln würde während im Hintergrund jemand auf der Posaune spielte. Man kam sich hier wirklich vor wie am hintersten Rand der Zivilisation. Immerhin war der Engel glattrasiert und kam mir eigentümlich bekannt vor. Wußte aber nicht, wo ich ihn einordnen sollte.
Nachdem ich meinen wärmenden Kamillentee bekommen hatte, versank ich wieder in hektische Grübeleien. Geduld war, wie bereits bemerkt, nie eine meiner Stärken gewesen und ich hatte es wirklich EILIG. Sonst hätte ich mich einfach nach einem Hotel erkundigen können und einen Tag Pause einlegen. Aber meine Lesung war HEUTE Abend, nicht irgendwann wenn die Frau Autorin mal geruhte einzutreffen. Ob ich beim Verlag anrufen sollte? Aber was wollten die machen? Mir einen Hubschrauber schicken aus der Schweiz? Sicher nicht. Schließlich war ich kein Ken Follett. Wobei der bestimmt nicht mit dem Zug fahren mußte. Der hatte sicherlich einen Chauffeur, der ihn in der Gegend umeinanderkutschierte.
Wieder mußte ich zu dem finsteren Engel hinschauen. Irgendwie sah der aus wie ... das konnte doch nicht ... Während ich noch kurzsichtig blinzelnd den Mann anstarrte, hob dieser seinerseits den Blick und begann ebenfalls zu starren: ''Entschuldigen Sie, aber Sie erinnern mich ... Sie sehen aus wie eine ehemalige ... Brigitta, bist du das?'' ''Willi! Hab ich mir's doch gedacht! Aber seit wann hast du Haare?''
Willi lachte dröhnend. ''Meine Brigitta wie sie leibt und lebt. Immer gleich auf den Punkt.'' Etwas leiser fuhr er fort: ''Aber hömma, ich bin inkognito unterwegs, deshalb auch die Perücke. Paß auf, ich geh jetzt raus und warte dann am Gleis 2, wo der Zug nach Paderborn abfährt. Abfahren sollte. Hätte abfahren sollen. Du kommst dann in etwa 5 bis 10 Minuten nach. Kannst ruhig noch ein bißchen grummeln, Scheiß Bahn und so, damit du nicht weiter auffällst.''
Völlig platt saß ich auf meiner harten Holzbank. Die Götter hatten wirklich eine seltsame Art, zu wirken. Nach all den Jahren schickten sie mir meinen Willi über den Weg, ausgerechnet an einem Tag an dem ich weder Zeit noch Nerven für eine Wiedersehensfeier hatte. Und er wohl auch nicht, so wie es aussah. Er hatte sich mittlerweile seine blaue Kladde unter den Arm geklemmt und war ohne einen weiteren Blick zur Türe hinausgeeilt. Der Willi. Immer in irgendwelchen undurchsichtigen Missionen unterwegs. Bereits früher hatte er ständig Geschichten von angeblich super geheimen Treffen auf Lager gehabt, an denen er teilnehmen mußte, über die er aber selbstverständlich nichts verraten durfte. Schließlich waren sie ja geheim. Die meisten Menschen hielten ihn für einen Spinner, ich fand ihn toll. Wir hatten so wunderbar zueinander gepaßt. Zwei verlorene, ehrbare Seelen in dieser irrsinnigen Welt voller Täuschungen und Irrungen. Und nun sollte ich ihn endlich wiedersehen! Kaum hielt es mich auf meinem Platz, aber geheim war geheim, da darf man nichts falsch machen.
Zwei Durchsagen später (die Bereitstellung meines Zuges verzögerte sich weiterhin auf unbestimmte Zeit) stand ich auf und eilte voller Vorfreude zum Gleis 2. Doch was war das? Weit und breit kein Willi zu sehen. Dafür stand inzwischen ein Zug da und der Lautsprecher drängte die (nicht vorhandenen) Passagiere, doch rasch zuzusteigen, da man eine beträchtliche Verspätung aufzuholen habe. Was sollte ich tun? Einsteigen und das Wiedersehen vergeigen? Vielleicht hatte er ja noch rasch auf die Toilette müssen? Oder die Perücke wechseln? Oder beides? Andererseits hatte ich Verpflichtungen gegenüber meinem Verlag. Einfach nicht zu erscheinen weil man glaubte, in einer Bahnhofskneipe einen Bekannten getroffen zu haben? Klang selbst in meinen Ohren lächerlich und ich bin von mir immerhin einiges gewohnt. Meine Lieblingslehrerin damals in der 10-ten Klasse hatte stets meine rege Phantasie gelobt.
Seufzend wuchtete ich meinen Koffer in den Zug und kletterte hinterher. Pflicht war Pflicht. Und inzwischen war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hatte. Der Willi, den ich gekannt hatte, wäre niemals mit einer so lächerlichen Perücke in der Öffentlichkeit herumgelaufen. Beknackte Mützen ja. Altmodische Hüte, auch ja. Aber niemals eine Langhaarperücke. Vielleicht hatte ich die Begegnung nur geträumt? Wunschdenken, ausgelöst durch dieses Verbotsschild? Hätte ich nicht vielleicht doch warten sollen? Aber schließlich wußte ER doch wie er mich erreichen konnte. Warum hatte er das nie versucht?
Die Umstiege in Paderborn und Hamm gingen problemlos vonstatten, obwohl ich mit meinen Gedanken nicht bei der Sache war und noch immer mit mir haderte, entgegen meiner Überzeugung in diesen blöden Zug gestiegen zu sein. Als ich in dem für mich gebuchten Hotel ankam, erwartete mich an der Rezeption eine Nachricht: Es täte ihnen (dem Verlag) total leid, doch die für heute angesetzte Lesung müsse leider mangels Interesse ausfallen.
Na Bumm!
Später, im Hotelrestaurant nach dem dritten Glas Wein, glaubte ich plötzlich, einen großgewachsenen, langhaarigen Mann zu erkennen, der forschen Schrittes in Richtung Ausgang marschierte. Doch obwohl ich sofort hinterherstolperte, war er nicht mehr zu sehen sobald ich den Hotelausgang erreicht hatte. Frierend stand ich auf der Straße im Schneegestöber und weinte bittere Tränen um eine nun unwiderruflich verlorene Freundschaft.