Freitag, 27. Oktober 2023

Alles nur geträumt?

 

''Jaaaa! Danke! Toll! Seid ihr auch noch stolz drauf oder was!!!!'' Aus vollem Halse brüllte ich gegen die gefühlt hundertachzigste Durchsage an, mit der ein gesichtsloser Bahnmitarbeiter uns immer wieder darüber in Kenntnis setzte, daß sich unser Ersatzzug leider auf unbestimmte Zeit verspäten würde. 

Da stand ich nun, in the fucking middle of nowhere, und kam nicht weiter. Wenn in so einem Nest kein Zug fuhr, dann fuhr keiner. Auch kein anderer. Garkeiner. Höchstens in die andere Richtung, aber aus der kam ich ja gerade. 

Es war ja auch nicht so, als ob ich keine Pläne hätte. Eigentlich hatte ich vor der Lesung noch gemütlich eine Weile im Hotel abhängen wollen aber das konnte ich jetzt vergessen. Wenn das noch lange so weiterging würde ich es mit viel Glück gerade noch pünktlich zur Location schaffen. Völlig abgehetzt natürlich und total unvorbereitet. Nicht mein Stil.

Das Schlimmste war, daß ich auch noch selber schuld an meiner Misere war. Herr Meyer, einer meiner treuesten Fans, der auf meinen Lesereisen immer wieder unverhofft auftauchte, hatte sich erboten, mich vormittags mit dem Auto bis Paderborn mitzunehmen. Von dort nach Düsseldorf zur nächsten Lesung zu kommen wäre kein Problem gewesen. Hätte ich mal mitfahren sollen! Stattdessen hatte ich mich lediglich lieb bedankt und ihm versichert, das sei nicht notwendig. Aus Angst, ich müsse mich im Gegenzug dann wieder wochenlang um seinen blöden Dackel kümmern, hatte ich sein nett gemeintes Angebot abgelehnt. 

Ich konnte das Vieh nicht leiden. Ständig blieb es stehen um an irgendwas zu schnuppern. Man kam einfach nicht vorwärts und Geduld war noch nie eine meiner Stärken gewesen, jetzt im Alter schon zweimal nicht.

Man hatte ja nicht mehr viel Zeit.

War doch nicht damit zu rechnen gewesen, daß die uns schon nach wenigen Kilometern rüde aus dem Zug komplimentieren würden weil er angeblich defekt sei. So defekt konnte der nicht gewesen sein, da er nach kurzem Aufenthalt fröhlich weitertöffte. Warum konnte man die Leute dann nicht noch die eine Station bis Paderborn mitnehmen? Das war doch lachhaft!

Mißmutig schlug ich meinen Stiefel gegen die Bahnsteigkante. Mein Blick fiel auf das Schild rechts von mir: 'Betreten der Gleisanlage strengstens verboten.'

Sofort mußte ich an Willi denken. Wohnte der nicht hier irgendwo in der Gegend? Der war so irre der Typ, ich hatte ihn geliebt. Damals. Von Verbotsschildern ließ sich Willi niemals abhalten. Im Gegenteil. Die spornten ihn erst recht an, das Areal zu erkunden, das es um jeden Preis zu vermeiden galt. Egal ob Truppenübungsplätze, Moorgebiete oder auch mal Gleisanlagen.

Wir waren uns aufgrund der Distanz unserer Wohnorte zueinander nur selten persönlich begegnet, hatten uns jedoch jahrelang täglich geschrieben und oft telefoniert, bis von heute auf morgen von ihm keine Nachricht mehr kam. Da ich seine Adresse nicht hatte (da tat er immer sehr geheimnisvoll), seine Handynummer aber offenbar außer Betrieb war, mußte ich das so hinnehmen obwohl ich ihn so sehr vermißte, daß es körperlich wehtat.

War er mir doch ein unermüdlicher Begleiter gewesen, stets mit Rat und Tat zur Seite, mich motivierend und immer wieder zum Lachen bringend. Zunächst stürzte ich in ein tiefes Loch. Dann aber begann ich wieder zu schreiben. Texte, die vor Wehmut und süßlicher Schwere förmlich troffen. Welche aber erstaunlicherweise bald darauf einen Verlag aufmerksam werden ließen. Somit habe ich es letztendlich Willi zu verdanken, daß aus mir - spät aber doch - eine 'richtige' Autorin geworden war. Eine Autorin, die stolz echte Bücher umeinandertragen konnte auf der ihr eigener Name gedruckt war, die aber leider auch Lesungen abhalten mußte. Immerhin bezahlte Lesungen. Was natürlich jetzt blöd war, wenn kein Zug kam. Taxi war in dem Kaff ja auch keins zu bekommen. Jedenfalls jetzt nicht mehr, nachdem die anderen Mitreisenden sämtliche verfügbaren Autos in Beschlag genommen hatten. Außer einem Gilbert gab's ja weit und breit kein Taxiunternehmen, wie mir mein Handy verriet. Das hier war Land. Für Stadtmenschen wie mich unvorstellbar abgelegen.

Außerdem war Winter. Eiskalter Winter. Ewig würde ich hier nicht rumstehen können. Was also war zu tun? Vielleicht erstmal einen Tee trinken? Zu meinem großen Erstaunen hatte ich nämlich bereits entdeckt, daß es drüben auf Gleis 1, welches seltsamerweise als Gleis 21 betitelt war, neben dem hübschen alten Bahnhofsgebäude tatsächlich sowas wie ein Bahnhofsrestaurant gab. Nicht nur Snacks und Getränke waren erhältlich, sogar einen Schalter gab es an dem man Fahrkarten kaufen konnte. Eine Rarität in diesen Tagen der anonymen Automaten und ständigem Verweisen auf Handy-Apps.

Heftig keuchend drückte ich die Türe auf und schleppte meinen Koffer über die Schwelle des einladenden Gebäudes. Wohlige Wärme umhüllte mich. Dankbar ließ ich mich auf eine der Holzbänke fallen und sah mich um. An einer Wand hingen gerahmte Sinnsprüche. Wohl um den Reisenden, die kein Buch dabei hatten, die Zeit nicht lang werden zu lassen? In einer Ecke saßen ein paar unrasierte Gestalten die den Eindruck erweckten, zum Inventar zu gehören. Dumpf murmelnd klatschten sie in unregelmäßigen Abständen ihre Karten auf den Resopaltisch, ab und an ein ungläubiger Ausruf, dann wieder Murmeln. Es fehlte eigentlich nur noch die verrauchte Luft, aber natürlich war selbst hier, gefühlt am Ende der Welt, das Rauchen innerhalb öffentlicher Gebäude verboten.

An einem der Stehtische schrieb ein Mann mit wallend langem Haar, wie ein finsterer Engel sah er aus, mit einer altertümlich anmutenden Gänsefeder etwas in eine aufgeschlagene Kladde. Führte der hier ein Sündenregister oder was? Wundern würde es mich nicht. Auch nicht, wenn plötzlich eine Himmelsleiter abgerollt käme, die er gemessenen Schrittes hinaufwandeln würde während im Hintergrund jemand auf der Posaune spielte. Man kam sich hier wirklich vor wie am hintersten Rand der Zivilisation. Immerhin war der Engel glattrasiert und kam mir eigentümlich bekannt vor. Wußte aber nicht, wo ich ihn einordnen sollte.

Nachdem ich meinen wärmenden Kamillentee bekommen hatte, versank ich wieder in hektische Grübeleien. Geduld war, wie bereits bemerkt, nie eine meiner Stärken gewesen und ich hatte es wirklich EILIG. Sonst hätte ich mich einfach nach einem Hotel erkundigen können und einen Tag Pause einlegen. Aber meine Lesung war HEUTE Abend, nicht irgendwann wenn die Frau Autorin mal geruhte einzutreffen. Ob ich beim Verlag anrufen sollte? Aber was wollten die machen? Mir einen Hubschrauber schicken aus der Schweiz? Sicher nicht. Schließlich war ich kein Ken Follett. Wobei der bestimmt nicht mit dem Zug fahren mußte. Der hatte sicherlich einen Chauffeur, der ihn in der Gegend umeinanderkutschierte.

Wieder mußte ich zu dem finsteren Engel hinschauen. Irgendwie sah der aus wie ... das konnte doch nicht ... Während ich noch kurzsichtig blinzelnd den Mann anstarrte, hob dieser seinerseits den Blick und begann ebenfalls zu starren: ''Entschuldigen Sie, aber Sie erinnern mich ... Sie sehen aus wie eine ehemalige ... Brigitta, bist du das?'' ''Willi! Hab ich mir's doch gedacht! Aber seit wann hast du Haare?''

Willi lachte dröhnend. ''Meine Brigitta wie sie leibt und lebt. Immer gleich auf den Punkt.'' Etwas leiser fuhr er fort: ''Aber hömma, ich bin inkognito unterwegs, deshalb auch die Perücke. Paß auf, ich geh jetzt raus und warte dann am Gleis 2, wo der Zug nach Paderborn abfährt. Abfahren sollte. Hätte abfahren sollen. Du kommst dann in etwa 5 bis 10 Minuten nach. Kannst ruhig noch ein bißchen grummeln, Scheiß Bahn und so, damit du nicht weiter auffällst.''

Völlig platt saß ich auf meiner harten Holzbank. Die Götter hatten wirklich eine seltsame Art, zu wirken. Nach all den Jahren schickten sie mir meinen Willi über den Weg, ausgerechnet an einem Tag an dem ich weder Zeit noch Nerven für eine Wiedersehensfeier hatte. Und er wohl auch nicht, so wie es aussah. Er hatte sich mittlerweile seine blaue Kladde unter den Arm geklemmt und war ohne einen weiteren Blick zur Türe hinausgeeilt. Der Willi. Immer in irgendwelchen undurchsichtigen Missionen unterwegs. Bereits früher hatte er ständig Geschichten von angeblich super geheimen Treffen auf Lager gehabt, an denen er teilnehmen mußte, über die er aber selbstverständlich nichts verraten durfte. Schließlich waren sie ja geheim. Die meisten Menschen hielten ihn für einen Spinner, ich fand ihn toll. Wir hatten so wunderbar zueinander gepaßt. Zwei verlorene, ehrbare Seelen in dieser irrsinnigen Welt voller Täuschungen und Irrungen. Und nun sollte ich ihn endlich wiedersehen! Kaum hielt es mich auf meinem Platz, aber geheim war geheim, da darf man nichts falsch machen.

Zwei Durchsagen später (die Bereitstellung meines Zuges verzögerte sich weiterhin auf unbestimmte Zeit) stand ich auf und eilte voller Vorfreude zum Gleis 2. Doch was war das? Weit und breit kein Willi zu sehen. Dafür stand inzwischen ein Zug da und der Lautsprecher drängte die (nicht vorhandenen) Passagiere, doch rasch zuzusteigen, da man eine beträchtliche Verspätung aufzuholen habe. Was sollte ich tun? Einsteigen und das Wiedersehen vergeigen? Vielleicht hatte er ja noch rasch auf die Toilette müssen? Oder die Perücke wechseln? Oder beides? Andererseits hatte ich Verpflichtungen gegenüber meinem Verlag. Einfach nicht zu erscheinen weil man glaubte, in einer Bahnhofskneipe einen Bekannten getroffen zu haben? Klang selbst in meinen Ohren lächerlich und ich bin von mir immerhin einiges gewohnt. Meine Lieblingslehrerin damals in der 10-ten Klasse hatte stets meine rege Phantasie gelobt.

Seufzend wuchtete ich meinen Koffer in den Zug und kletterte hinterher. Pflicht war Pflicht. Und inzwischen war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hatte. Der Willi, den ich gekannt hatte, wäre niemals mit einer so lächerlichen Perücke in der Öffentlichkeit herumgelaufen. Beknackte Mützen ja. Altmodische Hüte, auch ja. Aber niemals eine Langhaarperücke. Vielleicht hatte ich die Begegnung nur geträumt? Wunschdenken, ausgelöst durch dieses Verbotsschild? Hätte ich nicht vielleicht doch warten sollen? Aber schließlich wußte ER doch wie er mich erreichen konnte. Warum hatte er das nie versucht?

Die Umstiege in Paderborn und Hamm gingen problemlos vonstatten, obwohl ich mit meinen Gedanken nicht bei der Sache war und noch immer mit mir haderte, entgegen meiner Überzeugung in diesen blöden Zug gestiegen zu sein. Als ich in dem für mich gebuchten Hotel ankam, erwartete mich an der Rezeption eine Nachricht: Es täte ihnen (dem Verlag) total leid, doch die für heute angesetzte Lesung müsse leider mangels Interesse ausfallen.

Na Bumm!

Später, im Hotelrestaurant nach dem dritten Glas Wein, glaubte ich plötzlich, einen großgewachsenen, langhaarigen Mann zu erkennen, der forschen Schrittes in Richtung Ausgang marschierte. Doch obwohl ich sofort hinterherstolperte, war er nicht mehr zu sehen sobald ich den Hotelausgang erreicht hatte. Frierend stand ich auf der Straße im Schneegestöber und weinte bittere Tränen um eine nun unwiderruflich verlorene Freundschaft. 



Foto: © by Flaneur1960, Bad Driburg / Bildrechte liegen ausschließlich beim Fotografen und der Autorin


Donnerstag, 19. Oktober 2023

Die Niederlage Reginald des Rächers


Leichtfüßig betrat sie den Supermarkt und tanzte ausgelassen durch die Gänge. Ein Date! Ein Date zum Dinner! Nicht irgendein Date, nein, der blonde Hüne aus der IT-Abteilung, in dessen Gegenwart das tiefe Durchatmen so schwer fiel, hatte endlich geruht, sie zu beachten. Reginald der Ritter hatten sie und ihre Kolleginnen aus dem Schreibbüro ihn heimlich genannt, da er bislang auf keine ihrer mehr oder weniger subtilen Flirtversuche eingegangen war. Wie ein Ritter, der sich in seiner Rüstung verschanzt und stets edel und heroisch seiner Wege geht. Oder reitet.

Gestern hatte Reginald, der in Wirklichkeit einfach nur Harald hieß, sie aus heiterem Himmel am Kopierer angesprochen während er hinter ihr darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Ob sie ihm sagen könne, wo das Din-A-3 Format aufbewahrt werde, wollte er wissen. Dabei lagen sämtliche Papierstapel, nach Größe sortiert, unübersehbar rechts vom Kopierer im Eck. Genau wie all die Jahre zuvor auch.

Und heute in der Kantine, das Thema Essen lag auf der Hand, bzw. unappetitlich auf den Tellern zwischen ihnen - sie hatte noch mit ihren Kochkünsten geprahlt - hatte er sich praktisch selbst zum Essen eingeladen. Wogegen sie zwar nichts einzuwenden gehabt hatte, im Gegenteil, sie hatte sich so sehr gefreut - aber die Zeit wurde langsam knapp. Der Chef war um halb vier noch mit einem angeblich fürchterlich wichtigen Rundschreiben dahergekommen und jetzt war es zu spät für aufwendige Bratereien. Das Hors d’œuvre war noch nicht ausgewählt, die Zutaten noch nicht eingekauft, noch immer driftete sie, von ihren wallenden Hormonen getrieben, mehr oder weniger ziellos durch den Laden wie eine Qualle, die von den Wellen in den Untiefen des Meeres umeinandergespült wird. 

Eine kalte Platte vielleicht?

Kurzerhand begab sie sich zur Fleisch- und Feinkosttheke um sich von der Fachverkäuferin dort beraten zu lassen. Doch diese Dame war offenbar mehr an ihrem bevorstehenden Feierabend interessiert als an der Kundschaft. Sichtlich genervt gab sie nur widerwillig und knapp Auskunft über die ach so vielen leckeren Antipasti die verlockend zwischen ihnen ausgebreitet lagen und die Frage nach frischem Hack wurde schmallippig mit dem Bescheid beantwortet, die Maschine sei bereits gereinigt.

Enttäuscht verließ sie den Laden, ohne etwas gekauft zu haben. Dann eben nicht. Wozu gab es Lieferdienste? Und mal ganz ehrlich: Harald war doch sicherlich nicht in erster Linie wegen des Essens an sie herangetreten? Oder doch? Wenn sie an ihren Bruder dachte ... Der aß nach all den Jahren noch immer jeden Sonntag bei seiner Ex-Frau zu Mittag, nickte gar dem Nachfolger freundlich zu, nur um sich tüchtig den Bauch vollschlagen zu können. Liebe ging halt doch durch den Magen. 

Damit es aber erst zur Liebe kommen konnte, sollte nicht nur der Tisch, sondern auch die Anzubetende appetitlich hergerichtet sein. So verschwitzt und abgehetzt konnte und wollte sie Harald keineswegs gegenübertreten. Also ab nach Hause und unter die Dusche. Kaum war sie mit den nötigsten Restaurationsarbeiten fertig, klingelte es auch schon an der Türe. Pünktlich war er, das mußte sie ihm lassen. Hastig die oberen Knöpfe ihres Hauskleides schließend, zu offensichtlich wollte sie sich auch nicht anbieten, eilte sie zur Türe.

Riß sie auf und trat überrascht gleich wieder drei Schritte zurück. Statt des erwarteten Kollegen sah sie eine riesige Kiste aus Styropor, die sich zentimeterweise in ihre Wohnung bewegte und sie dabei Stück für Stück zurückdrängte. Was sollte DAS denn? Sie hatte doch noch nichts bestellt! Empört stemmte sie die Hände in die Hüften und wollte gerade loszetern, da schwang sich Harald hinter dem keuchenden Lieferanten vorbei und hielt ihr einen wirklich geschmackvoll zusammengestellten Blumenstrauß entgegen: ''Guten Abend Brigitta! Gut siehst du aus! Als ich euren Chef heute noch kurz vor Feierabend in euer Büro stürmen sah, dachte ich mir schon, daß du keine Zeit mehr zum Kochen haben würdest und habe uns vorsichtshalber etwas mitgebracht.'' An den Boten gewandt fügte er hinzu: ''Bitte stellen sie die Kiste einfach hier ab, vielen Dank, und das ist für Sie guter Mann.''

Verblüfft das wirklich großzügige Trinkgeld betrachtend, zog der Mann von dannen und Harald, ganz Herr der Situation, lupfte die Kiste wie selbstverständlich auf den Küchentisch, den er durch die halboffene Türe erspäht hatte.

Neugierig näherte sie sich dem Tisch und beobachtete gespannt, wie Harald mit einem verschmitzten Grinsen den Deckel abnahm. Was er wohl mitgebracht hatte? Chinesisch? Indisch? Sushi? Auf alles Mögliche war sie gefaßt aber nicht auf die Gestalt, die plötzlich aus der Kiste sprang wie Jack aus seiner Box und lauthals forderte: ''Zeigt mir die Töpfe, die Gewürze und wie der Herd funktioniert und dann schafft euch aus der Küche, ich kann keine Leute brauchen die mir beim Kochen über die Schulter gucken!''

Hastig rieb sie sich die Augen. Da stand doch nicht etwa ein Zwerg in ihrer Küche und funkelte sie erbost an? ''Na wirds bald? Hat dir wohl die Sprache verschlagen Frau Königstochter, was? Verwöhnte Bälger, allesamt. Töpfe, Gewürze, Herd hab ich gesagt!''

Fassungslos starrte sie auf den offenbar alles andere als handzahmen Wicht hinab, der bereits damit beschäftigt war, allerlei Eßbares aus der Kiste zu zerren, und wollte gerade saftig Kontra geben, als Harald ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte und sie sanft aber bestimmt aus der Küche schob. 

''Laß mich nur machen'', beschwor er sie. ''Reginald ist manchmal etwas unfroh, besonders wenn er lange in seiner Kiste gesessen ist, aber er kocht wie ein junger Gott. Ehrlich.''

Reginald. Der Zwerg hieß Reginald? Wer wollte hier eigentlich wen zum Narren halten? Während Harald wieder in der Küche verschwand, ließ sie sich völlig entnervt auf ihr Sofa fallen.

Hatte Harald sie und ihre Kolleginnen belauscht und sich hernach diese Farce ausgedacht um sich für den Spott und das Gelächter, das er in diesem Falle zweifelsohne ebenfalls gehört haben mußte, zu rächen? Als IT-ler hatte er ja dank der modernen Technik Möglichkeiten, die sich normale Menschen nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten. Was hatte er vor? Wollte er sie mit Psychospielchen piesacken und sich an ihrem Unbehagen weiden? Wie konnte sie sich aus dieser Bredouille retten? Ausgeschlossen, daß sie sich ihm nun noch hingeben konnte, was er jedoch nach diesem buchstäblich hingezauberten Menü zweifelsohne erwarten würde. Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Mobiltelefon und begann, in der Kontaktliste nach ihrer Freundin Monika zu scrollen. Monika war eine begnadete Hellseherin und weiße Hexe, diese wüßte sicherlich Rat. Doch noch bevor sie den Call-Button drücken konnte, erschien ein weiß behemdeter Arm hinter ihr und entwand ihr das Telefon.

''Wir wollen doch jetzt nicht telefonieren, oder? Wir wollen es uns doch lieber etwas gemütlich machen, bis das Essen fertig ist?''

Wie erstarrt saß sie da. Nur nichts anmerken lassen. Feind in Sicherheit wiegen. Mit einem, wie sie hoffte, einigermaßen freundlich erscheinenden Lächeln klopfte sie einladend auf die Sitzfläche neben sich während sie gleichzeitig aufstand und beiläufig zum Schränkchen hinüberging, in dem sie die Alkoholika aufbewahrte.

''Darf ich dir etwas zu Trinken anbieten?'' Hoffentlich hatte ihre Stimme nicht allzu sehr gezittert.

''Ach nein Danke ganz lieb Brigitta, aber ich bin mit dem Auto da und man soll doch zum Essen, welches übrigens gleich fertig sein sollte, nichts trinken. Die Magensäure, du verstehst? Ist doch eins deiner Lieblingsthemen, der Magen, richtig?''

Das süffisante Grinsen mit dem er seine als Frage getarnte Beobachtung wie nebenbei in den Raum stellte, bestärkte Brigittas dumpfe Ahnung. Harald HATTE sie abgehört. Ihre Magenbeschwerden waren in der Tat oft diskutiertes Thema im Schreibbüro gewesen. Ihr wurde kalt. Nerven bewahren, ermahnte sie sich, du hast von Monika einiges gelernt wogegen dieser Computerbube mitsamt seinem Mini-Bocuse nicht würde ankommen können. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. Die Sekunden verstrichen und schienen sich ins Unendliche zu dehnen. 

''Ach sieh nur'', rief sie scheinbar fröhlich aus und wandte sich dem Fenster zu. ''Die lieben Vögelchen sind wieder auf dem Balkon!''

Rasch, bevor er sie daran hindern konnte, drehte sie den Griff und öffnete das Wohnzimmerfenster weit. Schnalzend und keckernd ergoß sich eine wahre Flut an Eichhörnchen ins Zimmer. Sie krabbelten Harald in die Hosenbeine, zerrten an seinen Haaren und zerfetzten mit ihren scharfen Krallen seinen teuer aussehenden Anzug.

''Zu Hilfe!'', schrie dieser. ''Bist du wahnsinnig, schaff  mir diese Viecher vom Hals, aber dalli!''

''Nimm du deinen Koch und verschwinde aus meiner Wohnung, aber ebenso dalli'', entgegnete sie ungerührt. Wild um sich schlagend rannte Harald aus dem Zimmer, schrie nach Reginald, welcher nach seinem Auftauchen aus der Küche ebenfalls sofort von den Eichhörnchen attackiert wurde, woraufhin beide laut fluchend aus der Wohnung rannten und dabei völlig vergaßen, die Wohnungstüre hinter sich zu schließen.

Rasch holte sie dies nach und rutschte sodann mit dem Rücken zur Türe langsam auf den Teppich hinab. Gerade noch einmal gutgegangen. Wie betäubt saß sie da, bis sie vom lauten Keckern ihrer kleinen Helfer aus ihrer Erschöpfung aufgeschreckt wurde.

''Ja, ihr Guten, Lieben! Ihr sollt euren Lohn erhalten! Freilich!'' Rasch stand sie auf und schloß mit einem goldenen Schlüssel, der stets an einer Kette um ihren Hals hing, ein kleines Kästchen im Flur auf. Diesem entnahm sie eine Handvoll Zaubernüsse, die sie an die kleinen Hörnchen verteilte. Jedes nahm sich eine Nuß und verschwand damit aus dem Fenster hinaus in das Wäldchen, aus dem sie gekommen waren.

Während sie rasch die Unordnung in der Küche beseitigte - es hätte übrigens Nudeln mit einer undefinierbaren Soße gegeben - und vorsichtshalber alles miteinander in den Müll schüttete (bis auf die Gerätschaften Reginalds natürlich, die sie Harald am nächsten Tag im Büro unauffällig auf seine Platz stellen würde), nahm sie sich erneut vor, nun aber wirklich nie mehr, absolut NIEMALS mehr, einen Mann in ihre Wohnung zu lassen. Auch keine harmlos wirkenden IT-Spezialisten. Ganz besonders die nicht.






Mittwoch, 18. Oktober 2023

Im Jenseits gibt es keinen Wodka

 

Ich sehe dich nicht. Immer noch nicht. Ich habe Angst! Der Weg hierher war total gruselig, schwarz und schlammig wie im Moor, und ich hatte ständig Angst, zu versinken. Eine Stimme in meinem Kopf (deine???) mahnte immer wieder: Fürchte dich nicht, geh einfach weiter. Denk an das Licht! 

So bin ich nun an dieser Brücke angekommen. Die hatte ich mir auch anders vorgestellt.
Bunt, hell, vielleicht nicht grad mit Herzchen und Blümchen aber doch nicht so!
So unromantisch und ungepflegt.

Außerdem bin ich nicht schwindelfrei. Ob die mein Gewicht aushält? Obwohl, ich hab ja eigentlich keinen Körper mehr.

Die Landschaft erinnert mich ein bissl an unseren Schloßpark in Innsbruck. Weißt noch, Innsbruck, wir beide? Der Gunsch immer mit dem Besen vor dem Haus damit ihm ja nix entgeht und der kleine Laden in Hötting mit den Schulheften, dem Brot und den kleinen Teddybärchen?
Wo ich mich ewig nicht entscheiden konnte welches von beiden ich nehmen soll und du bist dann später heimlich nochmal runter und hast das zweite Bärchen gekauft damit es nicht traurig ist.

Und jetzt krieg ich langsam Panik. Du hast doch versprochen du holst mich ab!
Tote brauchen keine Brillen, ich sehe glasklar. Alles. Nur dich nicht.

Im Jenseits gibt es keinen Wodka. Daran kann es also nicht liegen, daß du zu spät bist.
Ok deine Orientierung war schon immer Scheiße. Aber ich brauch dich jetzt! Ich weiß nicht wo es langgeht. Ich seh nur Felsen und da komm ich doch nicht mehr rauf in meinem Alter! Tot oder lebendig. Wurscht. August wo bist du? Ich hasse Warten, August, du weißt das!

Hat der Nietzsche Bernd immer gesagt.
August, du weißt das!
Hast du den mal irgendwo getroffen?
Oder den Mike? Oder den Joe?
Wo seid ihr denn alle?
Ist das der Tod?
Alleine deppert umeinanderwarten?
In alle Ewigkeit?
Wo ist das Licht? Wo sind die Engel?

'Frau Niedermöller, da sind Sie ja!'
Vor mir steht ein Mann mit langem Bart.
'Sind Sie der Petrus? Komm ich nun doch in den Himmel rein? Wo ist denn der Eingang?'

'Frau Niedermöller Sie kommen doch jetzt noch nicht in den Himmel! Jetzt gibt's erstmal Abendessen. Sie waren ja fleißig unterwegs heute, fast hätt ich Sie nicht gefunden so weit hinten im Garten. Da haben Sie jetzt sicher tüchtig Hunger!'



Foto: © by Flaneur1960, Bad Driburg / Bildrechte liegen ausschließlich beim Fotografen und der Autorin


Samstag, 14. Oktober 2023

Damals, beinah ...

 

Die Zeit verging, verrann ihr zwischen den Fingern wie der Sand, den sie gedankenverloren immer wieder von einer Hand in die andere laufen ließ. Die Hoffnung, ihm hier noch einmal zu begegnen, wurde jeden Tag kleiner, doch niemals verschwand sie völlig, so wie die Sonne es jeden Abend tat ... und selbst diese tauchte regelmäßig morgens erneut aus dem Meer wieder auf als sei nichts geschehen und sie hätte sich nur einmal kurz das Gesicht waschen müssen.

Ein Mann, eine Kamera, ein Stativ. Jeden Tag war er hier vorbeigekommen, meist gegen neun Uhr morgens. Anfangs hatte er sie natürlich nicht beachtet. Schließlich war nur eine von vielen Urlauberinnen und sein Blick war stets in die Ferne gerichtet gewesen. Ein Suchender. Ein Philosoph. Ein Heiliger vielleicht?

Eines Tages jedoch hatte er eine ungewöhnlich geformte Muschel entdeckt, die nicht weit von ihren weißen Stadtbewohnerinnenzehen entfernt auf dem Sand gelegen war.

Nachdem er umständlich sein Stativ aufgebaut und die Muschel von allen Seiten fotografiert hatte, sah er ihr plötzlich und unerwartet direkt ins Gesicht, seine Mundwinkel zuckten kaum wahrnehmbar. Er bückte sich, hob die Muschel auf und überreichte sie ihr mit einer formvollendeten Verbeugung.

Auch sie war stumm geblieben, sah ihm lediglich mit einer kindlichen Verzückung ins Gesicht, suchte nach einem Punkt an dem sie sich festhalten konnte doch schon hatte er sich abgewandt, ergriff sein Stativ und marschierte weiter, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.

Natürlich saß sie am nächsten Morgen wieder hier und wartete gespannt darauf, ihn wiederzusehen.

Doch er kam nicht. Nicht an diesem Tag und auch an keinem anderen. 

Inzwischen war es Herbst geworden, die anderen Touristen waren abgereist, die Strandkörbe standen einsam und verlassen nebeneinander. Ein kalter Wind pfiff ihr um die Ohren während sie unverdrossen weiter wartete. Die kostbare Muschel war sicher im Hotelsafe verwahrt, zusammen mit ihrer mittlerweile beträchtlich geschrumpften Barschaft. Bald würde sie aufbrechen müssen. Zurückfahren nach Hause, in ihre kleine muffige Wohnung, in der niemand auf sie wartete.

Niemand konnte ahnen, daß, nur wenige Kilometer entfernt, das Meerwasser täglich von früh bis spät leise plätschernd eine von vielen vielen grünen Algen mittlerweile fast völlig zugewobene Kamera umfloß. Daneben eine weiße Hand, die noch immer zu versuchen schien, sich ihr Eigentum zurückzuerobern.

Bei Ebbe nur erhob sich knapp daneben eine perlweiße Düne aus dem Meer, das Schild davor bereits von den Elementen völlig verwittert und unleserlich geworden: Danger! Keep away!















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