Vorigen Montag, ich hatte Urlaub und mir soeben eine Sitzung bei meiner Lieblingstherapeutin gegönnt, durchquerte ich mit der Kamera um den Hals und einem Lächeln im Gesicht ein Wohnviertel im Süden Dachaus. Ich war unterwegs in Richtung Schinderkreppe, einem Naherholungsgebiet, von dort wollte ich am Waldschwaigsee vorbei in Richtung Karlsfeld wandern und dabei den milden Sonnenschein genießen. Den obligatorischen Besuch im Dachauer Hofgarten hatte ich bereits absolviert und einige entzückende Blumenbilder geschossen. Was für ein herrlicher Tag!
Als ich soeben beim Postkasten über die Straße wollte und mich nach links und rechts nach etwaigen entgegenkommenden Autos umschaute, sah ich etwas weiter vorn einen Mann aus einer Seitenstraße herauskommen. Gerade noch marschierte er aufrecht mit der Tasche in der Hand an einem Baum vorbei, im nächsten Moment lag er am Boden. War er über eine Baumwurzel gestolpert? Hatte er sich was getan? Weit und breit war niemand zu sehen, also näherte ich mich unsicher und fragte, ob er sich verletzt hätte oder ob es wieder ginge?
'Ich komm nimmer auf,' sprach's dumpf von unten. 'Ich hab eh ein wehes Knie ...'
'Achja, das kenne ich', antwortete ich mitfühlend seufzend, und nachdem wir eine Zeitlang vergebens probiert hatten, ihn wieder auf die Beine zu stellen, indem er sich an mir festklammerte und ich total feste an ihm gezogen hab, setzte ich mich neben ihn auf den Boden und zeigte ihm, weil wir das mal in einem Kurs in der Arbeit gelernt hatten, wie man aufstehen kann wenn man alt ist. Aber auch das hat nicht geklappt, eben wegen des Knies.
Obendrein, das hab ich recht schnell gemerkt, war er ein ein Tschecherant. Man roch deutlich, daß er sich entweder am Abend zuvor oder bereits in der Früh ordentlich einen genehmigt hatte. Ich kannte das ja von Sigi, meinem ehemaligen Mann, und dessen Bruder - welche inzwischen beide die Gänseblümchen von unten hochschieben. Obwohl - bei Sigi bin ich mir da nicht so sicher, dem trau ich eher zu, daß er noch extra dran zieht.
Nun war guter Rat teuer. Der arme Mann krebste immer noch auf allen Vieren am Boden umeinander und ich wußte nicht mehr weiter.
In diesem Augenblick bog ein Auto in die Seitenstraße ein, an deren Anfang wir uns befanden, ich lief armwedelnd drauf zu, der Fahrer hielt auch brav an und kurbelte mit fragendem Gesichtsausdruck die Scheibe hinunter. Ob er mir helfen könnte, fragte ich, der alte Mann hier sei gestürzt und ich könne ihn alleine nicht aufheben. Gut, meinte er, mich argwöhnisch fixierend, aber Sie müssen schon auch mithelfen! (Wahrscheinlich hatte er gedacht, ich will ihm das Auto klauen? Wenn der wüßte ... ich hab nicht einmal einen Führerschein.)
Ja eh, sagte ich - der hilfreiche Herr stieg also aus, fragte erst einmal, denn als Autofahrer hat man ja einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht der alle Facetten potentieller Unfallfolgen abdeckt, ob sonst alles soweit in Ordnung sei oder ob irgendwo Schmerzen aufgetreten seien? Nachdem dies von unten verneint worden war, packte er kräftig zu und bald stand unser Schützling wieder aufrecht, schwankte aber erheblich.
Unser Retter meinte: 'Na, Sie werden mir gleich wieder umfallen!' Der fröhliche Zecher: 'Ah naa, I fall nimmer um!' 'Hm, lehnen Sie sich doch besser noch eine Weile an den Baum da, bevor Sie weitergehen.'
Der Alte schmunzelte, er hätte sich eh schon an den Baum gelehnt gehabt, aber irgendwie sei er dann umgefallen, er wisse nicht mehr warum, vielleicht hätte er schon Alzheimer. Mit einem zweifelnden Blick, denn natürlich hatte auch er inzwischen die Fahne gerochen, begab der Autofahrer sich wieder in sein Fahrzeug und fuhr von dannen.
Ich hob dem alten Mann sein Hauberl auf, das noch am Boden gelegen war, und fragte, ob ich ihm sein schweres Sackl heimtragen solle. Er freute sich: 'Ja, wennst magsch!', und ein Leuchten trat in seine Augen.
Er ergriff meine Hand und wir tappten munter plaudernd los. Er fragte mich nach meinem Namen, erzählte, er hieße Günther und er fände mich sehr lieb. Sein Alter war schwer zu schätzen, er sah ziemlich fertig aus und hatte Knast-Tattoos an den Händen. Sehr gut beinand war er nicht, schwankte mehrmals und gestand, er habe etwas Zucker. Ob er denn schon was gegessen hätte heute? Nein ...
'Mann!!!', schimpfte ich los, 'auf nüchternen Magen was trinken und dann losrennen, des kannsch doch ned machen, und dann auch noch Diabetes!!!'
Er guckte etwas schuldbewußt von schräg unten und zwinkerte mit listigen kleinen Äuglein: Das würde seine Freundin auch immer sagen.
Bald darauf, es war eh nicht weit aber wir kamen nur sehr langsam vorwärts, bogen wir in die Gasse ein, in der er wohnte. Am Anfang selbiger befand sich eine Baustelle, wir mußten einem Lastwagen ausweichen, der die ausgehobene Erde abtransportieren wollte, und dann ging garnichts mehr. Günther schwankte wie ein Ast im Wind und ich dachte: jetzt haut es ihn gleich wieder hin, zehn Meter vor seinem Häuschen!
Also holte ich eine Banane aus meinem Rucksack und hielt sie ihm auffordernd vor die Nase. 'Ja und was ißt du dann?', fragte er besorgt? 'Ich hab noch eine dabei, des paßt scho.'
Also aß er brav die Banane, fragte mich nochmals nach meinem Namen, weil er den schon wieder vergessen hatte, und danach schafften wir es ohne weitere Zwischenfälle bis zum Gartentor. Vorsichtshalber trug ich die Tasche noch bis zur Haustüre, er meinte: 'Warte, ich brauch den Schlüssel ...', ließ meine Hand los und griff in den Blumenkasten, der neben dem Fensterchen stand. 'Der is da immer drin', grinste er freundlich und begann, die Türe aufzuschließen.
'Ja du bist lustig,' meinte ich vorwurfsvoll, 'einem fremden Menschen das Schlüsselversteck zu offenbaren, des darfsch doch ned! Was is wenn ich morgen komm und euch die Bude ausräum???!!!'
Nachdem die Türe offen war, stellte ich das schwere Sackl im Eingangsbereich ab und dachte, ich könne nun gehen, aber Günther wollte mich nicht fortlassen. Ich solle doch noch mit reinkommen lud er mich ein ... was ich vorsichtshalber ablehnte. Einerseits hätte es sicher nichts geschadet, wenn jemand noch ein bissl auf ihn aufgepaßt hätte, aber auf meine Frage hin, wann denn die Freundin käme, meinte er 'in etwa zwei Stunden', ich wußte ihn somit in guten Händen und dachte mir, bis dahin wird er wohl überleben.
Der Gute war so gerührt, hat mir immer wieder versichert wie lieb ich sei, wie gern er mich hätte, dabei liefen ihm sogar die Tränen aus den Auge. Mehrmals hat er mich umarmt und wenn ich mich nicht irgendwann mit Macht losgerissen hätte, stünden wir wohl heute noch dort.
Als ich auf die Straße trat, stand er noch immer in seiner Haustüre und winkte mir nach. Ich hatte ihm versprechen müssen, ihn bald besuchen zu kommen, sonst hätte er mich nicht gehen lassen.
Der arme Kerl hat mir so leid getan, aber dennoch werde ich ihn nicht besuchen. Erstens einmal, weil ich seine Freundin nicht kenne und wenig erpicht darauf bin zu erfahren, was sie von einer unverhofft auftauchenden weiblichen Bekanntschaft ihres Günthers hält, weiters werde ich mir keinen zweiten Anton aufladen, mir hat der erste schon gelangt. So lieb und gut einerseits, aber auf der anderen Seite ständig in trouble weil man ohne zu reflektieren einfach losrennt, egal wohin. Wenn man eh schon Diabetes hat, dann geht man nicht ohne Frühstück raus, von der Trinkerei auf nüchternen Magen mal ganz abgesehen. Aber da kann man sich den Mund fusselig reden, das geht bei den Antons und Günthers dieser Welt rechts rein und links wieder raus.
Obwohl sie ungute Erinnerungen wach werden ließ, hat mich diese Begegnung dennoch tief berührt. In den heutigen oberflächlichen Zeiten, in denen immer mehr Menschen freiwillig Maskenball spielen, in Kontakt mit einem echten, ehrlichen Menschen treten zu dürfen, der sagt was er denkt und tut was er fühlt, ist schon ein kleines Wunder und zeigt auf, daß noch nicht alles zu spät ist und wir die Hoffnung niemals aufgeben dürfen.
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