Sonntag, 31. Januar 2021

Alt zu werden ist einfach Scheiße



Es gab vieles, das man Anton vorwerfen konnte, aber daß es einem mit ihm jemals fad werden könnte, das stand niemals zu befürchten. Eigentlich hätte ich es meistens lieber ruhiger gehabt - aber daß mir dieser Wunsch mittlerweile dermaßen umfassend erfüllt wurde, daß niemand mehr auch nur irgendwas darf und die Welt zunehmend ins Monochrome abdriftet, hätt's jetzt auch nicht gebraucht. Man muß wirklich sehr aufpassen, was man sich wünscht, es geht immer in Erfüllung - allerdings mangels Präzision beim Wünschen sehr selten so, wie man es gerne gehabt hätte.

Damals jedoch, als Anton noch lebte und die Welt bunt war, mußte man stets auf das Ärgste gefaßt sein, ungefähr so wie wenn man mit einem Kleinkind unterwegs ist, das gerade entdeckt hat, daß es sehr schnell laufen und sich auch prima verstecken kann, besonders wenn es Mutti eilig hat und echt keine Zeit für dumme Spielchen.

Es ist kein Geheimnis, daß ich mich sehr gerne in Wien aufhalte. Mit der Zeit bildeten sich dabei einige Rituale heraus, eins davon war, daß ich mir in einem Bioladen im Dritten, Nähe Rochusplatz, ein Blätterteiggebäck mit Spinatfüllung kaufte und damit in den Donaupark hinauffuhr, um es dort genüßlich zu verspeisen. Logischer wäre es gewesen, damit in den Prater rüberzufahren oder in den Augarten, aber ich bin eine Frau, ich muß nicht logisch handeln. Spinattaschen gehörten im Donaupark verspeist und Weintrauben vom Viktor-Adler-Markt auf dem Zentralfriedhof, so einfach war das.

Nachdem ich nicht nur unlogisch bin sondern mir auch mein kindliches Gemüt entgegen aller Anfechtungen bewahren konnte, ist selbstverständlich auch darauf zu achten, bei jedem Besuch im Park mit der Donauparkbahn zu fahren. Ich liebe diese kleinen Bähnchen, und so eine Fahrt gehörte in jeder meiner Lieblingsstädte zum Pflichtprogramm. Ob Stuttgart, Karlsruhe, Frankfurt oder Wien: Bähnlefahren mußte sein.

Jetzt wollte der Anton natürlich immer mit auf meine Reisen nachdem er zu mir gezogen war, und ich hab ihn prinzipiell auch gerne mitgenommen. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wie der Volksmund so schön sagt, aber man braucht halt auch gute Nerven wenn man mit anderen Leuten unterwegs ist, und meine Nerven sind noch nie besonders stabil gewesen.

Wir saßen also mit einer ausgesuchten Gruppe von Stofftieren - meistens waren Fredi und Herr Umnus dabei, manchmal auch Fernwauz oder Antons Schlafbär, welche heute allerdings daheim bleiben wollten - in der Donauparkbahn, welche gemütlich vor sich hinratternd das Gelände durchpflügte (zu schnell durfte der Lokführer nicht fahren, da man sonst NIEMALS auch nur annähernd an die versprochenen 15 Minuten Fahrzeit herangekommen wäre) und genossen die Aussicht. Bei der Haltestelle Rosenschau bleibt der Zug meist etwas länger stehen, da hier die meisten Leute zusteigen und es ein Zeitl dauert, bis die Billets alle kontrolliert sind. Wir also ein bissl in der Gegend umeinandergeschaut, in Richtung Rosengarten natürlich, die Hecke auf der anderen Seite ist eher unergiebig, und der Rosengarten war damals noch recht neu, erst vor kurzem gestaltet worden, und somit auch für mich interessant. 

'Schau dir des an!', flüsterte Anton mir auf einmal hektisch zu. 'Da drüben, die zwei auf'm Bankerl, die machen business, I pack's ned!'
'Wie kommsch jetzt da drauf?', fragte ich verwundert. Ich sah lediglich zwei junge Burschen dasitzen, die sich unterhielten.
'Weil des Plastiksackerl jetzt auf einmal unter dem da rechts steht, vorher stand's links.'
'Ja, der hat ihm halt vielleicht die Aufgab bracht, oder sein Turnzeug, das er vergessen hatte, oder ein paar DVDs oder so???' versuchte ich, Antons Verdacht zu entkräften und die Ehre der beiden jungen Männer zu retten.
'Naa,', blökte Anton fachmännisch, 'I hab des genau g'sehn wie der eine dem anderen ein piece unter die Nase g'halten hat und dann hams beide dran g'rochen und grinst. Also offensichtlicher geht's nimmer. Und des mitten im Park!' Empört stierte er weiter in Richtung Bankerl und dachte offenbar verbittert an all die Jahre, die er bereits auf Staatskosten in diversen bayerischen Gitterpensionen hatte verbringen dürfen, obwohl er sich niemals dermaßen fahrlässig verhalten hatte. 

Die beiden Burschen standen jetzt auf, schlenderten beiläufig nach hinten weg, trennten sich, der eine wandte nach rechts in Richtung Haltestelle Alte Donau, während der andere das Plastiksackerl beiläufig ins Gebüsch bei den Springbrunnen stellte und dann in die entgegengesetzte Richtung davonmarschierte.

Mit einem Sprung war Anton plötzlich aus dem bereits anfahrenden Zug gehechtet und sprintete davon. Bevor ich noch unsere Sachen sowie Fredi und Herrn Umnus aufsammeln und die Verfolgung aufnehmen konnte, hatte der Zug an Fahrt aufgenommen und ich mußte hilflos sitzenbleiben. Nie war mir die Strecke bis zum Donauturm so lange vorgekommen. Es bedurfte nicht viel an Phantasie um zu erraten, was Anton vorhatte. In einer fremden Stadt, ohne connections, was zum Henker wollte er mit seiner Beute anfangen? Und vor allem, wozu? Wir hatten doch genug Geld dabei! 

Nervös und stocksgrantig starrte ich in die Brennesseln am Wegrand und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. In einem fremden Land eine Straftat zu begehen, aus purer Gedankenlosigkeit, das war SO typisch für Anton, nichts als Ärger hatte man, das war jetzt aber ENDGÜLTIG das letzte Mal, daß ich mit ihm weggefahren war und was sollte ich jetzt nur machen und wo war er überhaupt, wo sollte ich ihn suchen? Bei seinem Orientierungsvermögen würde er niemals alleine zu unserer Wohnung beim Reumannplatz zurückfinden, wo er nicht einmal in der Lage war, von dort mehr oder weniger gradaus die Davidgasse entlang bis zur Tankstelle zu gehen die einen Sonntags-Billa beinhaltete.

Kaum war der Zug endlich beim Turm angelangt, stolperte ich auch schon heraus und hetzte quer durch den Park Richtung Rosengarten, wo ich Anton das letzte Mal gesehen hatte. Glücklicherweise mußte ich nicht lange suchen: Bereits bei der Graffitiwand wo die Frau mit dem Schirm drauf ist, saß er von einem Ohr zum anderen grinsend, und begriff einmal wieder überhaupt nicht, wieso ich mich so aufregte.

'Schpinnsch jetzt? Was sollt I mit dene ihrm Dope?', fragte er auf meine Vorhaltungen wegen seiner plötzlichen Flucht völlig verständnislos. 'I bin lediglich dem Typen nach und hab ihn g'fragt, was er in dem Sackl drin hat und ob's da eventuell mehr davon ... und er hat mir a kleins Probepiece abzwackt und I hab mir au scho a bissl in mein Tschick einebröselt, I kann dir sagen, des haut nei! Schad, daß du nix mehr vertragsch! Und was is, geh mer was essen? I hätt grad irgendwie Hunger ...'

Entnervt ließ ich mich auf einen Sitzplatz fallen, schloß erschöpft die Augen und fragte mich, ob ich tatsächlich krank im Kopf war und daher überall Verbrechen und Katastrophen witterte wie meine Psychologen mir ständig einzureden versuchten. Früher hätte ich einfach mitgeraucht, wir hätten uns gemeinsam totgelacht und einen schönen Tag verbracht. Alt zu werden ist einfach Scheiße!












Mittwoch, 6. Januar 2021

Nervenkrieg


Wie erleichtert war sie gewesen, als sie nach fast zweijähriger Abwesenheit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war und die Menschen dort zugewandt, freundlich und hilfsbereit erleben durfte. Die Monate vor der Wiedereingliederung hatte sie in Furcht und Aufregung verbracht, sich die finstersten Szenarien ausgemalt, die ihr überaktives Gehirn nur ersinnen konnte. Und deren gab es genügend. War doch der erste Versuch im Jänner kläglich gescheitert, weil sie damals ausgerechnet mit der Kollegin täglich konfrontiert gewesen war, die sie damals praktisch aus dem Büro des Oberarztes hinausgemobbt hatte, in dem sie zwölf Jahre gerne und auch gut ihren Dienst verrichtet hatte. Diese Kollegin, bei der sie sich jeden Morgen hatte melden müssen, hatte ihr unmißverständlich klargemacht, daß sie nun niemand mehr war, absolut niemand. Damit hatte sie nicht gerechnet gehabt und es hatte sie schwer getroffen.

Jetzt, beim zweiten Anlauf, war sie also darauf vorbereitet gewesen, als unterste in der Hirarchie ned amal ignoriert zu werden - und war dann positiv überrascht gewesen, wie anders es drüben in der Physikalischen Medizin, wohin man sie versetzt hatte, zuging. Die Frauen waren nett zueinander, es gab keine üblen Redereien, man scherzte und stöhnte gemeinsam, es war eine völlig andere Atmosphäre.

Allerdings empfand sie es anfangs als etwas komisch, beim Verlassen des Büros eine Gesichtsmaske aufsetzen zu müssen, sogar beim Gang auf den Abort ... was sich im nachhinein aber so manches Mal als durchaus wohltuend erwies, angeruchs der olfaktorischen Genüsse, die so mancher Patient dort zurückließ. Zwar hatte das Personal eine eigene Kabine, aber die war leider nicht umfassend abgedichtet.

Auch war die Rückenlehne des Bürostuhls irgendwie unbequem, aber nach einigem Herumruckeln und Dagegenhauen ließ auch diese sich in eine Position bringen, mit der sie leben konnte. Zuhause saß sie niemals auf Stühlen, auch das war ungewohnt. Daher nutzte sie jede Gelegenheit, Botengänge verrichten zu dürfen, auf denen sie auch die Kollegen und Kolleginnen aus der alten Abteilung wiedertraf, und überall freudig begrüßt wurde. Es tat ihr unglaublich gut, wieder unter Menschen zu sein und jeden Tag irgendwo ein kleines Schwätzchen halten zu können. 

So vergingen die ersten Wochen in einem wohligen Dahingleiten, die Arbeitszeit wurde sukzessive aufgestockt, die Arbeit erwies sich als gut machbar, das alte Hirn funktionierte noch recht gut und sie schwebte auf rosaroten Wolken durch die heimischen Flure des alten Krankenhauses. 

Bis sie eines Tages von ihrer direkten Vorgesetzten, welche für das Team Admin beider Abteilungen sowie der Niederlassung im Klinikum Innenstadt zuständig war, und die sie daher ebenfalls seit vielen Jahren kannte, in ihrem Büro aufgesucht wurde. Es war kein offizielles Vorsprechen, fühlte sich jedoch bereits nach knapp zwei Minuten genauso an. Die Vorgesetzte war nämlich keineswegs gekommen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, so wie in den Wochen zuvor. An diesem Tag war sie gekommen, um ein heikles, gar kritisches, Thema vorzubringen. Man würde über sie reden, wurde ihr gesagt. Wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes. Sie hätte da wohl so eine bunte Hose getragen, das müsse sie bleiben lassen. 

Betroffen blickte sie an sich hinunter. Ihre Hose war blau. Lediglich in ihrer ersten Woche hatte sie bunte Leggings getragen, diese aber bald gegen die blauen Lieblingshosen ausgetauscht, da diese große Taschen hatten, in die Maske, Transponder und Hausschlüssel ebenso hineinpaßten wie nach der Arbeit beim Spaziergang gefundene Steine, Holzstückchen und andere Schätze. Dieselbe Hose besaß sie auch in waldgrün und zog beide immer abwechselnd an, da sie weiters einen Gummizug hatten und so auch trotz der Gewichtszunahme bequem saßen. Im Sommer waren sie sehr praktisch als Gelsenabwehrhosen, da die blutrünstigen Viecher durch dünneren Sommerstoff einfach hindurchstachen, was ihnen aber bei diesen genialen Hosen nicht gelingen wollte.

Die Vorgesetzte sah nur das bedröppelte Gesicht ihres Gegenübers und meinte beherzt: 'Nun, Frau R., das ist jetzt aber kein Grund, in eine tiefe Depression zu versinken.'

Sehr einfühlsam, dachte sie sich. Perfekte Wortwahl einer Mitarbeiterin gegenüber, die sich wegen genau einer solchen Depression in der Wiedereingliederung befand, ihrer Ansicht nach nichts falsch gemacht hatte, und nun für die Wahl ihrer Hosen gerügt wurde.

'Was Sie für Pullover anziehen ist mir ja wurscht', fuhr die Vorgesetzte unbarmherzig fort, 'aber diese Hosen gehen garnicht. Ziehen Sie Stoffhosen an, so wie die anderen auch.'

Stoffhosen? Was glaubte die Person, aus was ihre Hose gearbeitet worden war? Aus gebrauchter Zahnseide???

Vorsichtige Argumentationsversuche ihrerseits, eben wegen Bauch und Gummizug und andere Hosen zu klein geworden, wurden von der Chefin harsch abgebügelt: 'Frau R., wir sind Ihnen entgegengekommen, Sie dürfen jetzt hier halbtags arbeiten, haben jeden Mittwoch frei, nun machen Sie mal kein Drama draus, orientieren Sie sich an dem was die anderen tragen, Sie sind doch intelligent, wir sind auch sehr froh, Sie nun in der Tagesklinik zu haben, da Sie hier sicher einiges werden bewirken können. Sie werden bald Patientenkontakt haben, da müssen Sie ordentlich aussehen.'

Sah sie nun unordentlich aus? War die Hose zerrissen, fleckig oder sonst in irgendeiner Weise auffällig? Nein, war sie nicht. Eine völlig normale, weit geschnittene, bequeme Stoffhose, in deren Taschen sich allerlei unterbringen ließ. Was bitte war an dieser Hose falsch???

Nachdem die Vorgesetzte wieder fort war, fiel ihr auch eine eindeutige Diskrepanz in der Logik auf, mit der man ihr soeben den Grund für die Kleidervorschrift erklärt hatte. Der Pullover sei wurscht (als ob es an dem ebenfalls etwas auszusetzen gäbe, aber man mal nicht so sein wolle???), aber die Hosen gingen garnicht? Was sieht denn der Patient, wenn er zur Türe hereinlinst und - coronabedingt - mit viel Abstand neben ihrem Schreibtisch stand? Den Pullover oder die Hosen? Richtig. Die Hosen konnte er garnicht sehen, die befanden sich nämlich unter dem Tisch. Weiters war des Patienten Begehr im allgemeinen ein Termin oder ein Rat, weil er sich nicht auskannte. Niemand würde das Büro betreten, um die Kleidung der Angestellten zu begutachten oder gar zu beurteilen, solange diese nicht angekleckert war oder in Fetzen vom Leibe hing, wie es bei den jungen Leuten ja eine Zeitlang modern gewesen war.

Genauso hatte es damals an ihrem früheren Arbeitsplatz auch angefangen. Zuerst war man jahrelang mit ihr hochzufrieden gewesen, der Medizinische Direktor höchstpersönlich hatte sie überredet, sich nach Ablauf des Zeitarbeitsverhältnisses fest anstellen zu lassen, sie war mit fast allen Leuten im Haus bestens ausgekommen, doch dann fusionierte die Firma, bzw. wurde feindlich übernommen, es kam ein neuer Chef, und auf einmal war alles anders. Ihre Kleidung war verkehrt gewesen, die Frisur sowieso, ihre Eßmanieren abscheulich und ihre Ausdrucksweise ordinär. Sollte es nun wieder so losgehen, nachdem sie ja nun auch hier die Abteilung und somit den Chef gewechselt hatte? War er es etwa, dem ihre Hosen so sehr ein Dorn im Auge waren, daß er die Vorgesetzte zu ihr geschickt hatte, um ausrichten zu lassen, daß sie sich anders zu kleiden habe?

Sie fühlte sich, als sei sie an einem hellen Sommertag fröhlich, von bunten Schmetterlingen umflattert, in einem warmen, freundlichen See geschwommen, vom romantisch schilfbewachsenen Ufer hatte Froschquaken herübergetönt und die Libellen gar putzige Kapriolen in der Luft vollführt - doch auf einen Schlag befand sie sich, von düsterer Landschaft umgeben, in einem moorigen Tümpel wieder, auf dessen Grund tückische Schlingpflanzen lauerten welche unablässig versuchten, nach ihr zu greifen und sie mit sich in die Tiefe zu ziehen.

Trotz regte sich in ihr: Denen werd ich's zeigen! Sie wollen einen anderen Kleidungsstil? Den können sie haben. Leider werden die Läden noch sehr lange geschlossen sein, das ist schade, sonst hätte sie gleich nach Feierabend in ihren Lieblings-Gruschtelladen fahren und sich ein entsprechendes Teil aussuchen können. So würde sie tiefer in die Tasche greifen müssen und sich online etwas Passendes bestellen. Waldgrün mit weit ausgestellten Hosenbeinen. Modern, also nichts dagegen zu sagen. Dazu würde sie ihre Bundesheerstiefel tragen. Denn offenbar wollte jemand unbedingt Krieg. Den konnte er haben. Sie war bereit!