Samstag, 25. Januar 2020

Das Märchenhaus im Walde


Wer wie ich mit Märchenbüchern aufgewachsen ist, vermißt wohl zeit seines Lebens eine gewisse Ästhetik im realen Miteinander. Die Menschen kleiden sich langweilig und angepaßt an widersinnige Regeln, verschwenden kostbare Zeit mit Small Talk über das Fernsehprogramm oder ihr Abendessen, fahren mit stinkenden, knatternden Ungetümen umher statt genüßlich ausschreitend die Bewegung ihrer Muskeln zu genießen - und weit davon entfernt, sich in den wenigen verbliebenen Grünflächen achtsam zu verhalten, werfen sie überall ihr verschmiertes Plastik weg und reißen lachend den armen Bäumen die Äste ab.

Wenn das der Zeitgeist ist, dann will ich ihn lieber nicht kennenlernen, der wäre besser in seiner Flasche geblieben. Aber was will man machen; es wird behauptet, ich hätte mir dieses Leben ausgesucht. Offenbar ist es möglich, auch im Zwischenreich geistig umnachtet zu sein. 

So wanderte ich eines Tages, wieder einmal auf der Suche nach Ruhe und Behaglichkeit, forschen Schrittes durch den Lainzer Tiergarten, immer auf der Hut vor Wildschweinen und vor Familien mit schreienden Kindern. Wenn man die Hermesvilla mal hinter sich gelassen hat, verteilen sich die Massen im doch recht weitläufigen Gelände und es spaziert sich recht angenehm durch dieses ehemalige kaiserliche Jagdgebiet. Selbst die altmodischen Gesellen, die keinen Google dabei haben, können sich mit Hilfe der großzügig verteilten Taferln wunderbar orientieren, es besteht daher keine Gefahr, sich zu verlaufen, man kann unbesorgt seiner Nase nachmarschieren, irgendwo kommt man schon hin und am Ende auch jedes Mal wieder raus.

Wie immer war ich darauf bedacht, bald die bekannten Pfade zu verlassen und Wege zu gehen, die ich bisher noch nicht beschritten hatte. Fort von den Menschen, vom Lärm, vor allem von den Raststätten, in denen die Besucher sich besonders am Wochenende drängten, als wären in ganz Wien die Lebensmittel rationiert worden und nur noch hier könne man sich sattessen. Du meine Güte. Essen. Als ob es Essen wäre, was man dort bekommt. Jedes Mal wenn ich an der Hubertuswarte vorbeikomme, muß ich daran denken, wie Gusti dort oben nach einem Besuch in der nahegelegenen Wirtschaft Bauchgrummeln bekam, sich bald darauf panisch ins Gebüsch schlug und ich meinen mitgeführten Roman als Häuslpapier zur Verfügung stellen mußte obwohl ich ihn noch nicht einmal zur Hälfte gelesen hatte!

Hernach mußten wir sofort nach Hause und die Waschmaschine anschalten, weil er, aus Furcht vor den Wildschweinen, die Hose nicht rechtzeitig herunterbekommen hatte. Es ist manchmal nicht so einfach mit der Ernährung im Wald, aber eins ist wichtig: Alles was einem dort angeboten wird, ist grundsätzlich entweder nicht oder nur mit Vorsicht zu genießen. Egal ob es sich um Tollkirschen, Dachplatten aus Lebkuchen oder hübsch dekorierten Hirschbraten handelt.

Anders als in der Lobau, wo man, zumindest am Anfang, durchaus noch auf menschliche Behausungen stößt, auch auf Äcker die von der MA 49 betrieben werden, wohnt im Lainzer Tiergarten normalerweise kein Mensch, schließlich handelt es sich um ein Naturschutzgebiet, auch die Hermesvilla ist lediglich zur Besichtigung vorgesehen, seit unser aller Sisi dort notgedrungen ausziehen und in die Kaisergruft wechseln mußte.

Umso erstaunter war ich, als ich nach etwa einer guten Stunde des Marschierens auf einer Waldlichtung ein wunderhübsches kleines Häuschen entdeckte. Mit Türmchen und Erkerchen, genau wie ich es mag, aber nicht aus Beton oder so, sondern nach Art der Tiroler Häuser hauptsächlich aus Holz errichtet. Wow. Man soll ja die Wege nicht verlassen steht überall geschrieben, aber geschrieben steht viel und es kümmert sich keiner drum, also wagte ich mich nach kurzem Blick über die Schulter (ob auch wirklich keiner guckt) mit gezücktem Fotoapparat langsam näher ... was für ein Motiv!!!

'Heda', erscholl es plötzlich aus einem geöffneten Fenster im Erdgeschoß, und ich zuckte erschrocken zusammen. Mußten die auch ausgerechnet jetzt zuhause sein? Am Samstagvormittag, wo sich jeder normale Mensch in Vösendorf oder Lugner City herumtreibt? 

Rasch drehte ich mich um und wollte mich auf den Weg zurückflüchten, aber zu spät. Schon schlug krachend die Haustüre auf und eine massive Gestalt bewegte sich sagenhaft schnell auf mich zu, packte mich beim Arm und sprach:
'Etzatle, wartet Se doch amol, wo wellet Se denn so hurtig wieder naa? Se send doch grad erscht komma, wellet Se ned gschwind a Täßle Tee mit ons trinka?'

Fasziniert blickte ich auf den rabenschwarzen Brustpelz, der dem Riesen in berückender Lockenfülle aus dem Ausschnitt quoll (das mußte doch tierisch jucken bei der Hitze), und schwäbelte gekonnt zurück: 
'Ha noi ... dank recht schön, aber I hans a bissle eilig, die Kährwoch warded ...' und wollte mich verdrücken.

Leider hatte der Riese noch immer seine Pranke um meinen Oberarm geschlossen, so daß ich mein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen konnte. Langsam wurde mir mulmig. Wer war dieser Mann, wer war 'uns' und woher sollte ich wissen, womit die da drinnen ihren Tee aufbrühen? Bilsenkraut? Stechapfel? Ich mein, welcher normale Mensch wohnt mitten im Wald? Da liefert kein Billa, da muß man selber schauen was so rundherum wächst.

'Kommet Se, kommet Se, Sie wellet des Häusle doch sicher au von inna ahgucka, han I recht? Sie send ja eune vo uns, I han des glei gsäha!'

Man soll in Krisensituationen ja niemals Angst zeigen, hatte ich mal gelesen, also schluckte ich trocken und folgte, nolens volens, der an sich durchaus attraktiven Gestalt ins Innere des Hauses. Ich gebe zu, ich WAR neugierig. Und in meinem Alter begegnete ich leider nur noch sehr selten attraktiven Männern, die Wert auf meine Gegenwart legten. Doch kaum hatte ich den Fuß über die Schwelle des Vorzimmers gesetzt, prallte ich entsetzt zurück. Offenbar war ich hier direkt in die Vorbereitungen zu einer Orgie geplatzt. Überall im Raum waren massive Kerzenhalter mit schwarzen Kerzen um rote Sofas herum aufgestellt, am Boden lagen blaue und türkisfarbene Teppiche und im Saal dahinter, in den man durch die offene Türe hineinblicken konnte, wieselte ein winziges, dünnes Männchen mit Handfeger und Kehrblech umeinander und sang etwas vor sich hin das klang wie 'Besenrein, besenrein, bis Samstag muß es sauber sein.' 

Was war hier los? Ein geheimer Kult, der sich Samstagabend zur triebhaften Geselligkeit zusammenfand und denen jetzt grad noch eine Frau fehlte? Vielleicht sogar eine Snuff-Party? Niemand würde meine letzten Schreie hören! Also SO wollte ich eigentlich auch nicht aus dem Leben scheiden, und vor allem nicht so FRÜH, und nicht ausgerechnet JETZT, wo ich endlich die Frührente durch hatte, meine Großstadtwohnung verkaufen und mir ein Häuschen im Grünen suchen konnte! Außerdem wollte ich noch Schriftstellerin werden, ein paar Bilder malen und Testament hatte ich auch noch keins gemacht! 

'Denkat Se si nix', beruhigte mein ominöser Begleiter, 'des isch dr Karle, der isch ned grad a Käpsele abr a liabr Bua. Kommet se weidr, oba send no mähr Zimmr.'

Eine eisige Hand schloß sich um meine Brust. Sollte dies tatsächlich mein letzter Tag auf Erden sein? Hatte ich so sehr gefrevelt, als ich mich über meine einstige Absicht, hier auf Erden länger verweilen zu wollen, lustig gemacht hatte, daß man mich nun zurückrief damit ich mir von höchster Stelle einen Rüffel über Respekt gegenüber der Göttlichkeit und so weiter abholte? Wie würde ich zu Tode kommen? Würde es sehr weh tun und wie lange würde es dauern? Vor lauter Angst bemerkte ich nur noch am Rande, wie geschmackvoll die Zimmer eingerichtet waren, wie herrlich ruhig es überall war (bis auf die hier oben noch dumpf vernehmbaren Gesänge von Karl) und wie angenehm mein Kerkermeister duftete. Eigentlich genau die Art von Haus die ich mir ausgesucht hätte, wenn ich noch hätte weiterleben dürfen, wenn man mich ...

'Ond, was saget Se?', riß mich mein Quälgeist aus meinen sich überschlagenden Gedanken. 'Wia gfallt Ihne des Haus? Dia Leit kriagt ma hald ned so leicht do hanna här, I han mi eh gwundrat daß Sie no auftaucht send. Midda im Wald will keunr wohna, wo mr ned amol midn Auto fahra darf ond si a Pfärdekutsche halda muaß. Mir gangat au no ronder mit'm Preis wenn des a Brobläm wär ... dr Besitzer hod gsait es isch langsam egal, Hauptsach es kauft amol endlich eunr den alda Schuppa ...'


















Sonntag, 12. Januar 2020

Der Ausweg


Erschöpft ließ ich mich neben meinem Lieblingsstein im Japanischen Garten des Wittelsbacher Parks ins Gras sinken. Sonst saß ich auch sehr gerne rittlings drauf, die tröstliche Ausstrahlung dieses Kraftortes genießend, aber das ging sich heute kräftemäßig nicht mehr aus. Es war eine lange Nacht gewesen. Obendrein war ein Riemen meines zugegebenermaßen billigen Rucksacks gerissen und ich hatte ihn von der Altstadt bis hierher in der Hand getragen, die andere Hand hielt die letzte Flasche Bier von der Tanke fest umklammert, the one for the road, sozusagen.

Auf der ‘Straße’ fühlte ich mich sicher. Ganz im Gegensatz zu meiner Wohnung. In die ich nun aber bald zurückkehren mußte. Es war nicht mehr lange hin zum Sonnenaufgang, ich war müde, wollte in mein Bett, wollte schlafen, wollte endlich heim. Aber allein beim Gedanken daran, was mich dort wohl erwartete, wurde mir übel. Und das lag sicher nicht am Bier. In meiner Wohnung befand ich nämlich ein Mann.

Das ist jetzt für die meisten Menschen sicher kein Grund zur Besorgnis oder gar Angst, aber es handelte sich hierbei um einen Vertreter des männlichen Geschlechts, der sich offenbar den Rest seines sowieso schon nicht sonderlich üppig ausgestalteten Gehirns so gründlich mit Drogen und Alkohol zerschmurgelt hatte, daß nur noch die Grundfunktionen des Stammhirns übrig geblieben waren.

Das kommt davon, dachte ich mit später Reue, wenn man sich immer wieder Kneipenbekanntschaften nach Hause einlädt nur weil die Kneipe schließt und es ‘eh grad so lustig’ war. Im Verlauf stellt sich dann immer wieder heraus, daß die Jungs keine eigene Wohnung haben, ich bin gutmütig und lasse sie bleiben, und sie bleiben. Und bleiben. Und bleiben. Bis ihre Präsenz jeden Winkel der bislang so behaglichen Bude ausfüllt und ich mich entweder in einem mir verbliebenen Eck kleinmachen muß, jedes laute Geräusch vermeidend, das den Herrn stören könnte, oder aber mein Heil in der Flucht suche. So wie heute Nacht. Einfach mal raus, weg von der erdrückenden Atmosphäre, in der dieser Mann seit Monaten jeden Augenblick, den ich in meiner Wohnung verbringe, zur Folter werden läßt.

Seine Kommunikationsunfähigkeit war derart ausgeprägt, daß er es tatsächlich geschafft hatte, sich während der drei Jahre, die wir uns nun kannten, mit nur wenigen, sich immer wieder wiederholenden, oft nicht einmal kompletten, Sätzen durchzuschlagen. Mir war es nicht weiter aufgefallen, denn wenn sonst alles paßt … muß man ja nicht viel reden. Anfangs war alles gut gewesen in unserem Elfenbeinturm. Wir tranken unser Bier, das ich von meinem Gehalt in genügendem Umfang bereitstellen konnte, nach Feierabend meinte er fragend: ‘Dresdn?’ und meinte damit: 'Würdest du die Freundlichkeit besitzen, uns einen Joint zu drehen?’ Hinterher begaben wir uns wortlos ins Bett, dort muß man auch nicht viel reden, abgesehen davon, daß eine Dame eh nicht mit vollem Munde spricht.

Dieser paradiesische Zustand hatte sich sich inzwischen leider in sein Gegenteil verwandelt, es war die Hölle. Gepudert hatten wir schon lange nicht mehr, und ich dachte immer öfter daran, wie ich jubilieren würde, wenn ich die Wohnung endlich wieder für mich hätte, und wie ich GANZ SICHER niemanden mehr hineinlassen würde. Niemals mehr. Not ever again!

Natürlich hatte ich ihn gebeten, sich endlich etwas Eigenes zu suchen, notfalls im Rabenbad bei den anderen. Mehrmals. Aber irgendwie war diese Bitte nicht in seinem Resthirn angekommen sondern wurde unterwegs von sich dort befindlichen Erinnerungen gestoppt und in eine ihn überwältigende Bedrohung verwandelt. Was das Zusammenleben nicht erleichterte und mir zwei farbenprächtige Blinker bescherte - und ich hatte nicht einmal eine Sonnenbrille. Blöd.

Daß andere Menschen keinen gesteigerten Wert auf Rechtschreibung legen, war mir durchaus bekannt. Nur, wenn ich dann Zettel vorfand auf dem Dinge standen wie: ‘... wo die Foze mich verlies hap ich mir geschworn daß mach nich nomal ne alde mid mir …’, da wurde mir erneut bewußt, daß ich ein Problem hatte. Ein Riesenproblem. Ratschläge wie ‘Ja dann schmeißn halt naus!’ waren dabei wenig hilfreich.

Mich an den tröstlichen Gedanken klammernd, daß dieser unhaltbare Zustand nun bald ein Ende finden würde, stand ich auf und schleppte mich langsam in Richtung Heimat, die keine mehr war. Ich wußte was zu tun war, hatte mich ausführlich in den einschlägigen Kneipen beraten lassen, und war endlich bereit, es zu tun. Es würde mich hinterher wohl keiner meiner Bekannten besuchen kommen, aber von Männern hatte ich sowieso nachgerade genug. Mit den Frauen dort würde ich sicher klarkommen, und die zehn Jahre würden auch vorübergehen ...