Sonntag, 18. Juli 2021

Das langsame Sterben des Erich N.



Das Schlimmste ist die Einsamkeit. Anfangs war noch ein anderer meiner Art hier im Raum, leider ebenfalls ein Männchen. Leider deswegen, weil mir die Kraft fehlte, seine Avancen abzulehnen. Anfangs hab ich mir nichts dabei gedacht, hab geglaubt er übt lediglich das Heranschleichen und wollte mich jetzt nicht irgendwie mädchenhaft benehmen ... aber bis ich geschaut hab, war er über mir. Besser genährt war er auch, also deutlich überlegen. Spaß hat es mir keinen gemacht, aber ich wollte nicht unhöflich sein und dachte wir werden vielleicht Freunde und gehen gemeinsam Essen suchen, aber nix. Grad, daß er mich nicht aufgefressen hat, geschwächt wie ich war. Aber das machen bei uns nur die Frauen. Von daher: eigentlich Glück gehabt. Danach ist er mir aus dem Weg gegangen, obwohl weit und breit niemand da war, vor dem ich ihn hätte kompromittieren können. Vielleicht wollte er einfach nur schauen, ob noch alles funktioniert bei ihm. 

Eigentlich muß man in dieser Wohnung keinen Hunger leiden, auch wenn es keine Fliegen gibt, wegen dem Gitter an den Fenstern. Hat jedoch ein Zeitl gedauert bis ich gemerkt habe, daß in der pinkfarbenen Matratze drüben eine exorbitante Anzahl von Milben lebt, oder sagen wir mal lebte, da die lustige Gesellschaft zahlentechnisch mittlerweile deutlich reduziert ist, ohne mich selber loben zu wollen. So daß ich mittlerweile mindestens ebenso gut genährt bin wie mein Vergewaltiger, welcher jedoch mittlerweile verstorben ist, wie ich neulich mit nicht geringer Genugtuung feststellen durfte. Sah ihn mit angezogenen Beinen neben einem Bücherstapel liegen, der seit meiner Ankunft hier nicht angerührt worden ist. Die Schwerkraft ist also nicht schuld. 

Überhaupt hat man mit der Person, die hier wohnt zwar keinen Ärger aber auch wenig Freude. Sie hat keine Angst vor mir, schreit nicht, klettert bei meinem Anblick nicht auf Stühle, erstens wohl weil sie kaum Möbel hat, somit auch keine Stühle auf die sie klettern könnte, zweitens glaub ich fast sie sieht mich garnicht. Wenn man sie überhaupt einmal trifft dann murmelt sie irgendetwas vor sich hin, redet auch mit der Pflanze die dort am Fensterbrett steht, soweit ich weiß handelt es sich um eine Hibiskusblüte aber fragen Sie mich nicht, ich bin kein Botaniker. 

Soweit ich das feststellen kann, gehört die Person der unteren Mittelklasse an. Es gibt wie gesagt wenig Möbel, aber es kommt auch nie der Exekutor. Woher ich das weiß mit dem Exekutor? Na bitte, das gehört doch zur Allgemeinbildung! Schließlich ist das hier nicht meine erste Wohnung. Aber wohl meine letzte. Ich komm hier nicht mehr lebend raus, fürchte ich. Ein zwar komfortables Gefängnis, aber man muß sich nichts vormachen. Freiheit geht anders.

Oft träume ich von früher, als ich jung war und noch wirklich lebte. Draußen, in der zwar unbarmherzigen, aber herzerfrischenden Natur. Wo es Wind gibt, Regen, Jahreszeiten und vor allem andere Geschöpfe. Klar, auch Vögel und Wespen vor denen man stets auf der Hut sein muß, aber wie heißt es so schön? No risk, no fun. Hier drinnen ist immer alles gleich. Man erlebt nichts. Ich habe sogar aufgehört, Netze zu weben, es verfängt sich ja doch niemand darinnen. Nicht einmal die Putzfrau kann man damit ärgern, sie beachtet sie einfach nicht. Als wäre ich, mitsamt meiner Netze, unsichtbar geworden. Vor lauter Nichtbeachtung durchsichtiger und durchsichtiger, bis mich am Ende keiner mehr mitbekommt.

So gerne würde ich vor meinem Tod noch einmal mit jemandem reden, beispielsweise über all die erstaunlichen Dinge, die ich in den immer wieder offen herumliegenden Zeitschriften zu lesen bekomme. Aber seit Monaten habe ich niemanden mehr getroffen. So daß ich vor lauter Einsamkeit nun begonnen habe, Interviews mit imaginären Reportern zu führen. Also mit Ihnen. Nun, wer weiß, vielleicht werde ich doch noch eines Tages berühmt. Da gilt es, vorbereitet zu sein.