Hartmann saß in seiner Ecke und nagte mißmutig an einem Stück Gurkensalat, das wohl jemand im Klo runtergespült hatte und das gerade verlockend um die Ecke gesegelt gekommen war. Riesenklumpen. Aber offensichtlich schonmal gegessen. Blöde Bulimiker!
So ein Rattenleben war hart, man konnte nicht jeden Tag Sandkuchen mit Schlagobers erwarten, selbst wenn man sich direkt unter dem Gulli vor der Bäckerei Felber postierte. Da fiel höchstens mal ein Stück Brezel hindurch, und das bekam dann auch nicht er sondern Ewald vom Clan der Vornamenratten. DEN hätte sich die Frau Sengl damals aussuchen sollen für ihre Ausstellung 'Die letzten Tage der Menschheit' nach Karl Kraus. Aber nein, sie mußte Onkel Sedlacek hernehmen. Seinen geliebten, redegewandten und saucoolen Onkel, den er zeitlebens bewundert und für unsterblich gehalten hatte. Hinterher wurde frech behauptet, es seien keine Ratten für die Ausstellung getötet worden sondern man hätte die Leichen aus dem Bestand für Zuchtratten entnommen. Gelogen! Er würde ja wohl seinen Onkel erkennen wenn er ihn sah!
Museen waren prima Futterplätze. Kinderleicht, sich dort zu verköstigen, man mußte halt nachts rein, da war die Gefahr, erwischt zu werden, relativ gering, aber ein bisserl aufpassen mußte man schon auch. Tante Navrotil aus Salzburg war da mal böse reingefallen. Sie teilte seine Vorliebe für Gurken und war, obwohl sie eigentlich unter der Festung wohnte und dort wahrhaft fürstlich von den Resten der Touristenjausen leben konnte, eines Nachts ins Museum der Moderne rüberspaziert und wollte sich an den Gurkerln von Erwin Wurm gütlich tun. Na bah aber auch!!! Hatte der die mit so einem grauslichen Zeug präpariert gehabt! Tante Navrotil hatte auf dem gesamten Heimweg gespieben wie blöd und seither keine Gurke mehr angebissen. Vorsichtshalber.
Nicht unbedingt ein Abenteuer, dessen man sich hätte rühmen dürfen, aber wie das Leben so spielt, genau diese Geschichterln erzählen sich praktisch von selber herum und Tante Navrotil hatte sich so manches Mal böse auslachen lassen dürfen, bis ihr Erlebnis von einer anderen Sensation abgelöst worden war, nämlich vom grausamen Tod des Cousin Eder. Dieser hatte im Hause eines emeritierten Professors in Döbling gehaust und eines Nachts aus purer Blödheit dessen Sammlung alter Folianten angenagt. Böser Fehler. Der Professor hatte beinah einen Herzinfarkt erlitten und nicht geruht bis er des Banausen habhaft wurde, und solange mit dem Spazierstock auf ihn eingeschlagen bis der Arme völlig zermatscht war und ihn die Frau Sengl ned amal mehr für die Darstellung einer ihrer zu Tode verwundeten Soldaten mehr hätte brauchen können. Die Bergung von Cousin Eder war eine der gefährlichsten Missionen der Rattenheit gewesen, an die man sich erinnern konnte. Aber schließlich hatte auch er ein anständiges Begräbnis verdient. A scheene Leich, wie man in Wien zu sagen pflegte, auch wenn er wirklich nicht mehr hübsch aussah, aber das hatte er zu Lebzeiten eh auch schon nicht getan, von daher ... wurscht.
Hartmann selber hatte lange Zeit im Essl-Museum gewohnt, das hieß schon so und hatte auch immer gehalten, was es versprach. Volle Abfallkörbe allenthalben, man mußte sich nicht einmal bis hin zum Restaurant durchbeißen. Kunstinteressiert wie er war, das lag in der Familie, war er immer gerne auch mal durch die Ausstellungen geschlendert und mit einem Mal: Boff. Ein riesiger Raum voller ausgestopfter Ratten. Schock! Zuerst hatte er niemanden erkannt, war sogar seltsam fasziniert gewesen von der Skurrilität der Exponate, die von der Künstlerin in menschliche Posen gebogen worden waren ... bis ihm auf einmal glühend der Schreck durch die Glieder fuhr: Onkel Sedlacek!!! Wie er leibte und lebte, noch mit dem Sektglas in der Hand - nur war er halt jetzt tot. Tot, gebleicht und ausgestopft zur Belustigung der Menschheit ausgestellt.
Die Kletterpartie hinauf auf den Kahlenberg danach war keine lustige gewesen, aber er hatte das Museum nach diesem Schock nicht mehr betreten wollen und von irgendwas mußte er ja leben. Die guten Plätze am Kahlenberg oben waren aber natürlich schon belegt gewesen, die Vornamenmafia hatte sich auch hier bereits bestens etabliert gehabt und so blieb ihm nur die berühmte Wiener Kanalisation, wo sich die Heimatlosen einfanden, die Gestrauchelten, die Leute ohne Beziehungen und ohne Vornamen. Die an dem nagen durften, was die Menschenschaft oben durch ihre Scheißhäuser fallen ließ. Wie beispielsweise das Stückerl gespiebener Gurkensalat, das er soeben in den Pfoten hielt.
Manchmal, aber nur manchmal, fragte er sich, wie es wohl wäre, ein Mensch zu sein. Ob die sich auch klag- und kritiklos mit allem zufriedengeben mußten, was so von oben angeschissen kam?