Arif war stinkig. Extrem stinkig. So richtig, richtig sauer. Nach längerer Diskussion hatte er letztendlich doch dem Plan der Herren im Anzug zugestimmt. Ehre und Charakter hin oder her - immerhin war er noch relativ jung, grad einmal Mitte vierzig, und auch sonst gut beinand, warum sollte er sein Leben wegwerfen, wenn noch soviel mileage drin war im body? Und ganz ehrlich, so richtig Lust zum Sterben hatte er sowieso keine gehabt. Man mußte schon sehr couragiert sein um den Tod zu wählen, sei dieser noch so glorreich, wenn einem praktisch in letzter Minute ein verlockender Ausweg geboten wurde.
Mit seiner pompösen Rede von Ehre und Stolz hatte er sowieso weniger sich selber erklären als hauptsächlich Miranda loswerden wollen, seine Anwältin, die sich schon SEHR an ihn geklammert hatte. Auch wenn sie es gewesen war, die ihm den Kontakt zu seinen geheimnisvollen Rettern letztendlich verschafft hatte, bedeutete das nicht, daß er sich aus Dankbarkeit von ihr mit Haut und Haar verzehren lassen mußte. Da hätte er ja fast lieber die Folter in seinem Heimatland vorgezogen, die dauerte wenigstens nicht lebenslang.
Also hatte er das Theater mitgespielt, sein Bettlaken in kunstvoller Technik zu halbwegs reißfesten Stricken geformt und hernach ausgiebig seinen Sessel drangehängt, damit die Ballistiker hinterher authentisch langgezogene Fasern finden konnten. Wenn auch keine Leiche, denn die hatte der geschickt hineingeschmuggelte 'neue Wärter' dann doch sehr rasch ins Spital bringen lassen. Der übliche Polizist vor der Türe war ebenfalls von 'der Truppe', so kam er schlußendlich hier im 'safe house' an, um auf die neuen Papiere zu warten ... und auf den Termin beim Schönheitschirurgen.
Aber das zog sich. Die Fotos für den Ausweis konnten schließlich erst NACH dem Eingriff gemacht werden. Und da mußte man drauf warten, wie das in Österreich nun einmal üblich war. Auch wenn man vom Geheimdienst war. Draußen bestes Wetter, im Häfn hätte er wenigstens eine Stunde rausdürfen über Mittag, aber hier ... nichts. Niente. Nada.
'Waßt eh, es ist besser wenn dich niemand sieht, scheiß an die Kirschblüte, die gibt's nächstes Jahr eh wieder, jetzt ist es wichtiger, daß ned no in letzter Minutn wos danebngeht! Stö da vua die Miranda kummt voabei und sicht di!' Schaudernd mußte Arif dem Mann recht geben. Dann doch lieber sich indoors fadisieren.
Leicht irritiert sah sich Arif in der armseligen Bude um, in die man ihn gesteckt hatte. Offenbar eine sonst als Ferienwohnung genutzte Immobilie. Typisch österreichisch eingerichtet. Fesche Holzsesseln um einen riesigen Eßtisch gruppiert, Servietten mit Edelweißmuster, der obligatorische röhrende Hirsch an der Wand, und im Schlafzimmer ein Riesenbildnis der Mutter Gottes wie sie segnend die Hände über die Schlafenden hielt.
Arif hatte bei dem Anblick sofort beschlossen, auf der Couch im Wohnzimmer zu nächtigen.
Nicht, daß er nicht offen gegenüber anderen Religionen gewesen wäre. Als Kosmopolit sah er das eh alles nicht so eng, aber er hatte ein Problem mit der Scheinheiligkeit vieler christlicher Europäer. Einerseits sich die Toilette von der mazedonischen Putzfrau saubermachen lassen oder sich zum Shoppen in einer von nubischen Tagelöhnern getragenen Sänfte schaukeln lassen, es völlig in Ordnung finden, diese Leute mit einem Mindestlohn abzufinden, wenn überhaupt, und sich noch großartig vorkommen wenn man ihnen ab und an was Altes schenkte, das man selber nicht mehr mochte ... aber wehe jemand fand den Sarotti-Mohren süß. Was für ein elender Rassist der doch war!!! Mohr sagt ma ned!!! Empörung hoch drei!!!
Grad hier am Land gab es Leut, die waren so hohl, die gäben wunderbare Orgelpfeifen ab. Einfach nebeneinander an die Empore nageln und aus. Brauchst keine Spenden mehr einsammeln. Die Katholischen ham eh gern soviel gequälte Leichen wie möglich in ihren Kirchen, do kamat's auf a paar mehr oder weniger ned drauf an, oder?
Plötzlich hörte er, wie von der Wohnung nebenan die Türe aufgeschlossen wurde. Neugierig linste er durch den Türspion, sah direkt in ein breit grinsendes Frauengesicht und fuhr erschrocken zurück. Kreizdeifi! Mußte die genau jetzt hergucken? Hatte sie ihn bemerkt?
Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, erscholl seine Türklingel. Ja bestens. Was sollte er jetzt tun? Die gute Frau hatte gesehen, daß jemand zuhause war, totstellen war also nicht. Im Spiegel erblickte er sein fahles Gesicht. Jetzt war guter Rat teuer.
Beherzt griff er zur Klinke und öffnete die Türe einen Spalt. 'Ja bitte?', fragte er, um Freundlichkeit bemüht. 'San Sie der neiche Nachbar?', erscholl es von draußen? Weiterhin breit grinsend winkte ihm eine gut gebaute Dame mit extrem kurzen Haaren, er schätzte sie auf Anfang 50, zu, und sprach dann weiter, ohne auf seine Antwort zu warten. Denn wie ein Handwerker sah er wirklich nicht aus.
'Ich bräucht grad amal Ihre Hilfe, kanntn Sie kurz mit ummekommen? Ich krieg den Kasten allein ned von der Wand, mir is was hinten runterg'fallen, da komm I sonst ned hin.'
Was sollte er machen? Die Dame im Treppenhaus stehen lassen? Damit hätte er sich erst recht verdächtig gemacht. Also verließ er, einen Seufzer unterdrückend, seine Wohnung um ihr hinüber in die ihrige zu folgen. Bereits beim Eingang traf ihn beinah der Schlag. Wie sah es denn hier aus? Überall standen Kisten mit wild durcheinandergeworfenem Zeug drin, Kleider, Puppen, Stoffetzen, Werkzeug ... und am Boden stapelten sich Büchertürme. Vorsichtig folgte er der Frau in eins der Zimmer, die vom Hausflur abgingen. Auch hier sah es nicht besser aus. Wild durcheinandergeworfene Kleidung und jede Menge Büchertürme bedeckten den Boden und ließen kaum mehr Platz, um die Füße dazwischenzusetzen. Man mußte sich, so wie man sich im Japangarten von Fliese zu Fliese über den Bach hangelt, hier von freiem Fleckchen zu freiem Fleckchen hangeln.
Und der Staub! Überall lag fingerdick der Staub! Nachdem er der Frau geholfen hatte, ihren Kasten von der Wand weg und nach erfolgreichem Aufklauben des entschwundenen Schriftstücks wieder zurechtzurücken, konnte er sich nicht mehr beherrschen, denn auch unter dem Schrank hatte es ausgesehen, frage nicht.
'Vom Saubermachen halten Sie nicht gerade viel, oder? Ab und zu mal Staubwischen wäre kein Fehler!' konnte er sich einen leisen Tadel nicht verkneifen.
Lachend drehte die Nachbarin sich um: 'Ja wos moanst! Des kommt von den Zwergenbriefen.'
'Von den Zwergenbriefen???'
'Ja genau. Die san mit Zaubertintn g'schrieben, die kannst nur gaaanz kurz lesen dann verschwindet die Tintn und der gesamte Brief zerfällt zu Staub. Also wannst viel Post kriegst, dann kommst mit dem Saubermachen nimmer nach. Man hat ja auch noch was anders zum tun, oder? I bin Künstlerin, da muß ich der Inspiration folgen und ned mit dem Putzfetzn umeinanderfeudln.'
Arif fehlten die Worte. Und das kam nun wirklich extrem selten vor. Er schlug die fröhlich vorgebrachte Einladung auf eine Tasse Tee entschieden aus (wer weiß ob es in diesem Haushalt überhaupt eine saubere Tasse gab?) und schaute, daß er in seine Wohnung zurückkam.
Die spinnen, die Österreicherinnen. Sobald er seine neuen Papiere hatte, würde er sich schleunigst vom Acker machen. Am besten rief er gleich mal seinen Kontakt an um ihn dringend darum zu bitten, ihm einen tschechischen Ausweis basteln zu lassen. Dann würde er sich irgendwo hinter dem Riesengebirge verstecken und auf seinen ersten Einsatz warten. Und sehr, sehr hoffen, daß der nichts, aber auch GARNICHTS mit irgendwelchen abgedrehten Frauen aus Österreich zu tun haben würde.